Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2016
Ein Aufruf aus Belgien wider die Angst
von lcr-lagauche.org*

In Belgien haben 40 Erstunterzeichner aus Wissenschaft, Gewerkschaften und politischen Aktivisten einen Aufruf lanciert mit dem Titel: «Von der Angst zum Widerstand – Notstand der Demokratie!» Er beschreibt den zweifelhaften Charakter der Notstandsmaßnahmen der belgischen Regierung.

In den letzten Tagen hat die Angst sich der Straße bemächtigt, Angst nach dem Schock über die Attentate, natürlich, aber auch Angst wegen der unerhörten Maßnahmen, die nach dem 13.November verhängt wurden. Über Brüssel, die Hauptstadtregion des Landes, wurde de facto der Ausnahmezustand verhängt, im Rest des Landes herrscht der Notstand. Man kann nicht umhin, die Wirksamkeit dieser Maßnahmen in Frage zu stellen und auf ihre inneren Widersprüche hinzuweisen: Schulen und U-Bahnen wurden geschlossen, eine unglaubliche Menge an kulturellen, aber auch politischen Veranstaltungen wurde gestrichen oder untersagt, dafür beherrschen gepanzerte Fahrzeuge und Hunderte von Soldaten das Straßenbild.
Dabei soll die Öffentlichkeit ruhig bleiben, und das Atomkraftwerk Tihange zum Beispiel bleibt unbewacht. Diese extremen Maßnahmen werden mit der berühmten Sicherheitsstufe 4 gerechtfertigt, diese Stufe wurde jedoch beibehalten, als Schulen, Metro u.a. ihre Tore wieder öffneten. Wo ist da die Kohärenz? Wo gibt es eine demokratische Kontrolle über diese Entscheidungen?
In wenigen Tagen hat die Regierung Charles Michel 400 Millionen Euro für ihre sicherheitspolitische Wende aufgetrieben und verspricht abschreckende Maßnahmen: nächtliche Hausdurchsuchungen, dreitägige Vorbeugehaft, automatische Gefangennahme von Jugendlichen, die aus Syrien zurückkehren, usw. Geld, das vorher für öffentliche Dienstleistungen und für die Armen fehlte, ist auf einmal wie von Zauberhand da. Das ist eine verheerende Entscheidung. Mit diesen 400 Mio. Euro hätte man u.a. für 100000 Menschen die Sozialhilfe um 50% aufstocken können.
Die Folgen des Ausnahmezustands lassen nicht auf sich warten. Polizeiliche Übergriffe gegen vermeintlich Verdächtige nehmen zu, einmal wird ein Student in Antwerpen bei MacDonald’s zu Boden geworfen und ihm zwei Gewehre an die Schläfen gehalten; ein andermal passiert dasselbe in Molenbeek: ein Dritter erlebt, wie die Polizei um 5 Uhr morgens Fenster und Türen bei ihm aufbricht…
In den ärmeren Vierteln, in denen viele Muslime leben, geht die Angst um. Wir erleben, wie Bürgermeister, auch solche von der Sozialistischen Partei, den Anti-Terror-Alarm zum Vorwand nehmen, um vielfach Demonstrationen oder öffentliche Debatten zu verbieten – so in Saint-Gilles eine Veranstaltung über Syrien, in Molenbeek eine für Solidarität und gegen Spaltung, in Brüssel-Stadt und in Ostende eine zu Klimagerechtigkeit. Selbst die Austeilung warmer Mahlzeiten an Obdachlose in Bahnhöfen wurde verboten!
Gleichzeitig werden alle sozialen Bewegungen, angefangen bei den Gewerkschaften, aufgefordert, den Anweisungen des Innenministers (Jan Jambon von der nationalistischen Neu-Flämischen Allianz, N-VA) Folge zu leisten, und die «Reformbewegung» (MR) beantragt ein Gesetz, das Streikposten verbietet!

Gehorcht nicht!
Wir lehnen es ab, uns weiterhin von der Angst leiten zu lassen. Wir lehnen den autoritären Staat ab, der unter unseren Augen gerade errichtet wird. Wir lehnen es ab, dass nicht gewählte Organe wie das Krisenreaktionszentrum OCAM des belgischen Geheimdienstes oder der Nationale Sicherheitsrat jetzt das Land führen. Wir wollen – auch mit Hilfe einer parlamentarischen Untersuchungskommission – Klarheit darüber haben, wie ein solches Klima der Angst mutwillig geschaffen werden konnte. Wir lehnen auch einen Krieg ab, der angeblich in unserem Namen geführt wird und der nichts anderes bewirken wird, als den Toten weitere Tote, der Barbarei noch mehr Barbarei hinzuzufügen.
Wir rufen die gesellschaftliche und politische Opposition auf, auf die Straße zu gehen und zu zeigen, dass, wir nicht aufhören werden zu leben und für eine bessere Welt zu kämpfen und dass wir uns nicht um «unserer Sicherheit» willen knebeln und unterdrücken lassen.
Unsere besten Waffen sind dabei Solidarität und Selbstorganisation, wir wollen selbst über unser Leben entscheiden, darüber was gut ist für uns und für den Planeten. Mit unseren Freunden in Frankreich und anderen Ländern wie Spanien, die gleichfalls den autoritären Staat, Krieg, Rassismus und Demoverbote ablehnen, rufen wir die Bevölkerung auf, ihre Augen zu öffnen und nicht zu gehorchen – so wie es das Gewerkschaftsbündnis in Hainaut gemacht hat, das am Streik vom 23.November festgehalten hat. Geschichte wurde noch nie von denen gemacht, die um Erlaubnis bitten.
Wir weigern uns, uns von der Angst beherrschen zu lassen. Wir verabscheuen den Terrorismus des IS, aber wir bekämpfen auch die freiheitstötende Sicherheitspolitik, die uns unsere Regierungen im Namen des Kampfes gegen den Terror aufzwingen wollen; sie spielen damit nur sein Spiel.

* www.lcr-lagauche.org/de-la-peur-a-la-resistance-urgence-democratique/

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