Gespräch mit Enzo Traverso
Am Ende hat sie ihr Wahlziel doch nicht geschafft: Marine Le Pen, die Vorsitzende der rechtsextremen FN, ist nicht Regionalpräsidentin in ihrem Wahlbezirk Nord-Pas-de-Calais-Picardie geworden. Und auch ihre Nichte, Marion Maréchal-Le Pen, die sich noch stärker aus der Mottenkiste faschistischer ideologischer Versatzstücke bedient, hat in der Region Provence-Alpes-Côte-d’Azur ihr Wahlziel in der zweiten Runde der Regionalwahlen verfehlt. Die Aussicht auf einen Durchmarsch dieser beiden Galionsfiguren der französischen extremen Rechten hat viele Nichtwähler aus dem ersten Wahlgang bewogen, beim zweiten Durchgang doch noch wählen zu gehen.
Mit den alten Mustern des antifaschistischen Kampfes ist der FN nicht mehr beizukommen. Ging Parteigründer Jean-Marie Le Pen mit Äußerungen wie, die Gaskammern seien «ein Detail in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs» gewesen, oder die NSDAP sei «alles in allem populär und demokratisch [gewesen], weil sie aufgrund regulärer Wahlen siegte», auf Stimmenfang, hat nun der «Kampf gegen den radikalen Islam … Priorität». Wenige Wochen nach den Anschlägen in Paris nennen in Umfragen immer noch 52% der Befragten den «Terrorismus» das wichtigste Thema, und dies hat die FN mit kaum verhüllter antimuslimischer Hetze bei diesen Regionalwahlen ausgeschlachtet. Ist es doch, ebenso wie der Antisemitismus, geeignet, alle Unzufriedenheit und Orientierungslosigkeit in der Bevölkerung auf einen Sündenbock zu kanalisieren. Doch die FN hat nicht nur ihre Rhetorik geändert. Auch das Umfeld, in dem sie versucht, zentrale Positionen der Staatsmacht zu erobern, ist nicht dasselbe wie das der faschistischen Parteien in den 20er und 30er Jahren.
Enzo Traverso, italienischer Historiker und Autor zahlreicher Werke u.a. über den Holocaust und die Moderne, spricht deshalb von einer «postfaschistischen» Partei, wobei das «Post» für den Aufbruch in eine antidemokratische Zukunft steht, deren Umrisse noch völlig diffus sind.
Das nachstehende Interview führten Catherine Tricot und Roger Martelli für die linke französische Monatszeitschrift Regards am 9.Dezember 2015
(www.regards.fr).
Der Aufstieg der extremen Rechten in Europa erinnert stark an den historischen Faschismus. Sie sind gegenüber solchen Analogien zurückhaltend. Warum?
Die extreme Rechte, die heute in Europa aufkommt – und in manchen Ländern wie bspw. Frankreich einen geradezu spektakulären Aufstieg erfährt –, nährt sich ebenso wie ihre Vorläufer in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen von der Wirtschaftskrise. Aber diese Krise unterscheidet sich stark von der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre, der Kontext hat sich grundlegend geändert, und auch die Rechtsextremen sind nicht mehr dieselben. In den 30er Jahren schien der Kapitalismus dem Zusammenbruch nahe – einerseits wegen der internationalen Rezession und andererseits wegen der Existenz der UdSSR, die sich als globale Alternative zu einem sozioökonomischen System präsentierte, das jeder als historisch erschöpft betrachtete.
Die Krise, die wir in den letzten Jahren erleben, war zunächst eine Finanzkrise, dann hat sie sich in der Eurozone als eine Krise der Verschuldung der öffentlichen Hand festgesetzt. Heute geht es dem Kapitalismus gut und es gibt keine sichtbare Alternative; die soziale Ungleichheit aber dehnt sich unaufhörlich auf dem ganzen Planeten aus.
Wie positioniert sich der Kapitalismus heute gegenüber den Bewegungen der extremen Rechten?
In den 30er Jahren entgingen die herrschenden Eliten nicht der vom Ersten Weltkrieg ausgelösten Spirale des Nationalismus und sie sahen im Faschismus eine mögliche politische Option (zunächst in Italien, dann in Deutschland, Österreich, Spanien…). Ohne diese Unterstützung hätten sich die faschistischen Bewegungen nicht von plebejischen Bewegungen in politische Regime verwandeln können. Dagegen unterstützt der globalisierte Kapitalismus heute die rechtsextremen Bewegungen nicht; er nimmt mit der Troika vorlieb.
In den 30er Jahren drückte der Faschismus eine diffuse Tendenz zur Stärkung des Staates aus, was eine Reihe von Analytikern noch vor dem Machtantritt Hitlers in Deutschland als Aufkommen eines «totalen» Staates interpretierten (Stärkung der Exekutive, staatliches Eingreifen in die Wirtschaft, Militarisierung, Nationalismus usw.). Der «Ausnahmestaat», der heute entsteht, ist nicht faschistisch oder faschisierend, sondern neoliberal: Er verwandelt die politischen Organe in einfache Ausführende der Entscheidungen der Finanzmächte, die die globale Ökonomie beherrschen. Er verkörpert nicht den starken Staat, mehr einen unterworfenen Staat, der einen großen Teil seiner Souveränität an die Märkte abgegeben hat.
Sie haben vorgeschlagen, zur Kennzeichnung der heutigen extremen Rechten den Begriff «postfaschistisch» zu verwenden. Gleichzeitig erkennen Sie die Grenzen dieses Begriffs.
Der Begriff «Postfaschismus» bezeichnet einen Übergang, der sich vollzieht und dessen Ausgang wir noch nicht kennen. Die extreme Rechte bleibt durch ihre faschistischen Ursprünge gekennzeichnet, aber sie versucht, sich von diesem schweren Erbe zu emanzipieren und sich in einem neuen Gewand zu zeigen, indem sie ihre Kultur und ihre Ideologie gründlich verändert. Ihre Verbindung zum historischen Faschismus wird immer wackliger.
Der französische Fall ist für diese Wandlung besonders kennzeichnend und wird im Konflikt zwischen Jean-Marie und Marine Le Pen anschaulich: Das ist eine dynastische Führung, in der der Vater den ursprünglichen faschistischen Geist verkörpert und die Tochter einen neuen Geist, der die alten Werte (Nationalismus, Xenophobie, Rassismus, Autoritarismus, Protektionismus) in einen republikanischen und liberaldemokratischen Rahmen überführen will.
Wie wirkt sich diese «postfaschistische» Transformation aus?
Diese Verwandlung riskiert, den politischen Rahmen zu sprengen. Wenn sich wie nach den Anschlägen vom Januar und vor allem vom November dieses Jahres die Gesamtheit der politischen Klasse Frankreichs auf die Positionen der FN begibt (von der Sozialistischen Partei bis zur traditionellen Rechten), dann wird der Kampf gegen die FN im Namen der Republik fast unverständlich. Die FN ist keine «antirepublikanische» Kraft, wie es die Action Française unter der Dritten Republik sein konnte. Ihre Verwandlung verweist vielmehr auf die immanenten Widerspüche im nationalen Republikanismus. Hier vollzieht sich nicht, von Ausnahmen abgesehen, ein Übergang vom Faschismus zur Demokratie, sondern zu etwas Neuem, noch Unbekanntem, das die real existierenden Demokratien zutiefst in Frage stellt. Es ist nicht mehr der klassische Faschismus, aber noch nichts Neues: In diesem Sinne habe ich es Postfaschismus genannt.
Im mentalen Universum des «Postfaschismus» hat der Hass auf die Muslime den Hass auf die Juden ersetzt, ohne dass die alten Inhalte des Antisemitismus verschwunden wären…
Der Antisemitismus war einer der Pfeiler des Nationalismus in Europa, besonders in Frankreich und Deutschland. Es handelte sich um einen kulturellen Code, um den herum man eine Idee von «nationaler Identität» konstruieren konnte: Der Jude war das «Anti-Frankreich», ein Fremdkörper, der die Nation von innen angreift und schwächt.
Nach dem Völkermord der Nazis besteht die Neigung, den Hass auf die Juden als singulär zu betrachten und die tiefen Analogien, die zwischen dem europäischen Antisemitismus vor dem Zweiten Weltkrieg und der gegenwärtigen Islamophobie bestehen, zu vernebeln. Wie früher der Jude, so ist heute der Muslim zum inneren Feind geworden: assimilationsunfähig, Träger einer den westlichen Werten fremden Religion und Kultur, Verderber der Sitten und permanente Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung… Der anarchistische oder bolschewistische Jude wurde durch den jihadistischen Muslim ersetzt, die krumme Nase durch den Bart, der jüdische Kosmopolitismus durch den internationalen Jihad.
Lässt sich die Parallele auf andere Aspekte ausdehnen?
Es gibt tatsächlich weitere Analogien: Das erbärmliche Schauspiel unserer Regierungen, die sich gegenseitig die Verantwortung dafür zuschieben, dass sie keine Flüchtlinge aufnehmen, die aus Regionen flüchten, die von unseren «humanitären Kriegen» verwüstet werden, erinnert an die Konferenz von Evian im Jahr 1938, als die westlichen Großmächte zu keinem Abkommen kamen, um die Juden aufzunehmen, die Deutschland und Österreich verlassen hatten.
Und es gibt noch weitere Parallelen: Die Phobie vor dem islamischen Kopftuch hat die Frauenfeindlichkeit und Homophobie des klassischen Faschismus ersetzt. In den meisten Ländern Westeuropas predigen heute die postfaschistischen Bewegungen Ausgrenzung und Hass im Namen des Rechts und der individuellen Freiheiten. Das ist gewiss ein widersprüchlicher Prozess, denn die alten Vorurteile sind in der Wählerschaft dieser Bewegungen sicher nicht verschwunden, aber die Tendenz ist doch recht klar. Jedenfalls können wir die aktuelle Xenophobie nicht mit den Argumenten des traditionellen Antifaschismus bekämpfen.
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