von Stepán Steiger
Mit der derzeitigen Wirtschaftspolitik bleibt Tschechien dauerhaft vom Westniveau abgehängt, fürchten die tschechischen Gewerkschaften. Das gibt einer neuen, rechtsnationalistischen Partei Auftrieb.
In den letzten Monaten schienen die Medien über die Wirtschaftslage des Landes nur gute Nachrichten zu bringen. Im Juli konnte man z.B. Schlagzeilen lesen wie: «Tschechien wird schneller wachsen als erwartet» – Analytiker aus dem Finanzministerium hatten ihre Vorhersagen für das Wirtschaftswachstum 2015 von 2,7% auf 4% angehoben.
Im September erfuhr die Öffentlichkeit, der Durchschnittslohn sei im zweiten Quartal 2015 um 875 Kronen/32 Euro auf 26287 (9714 Euro gestiegen (bei einem Wechselkurs von rd. 27 Kronen gleich 1 Euro) – wobei allerdings zwei Drittel der Beschäftigten diesen Durchschnitt nicht erreicht haben). Erfreulich für die arbeitende Bevölkerung war die Annahme der Experten, sinkende Arbeitslosigkeit könne den Druck zu Lohnsteigerungen weiter verstärken, sodass die Löhne dieses Jahr fast um 3% steigen dürften.
Anfang Oktober besagte die Statistik, die Arbeitslosigkeit sei von 6,2% im August auf 6% im September weiter gesunken – das ist die niedrigste Zahl seit März 2009, als die Republik die Weltfinanzkrise zu spüren begann. Die Gesamtzahl der Arbeitslosen betrug 441892. Es gab fast 109000 freie Arbeitsplätze, im Durchschnitt entfielen auf einen freien Arbeitsplatz 4,1 Bewerber, im Vorjahr war die Zahl fast zweimal so hoch. Bei diesen Zahlen darf man allerdings nicht vergessen, dass jeden Monat rd. 20000 Arbeitsuchende aus der Statistik gestrichen werden, die zu keiner legalen Beschäftigung gelangen – ein Großteil davon verstärkt die Schattenwirtschaft. Die tatsächliche Zahl der Erwerbslosen liegt deshalb um fast 200000 höher als die offizielle Statistik.
Im Oktober sank die Zahl der Arbeitslosen weiter auf 5,9%. Einige Wirtschaftszweige beginnen, einen Mangel an Facharbeitskräften zu beklagen. Nach Angaben von Eurostat hat die Tschechische Republik die zweitniedrigste Arbeitslosenzahl in der EU (gleich hinter Deutschland). Und um das Bild abzurunden: Das Tschechische Statistische Amt schätzte Mitte November das Wirtschaftswachstum im dritten Quartal auf 4,3% (+0,5%).
Die Schere öffnet sich wieder
Obwohl diese Angaben verlässlich sind, geben sie den Zustand der Wirtschaft nur oberflächlich wieder. Einen gründlicheren Einblick in die Gesamtlage bot die am 19.November veröffentlichte Analyse der größten tschechischen Gewerkschaft, der Tschechisch-Mährischen Konföderation der Gewerkschaftsverbände (CMKOS). Sie trägt den Titel «Vision einer Änderung der Wirtschaftsstrategie der Tschechischen Republik» und bietet nicht nur einen Überblick über die Periode seit 1989, sondern eine kritische Bewertung der heutigen Lage und schlägt eine Strategie vor, eine «Vision» einer möglichen Entwicklung.
Zunächst stellen die Gewerkschaftsökonomen fest, dass die Republik sich nach einer Periode ökonomischen Rückgangs erst 2014 wieder den entwickelten Ländern zu nähern begann und im Vorjahr ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf erreichte, das 84% des EU-Durchschnitts entspricht (im Verhältnis zu Deutschland waren es gar nur 68%). In den letzten sieben Jahren hat sich die tschechische Wirtschaftsleistung jedoch von der deutschen und österreichischen erheblich entfernt. Offensichtlich reicht die Wachstumsdynamik der tschechischen Wirtschaft immer noch nicht, um die Lücke zu den entwickeltsten EU-Ländern zu schliessen.
Dies spiegelt sich u.a. auch in den Bruttostundenlöhnen, die nach offiziellem Wechselkurs umgerechnet 29% des österreichischen und 28% des deutschen Niveaus erreichen. Die Urheber der kapitalistischen Restauration zu Beginn der 90er Jahre nahmen an – zu Unrecht, wie sich später zeigte –, dass billige Arbeit und eine sichtbar unterbewertete Ausfuhr einen vorübergehenden Wettbewerbsvorteil sichern würden, der ein schnelles Wachstum gewährleisten könne. Das Erbe dieser Illusion ist immer noch spürbar: Das Land geriet in die Position einer untergeordneten Wirtschaft, ist deshalb von Lieferungen von Komponenten und Sublieferungen an andere Wirtschaften abhängig.
Aus diesen Gründen sind die Autoren der «Vision» überzeugt, dass es mit der heutigen Wirtschaftspolitik mindestens hundert Jahre dauert, bis das Lohnniveau der entwickelteren Nachbarländer erreicht wird. Deshalb sei eine neue Wirtschaftsstrategie notwendig. Die größte Gefahr dabei stelle die Versteinerung der bisherigen Wirtschaftsstruktur dar. «Die Lösung muss sich parallel sowohl auf die Löhne wie auf den Wechselkurs stützen,» sagte der Vorsitzende des Gewerkschaftsverbands, Josef Stredula, bei der öffentlichen Vorstellung der Studie. «Notwendig ist ein schnelleres Wachstum der tschechischen Nominallöhne gemessen an den entwickelten EU-Ländern.»
Aufstieg der ANO
Das ist ein schwieriges Unterfangen, meiner Ansicht nach kaum denkbar, zumal im Hinblick auf die politische Situation. Denn auch in dieser Hinsicht kann man annehmen, dass die Tschechische Republik am Scheideweg steht. Es gibt nämlich zwei starke politische Parteien, deren Programme konträr zueinander sind, die jedoch einander brauchen, um regieren zu können. Das sind einerseits die als ANO bekannte Partei, andererseits die Sozialdemokraten. Aus der politischen Bewegung «Aktion unzufriedener Bürger» (ANO) wurde im Mai 2012 eine Partei. Ihr Initiator und Vorsitzender ist einer der reichsten Männer des Landes, der Milliardär Andrej Babis. Das erklärte Hauptziel der Partei – ein Programm im eigentlichen Sinn hat sie nicht–, die ihr Gründer als «Rechtspartei mit Sozialgefühl» bezeichnet, ist die Durchsetzung von mehr Unterstützung für Unternehmer und Gewerbetreibende, die Abschaffung der Korruption und Politikmacherei sowie die Unterstützung des Beschäftigungswachstums.
Schon bei der ersten Wahl zur Abgeordnetenkammer, an der die ANO teilgenommen (2013), gewann sie auf Anhieb 18,7% der Stimmen und 47 Mandate und wurde zweitstärkste Partei. Seitdem sehen Meinungsumfragen ANO («ano» heißt auf tschechisch Zustimmung, auf deutsch «ja») immer wieder an erster Stelle steht, gefolgt von den Sozialdemokraten. Aller Kritik (und allen Anschuldigungen in Bezug auf seine Vergangenheit als Mitarbeiter der Geheimpolizei im kommunistischen Regime) zum Trotz bleibt Andrej Babis einer der beliebtesten Politiker. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird er auch in der nächsten Regierung vertreten sein – eine neue Abgeordnetenkammer wird in zwei Jahren gewählt. Die Mitte-Rechts-Parteien hingegen scheint kaum in der Lage, ihre bei den letzten Wahlen im Oktober 2013 verlorene Kraft wiederzugewinnen.
Wird ANO auch die nächsten Wahlen gewinnen, wird die neue Regierung einen sehr anderen Kurs einschlagen als die heutige (und gewiss nicht im Sinne der hier angeführten Gewerkschaftsanalyse). Wie stark der Kurswechsel ausfällt, hängt von der Stärke der anderen Parteien ab, denn es ist sehr wahrscheinlich, dass wieder eine Koalitionsregierung entsteht, wenn auch unter Beteiligung der Sozialdemokraten. Es ist anzunehmen, dass sich die Wirtschaftslage der Republik bis dahin eingetrübt haben wird, denn die Wirtschaftspolitik der Regierung wird sich kaum ändern. Der weitere Weg scheint vorgegeben.
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