von Paul B. Kleiser
Zugegebenermaßen habe ich die Bücher von Swetlana Alexijewitsch, vor allem Secondhand-Zeit, erst wenige Monate vor der Verleihung des Nobelpreises eher zufällig kennen gelernt. Es gibt nicht viele Autoren, die einen so klaren Blick auf die Katastrophen der Sowjetunion und Russlands entwickeln, und dies auch noch vor allem aus weiblicher Perspektive. Schon in ihrem ersten Buch, Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, das in der Sowjetunion zunächst verboten wurde, aber dann mit Beginn der Perestroika 1985 erscheinen konnte, bringt sie diese Perspektive zur Anwendung.
Auch ihre Werke über die Folgen des Afghanistankriegs oder von Tschernobyl behandeln in starkem Maße und elegischem Ton das Leiden der Frauen. In der Welt der Autorin verschwinden die Männer einfach, werden im Krieg erschossen, bringen sich um oder gehen am Wodka zugrunde.
Die Autorin war ein Kind der Sowjetunion; als Tochter eines weißrussischen Vaters und einer ukrainischen Mutter wurde sie in der Ukraine geboren und verbrachte lange Jahre in Moskau. Heute lebt sie in Minsk, schreibt aber auf russisch.
Ihre Bücher beruhen auf zahllosen Interviews (bis zu 500 pro Arbeit) mit unterschiedlichsten Protagonisten, die sie bearbeitet und zu einer Art Collage montiert. Sie interviewt mit der Absicht, den Moment des Übergangs festzuhalten, «wo das normale Leben zur Literatur wird»; ihr zufolge kann ein «Stück Literatur überall aufblitzen, an den überraschendsten Stellen».
In ihrer «menschlichen Tragödie» geht es um Angst, Liebe und Tod – vor dem Hintergrund des «Sowo», des Sowjetmenschen mit seiner blutigen Geschichte. Die Kernpunkte ihrer Erzählungen beschäftigen sich mit dem Stalinismus (die Zwangskollektivierung und die «Säuberungen» 1936/1937 sowie die Welt der Denunzianten und der Lager), dem Zweiten Weltkrieg, den Gorbatschowschen Reformen und ihrem Scheitern, der «Schocktherapie» unter Boris Jelzin und Gaidar, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den nationalistischen Pogromen sowie mit dem «Neostalinismus» unter Putin, der das «Sowjetische» (und Stalin) wieder zur Mode gemacht habe.
«Veraltete Ideen leben wieder auf», lässt sie in Secondhand-Zeit eine Lehrerin sagen, «vom großen Imperium, von der ‹eisernen Hand›, vom ‹besonderen russischen Weg› … Die sowjetische Hymne ist zurück, es gibt wieder einen Komsomol, nur heißt er jetzt ‹Die Unseren›, es gibt eine Partei der Macht, die die Kommunistische Partei kopiert. Der Präsident hat die gleiche Macht wie früher der Generalsekretär. Die absolute Macht. Statt Marxismus-Leninismus haben wir jetzt die Orthodoxie…»
«Unsere Menschen brauchen die Freiheit wie der Affe eine Brille», meint eine frühere Sekretärin der Partei, die Kommunistin bleiben möchte. «Das Land ist untergegangen, weil es keine Damenstiefel gab, kein Toilettenpapier und keine Apfelsinen. Keine verfluchten Jeans! Heute sehen unsere Geschäfte aus wie Museen. Wie Theater. Man will mir einreden, Klamotten von Versace und Armani, das sei alles, was der Mensch braucht. Das sei genug. Das Leben bestehe aus Finanzpyramiden und Wechseln. Freiheit, das sei Geld, und Geld sei Freiheit.»
Durch das überfallartige Eindringen des Geldes und des Kapitalismus in eine völlig unvorbereitete Gesellschaft entstand eine kleine, aber stinkreiche Schicht von «Glücksrittern». «Aber auf Jelzin war ich nicht vorbereitet … auf Gaidars Reformen», meint eine Ärztin. «Das Geld war an einem einzigen Tag futsch. Das Geld … und unser Leben … Alles wurde in einem einzigen Augenblick wertlos. Anstelle der lichten Zukunft hieß es nun: Bereichert euch, liebt das Geld … Betet dieses Tier an! Das ganze Volk war darauf nicht vorbereitet. Niemand hatte vom Kapitalismus geträumt…»
«Nur fünf Jahre sind vergangen [seit 1991], aber die Wirklichkeit hat die Rollen neu verteilt. Die Heldin war diesmal die Frau eines großen Unternehmers … Allen stand der Mund offen, wenn sie erzählte … Von ihrem Haus – dreihundert Quadratmeter! Von ihren Dienstboten: Köchin, Kindermädchen, Chauffeur, Gärtner … Urlaub macht sie mit ihrem Mann in Europa … Museen, klar, aber vor allem Boutiquen. Die Boutiquen! Ein Ring mit soundsoviel Karat, ein anderer … und Anhänger … und goldene Ohrclips … Das war was! Über den Gulag oder solche Dinge kein Wort. Was war, ist vorbei. Wozu jetzt noch mit den alten Leuten streiten.»
Die alten Menschen wurden zu Opfern, weil ihre Renten bei einer Inflation von mehreren tausend Prozent völlig entwertet wurden. Der Begriff «Opfer» wurde zu einem Schimpfwort der Neureichen.
«Von der Rente kann man heutzutage nicht leben. Ich selber, ich hüte fremde Kinder. Das bringt ein paar Kopeken, davon kaufe ich mir Zucker und ein bisschen Wurst. Denn was ist schon unsere Rente? Davon kaufst du Brot und Milch, aber kein paar Schuhe für den Sommer. Dafür reicht es nicht mehr. Früher saßen die alten Leute sorglos auf der Bank im Hof … Heute nicht mehr. Der eine sammelt in der Stadt leere Flaschen, ein anderer steht vor der Kirche und bettelt … Der nächste verkauft an der Bushaltestelle Sonnenblumenkerne oder Zigaretten. Oder Wodkamarken … Wodka ist heute wertvoller … als amerikanische Dollar. Für Wodka kriegt man bei uns alles. Da kommt sogar der Klempner, der Elektriker.»
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