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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2016

...die Türkei
von Angela Klein

Der europapolitische Ansatz der «Merkel-Linie» in der Flüchtlingspolitik hat eine fatale Wendung genommen: Ging es zunächst darum, «Menschen in Not» zu helfen und alle EU-Länder dabei mit in die Pflicht zu nehmen, ist dieser Ansatz längst dem Junktim gewichen, dass Hilfe für die bereits Angekommenen nur möglich ist, wenn gleichzeitig die Außenmauern der EU so hoch gezogen werden, dass niemand anderes mehr reinkommt. Merkel hat dem Druck von Seehofer, de Maizière und ihrer vornehmlich osteuropäischen Gesinnungsgenossen in der Sache nachgegeben; das Schattenboxen um die «Obergrenzen» verdeckt diese Tatsache nur notdürftig.
Selbst die unmenschliche Einteilung der Flüchtlinge in «Flüchtlinge, die vor dem Krieg fliehen» – das wäre die aus Syrien, dem Irak und Afghanistan – und solchen, die «nur» vor wirtschaftlich unhaltbaren Zuständen fliehen – etwa die aus den Balkanländern –, von denen die ersteren bleiben dürfen, während die zweiten sofort zurückgeschickt werden, selbst diese Einteilung erweist sich als Täuschung der Öffentlichkeit. Innenminister de Maizière will längst auch den Zuzug von Kriegsflüchtlingen beschränken, die Wiedereinführung der Einzelfallprüfung ist ein Schritt in diese Richtung, die Entwendung der Pässe durch den IS bietet dazu nur eine günstige Gelegenheit.

Während die hier Angekommenen mehr schlecht als recht versorgt werden, konzentriert sich das politische Handeln in der EU darauf, die Festung sturmsicher zu machen. Ausgerechnet die Türkei soll das maßgeblich gewährleisten, sie soll den Zerberus abgeben. Das Land mit dem autoritär-islamistischen Regime, dem die Konservativen bislang den Beitritt zur EU verwehrt haben mit dem Hinweis, der Islam vertrage sich nicht mit den «Werten» des christlichen Abendlands! – dieses Land wird jetzt zum Hütehund der «christlich-jüdischen Zivilisation» und der «abendländischen Werte». Es ist ein Treppenwitz der Geschichte.
Und das alles, damit hinter den Mauern, tief im Inneren des Palastes das Leben wie gewohnt weitergehen kann, ungestört von den Unwettern, die draußen toben.
Natürlich wird eilig auch eine Palastwache aufgestellt, Frontex genannt, die die wehrlosen, bettelnden Angreifer draußen abwehren soll, aber da gibt es Probleme: An den Toren, vor denen sie postiert werden soll, ist Gerangel, weil die Wachen dort die fremde Einmischung nicht mögen. Von den 16 Hotspots, die Geflüchtete einsammeln sollen, funktionieren bislang nur zwei. Wie sicher kann ein Schutz sein, der die Zwietracht ins eigene Haus trägt?

Der Hütehund soll die Drecksarbeit erledigen, das, wozu sich die Palastherren zu schade sind: die Verhaftung und Internierung derer, die die Überfahrt dennoch wagen. Amnesty hat berichtet, wie die Türkei den schmutzigen Krieg gegen die Flüchtlinge führt, während die Auftraggeber in den Hauptstädten der EU hinter sauberen Schreibtischen sitzen. Seit September dieses Jahres nehmen türkische Behörden Hunderte von Asylsuchenden nahe den Grenzen zur EU fest, deportieren sie in isolierte Internierungslager im Süden oder Osten des Landes, verweigern ihnen jede Kommunikation mit der Außenwelt und halten sie dort Wochen und Monate unter unmenschlichen Bedingungen fest, sofern sie sie nicht in Kriegsgebiete zurückschicken.
Die Bundesregierung mutet der Türkei zusätzliche Menschenrechtsverstöße zu (neben denen, die in dem Land eh an der Tagesordnung sind), damit sie in Deutschland die Illusion aufrechterhalten kann, wir würden Menschen in Not helfen. Hauptsache, solche Verstöße passieren nicht hier. Hauptsache, man sieht hier nicht die Konzentrationslager, in denen sie im Dreck festsitzen, manchmal gefoltert und geschlagen werden.

Der Hütehund fordert einen Preis dafür, zunächst einmal 3 Mrd. Euro und den Beitritt zur EU. Dabei wird es nicht bleiben, es ist wie mit Schutzgeld, fängst du einmal damit an, kommst du aus der Nummer nicht mehr raus. Die EU liefert sich damit ein Stückweit der Türkei aus.
Das ist nicht nur für die Flüchtlinge lebensgefährlich, es ist auch fatal für die Aussichten, im Nahen Osten einen wie immer gearteten Frieden zu erreichen. Bereits das direkte militärische Eingreifen Russlands hat dessen regionale, schiitische, Mitspieler, Iran und das Assad-Regime in Syrien, aufgewertet. Saudi-Arabien, das ein Terrorregime praktiziert, das dem des IS nur wenig nachsteht, hat prompt mit einer eigenen «Koalition der Willigen» reagiert, die nur sunnitische Regime umfasst. Und nun noch die Türkei, aus dessen imperial-osmanischen Ambitionen Regierungschef Erdogan keinen Hehl macht. Die unnachgiebig diktiert, dass es einen Kurdenstaat neben ihr nicht geben darf und gnadenlos ihre neue Stärke nutzt, um kurdische Dörfer zu bombardieren, in denen sich PKK-Kämpfer aufhalten sollen. Und Deutschland liefert und verhaftet prompt einen führenden PKK-Mann – nicht wegen Gewalttaten, sondern weil die Türkei es so will!
Der Syrienkonflikt hat sich ausgeweitet und zugleich verhärtet zu einem Konflikt zwischen drei Regionalmächten (Israel ist dabei gar nicht mitgezählt!). Die Global Player im Hintergrund versuchen noch, sie zu gemeinsamem Handeln zu zwingen – etwa durch die neue Syrien-Resolution des UN-Sicherheitsrats mit seinem Aufruf zum Waffenstillstand, zur Bildung einer Übergangsregierung und zur Durchführung freier Wahlen. Doch sie haben weder einen Plan für eine Lösung noch das nötige Personal. Sie sind sich auch nicht einig. Gleichzeitig beliefern sie alle Seiten ausgiebig mit Waffen, Deutschland vorneweg. Die Sache wächst ihnen über den Kopf.

«Nichts bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei die Völker aufeinander schlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten, dann kehrt man abends froh nach Haus, und segnet Fried’ und Friedenszeiten.» So spricht der Bürger in Goethes Faust selbstzufrieden, und er tut es bis heute.

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