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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2016
In der Sylvesternacht sind Sexismus und Rassismus eine unheilvolle Verquickung eingegangen
von Angela Klein

«Ausländer begrapschen deutsche Frauen.» Das ist der Tenor der Reaktionen in Politik und Massenmedien nach der Sylvesternacht. Sexismus ist für sie ein Ausländerproblem, kein Problem von Männergewalt. Denn Ausländer dürfen im Umgang mit Frauen nicht, was Deutsche dürfen, wo kämen wir da hin. Die Folge ist, dass Gewalt gegen Frauen nach wie vor kleingeredet wird: Nicht der Schutz der Frauen gegen Männergewalt steht im Mittelpunkt der Debatte, sondern Abschiebungen, Obergrenzen und neue Mauern.
Die Ausblendung der Frauenperspektive findet sich spiegelverkehrt auch im Diskurs vieler Linker, von gemäßigt bis radikal; manche gehen dabei soweit, nicht wahrhaben zu wollen, dass in diesem Fall die Täter zum großen, wenn nicht überwiegenden Teil Migranten waren. Links wie rechts werden Rassismus und Sexismus als parallele Verhältnisse gedacht, die unabhängig voneinander existieren oder gar gegeneinander ausgespielt werden.
Sie sind in der Sylvesternacht aber eine unheilvolle Verquickung eingegangen. Wir wollen versuchen, sie anhand von Fragen aufzulösen.

Sind die Ereignisse in Köln vergleichbar mit sexuellen Übergriffen auf dem Oktoberfest oder beim Kölner Karneval?
In zweierlei Hinsicht sind sie das nicht: Sie gingen vielfach mit Diebstahl einher und es war eine Massenaktion. Vor allem letzteres hat die Gemüter so aufgeschreckt, dass von einem «Kulturbruch» die Rede war.

Sind die Übergriffe ein «Ausländer»-Problem?
Eher nicht. Genaues Zahlenmaterial dazu scheint es aus Deutschland nicht zu geben. Es gibt eine repräsentative Untersuchung «Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland» von 2004. Demnach haben insgesamt 58% aller befragten Frauen Situationen sexueller Belästigung erlebt, sei es in der Öffentlichkeit, im Kontext von Arbeit und Ausbildung oder im sozialen Nahraum. Ein großer Teil davon passiert im nahen sozialen Umfeld der Betroffenen, wo die Täter Partner, Expartner, Nachbarn, Kollegen, Lehrer usw. sind und Situationen der Abhängigkeit bestehen.
Der Ausländeranteil an der Bevölkerung in Deutschland beträgt 9–10%. Das legt den Schluss nahe, dass die Mehrzahl der Übergriffe das Werk von Deutschen ist. Anders als bei Ausländern provozieren Übergriffe von Deutschen nur in aller Regel nicht dieselbe gesellschaftliche Empörung – was sie aber verdient hätten. Auf der Wies’n (oder auf Messen) gibt es heute noch manchmal die Anweisung an die Kellnerinnen, Anfassen an Brust und Po «gehöre dazu». Seit über 40 Jahren thematisiert die Frauenbewegung die Männergewalt – das erste Frauenhaus wurde 1976 in Berlin eingerichtet. Und immer noch klagen die Frauenverbände, dass es nicht genug Beratungsangebote gibt, dass Frauenhäuser und Notrufe besser ausgestattet werden müssen, dass für Prävention und Antigewaltarbeit nicht genug Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Sexismus manifestiert sich in Finnland anders als in Marokko, existieren tut er dennoch in beiden Gesellschaften. Was wir jedoch gerade erleben ist, dass Sexismus als Element nur einer spezifischen Religion und Kultur in den Blick gerückt wird und eben nicht als Teil männlicher Herrschaft. «Diese männliche Herrschaft gilt es überall in Frage zu stellen», heißt es in einem sehr lesenswerten Interview von Zeit Online mit zwei Feministinnen.

Können wir also die Frage nach der Herkunft der Täter völlig ausblenden?
Nicht ganz. Die Tatsache, dass unsere Gesellschaft in anderer Hinsicht patriarchalisch ist als etwa die nordafrikanische bedeutet nicht, dass die Stellung der Frau darin dieselbe wäre. In unserer Gesellschaft profitieren Frauen immer noch vom jahrzehntelangen Kampf der neuen Frauenbewegung, der u.a. dazu geführt hat, dass sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung in der Ehe strafbar sind und männliche Verhaltensweisen massiv hinterfragt wurden. Vergleichbares konnten die arabischen Frauen in ihren Ländern bislang nicht durchsetzen. Gewalt gegen Frauen (und gegen Kinder!) nimmt allerdings auch bei uns zu, und das hat mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Verwahrlosung zu tun.

Hat die Missachtung der Rechte von Frauen also doch «kulturelle» Ursachen?
Nein. Es ist noch nicht lange her, dass auch in europäischen Ländern Frauen als Freiwild betrachtet wurden, wenn sie etwas mehr Haut gezeigt haben. Und auch in arabischen Ländern war und ist die Stellung der Frau nicht gleichbleibend. Im Algerien der 60er Jahre, also unmittelbar nach der Erlangung der Unabhängigkeit, war sie bedeutend besser als heute. Die Rolle rückwärts setzte da in den 70er Jahren ein (siehe dazu S.6). Umgekehrt konnten Frauen sich im Istanbul der 80er Jahre nicht so frei bewegen, wie sie es heute können (wie lange noch?) – um nur zwei Beispiele zu nennen. Es ist ein Zeichen unserer kulturellen Überheblichkeit und natürlich auch Ignoranz, dass wir solche Differenzierungen nicht vornehmen.
Die besondere Erniedrigung von Frauen in arabischen Ländern (um nur diese herauszugreifen!) hat gesellschaftliche Gründe, keine «wesensmäßigen» kulturellen oder gar religiösen. Solche Zuschreibungen sind rassistisch. Sie verhindern, was am nötigsten erscheint: den gemeinsamen Kampf deutscher und nichtdeutscher Frauen gegen Männergewalt und patriarchalische Strukturen.

Hätten so viele Frauen Anzeige erstattet, hätte es diese Empörung in der Öffentlichkeit und die politische Ausschlachtung der Vorfälle gegeben, wenn Frauen in der Sylvesternacht Opfer einer Horde betrunkener Deutscher geworden wären?
Mit Sicherheit nicht, man wäre mit einem Ausdruck des Bedauerns ob solcher «Entgleisung» zur Tagesordnung übergegangen. Das beste Beispiel dafür ist das Verhalten der Polizei selbst: Sie hat, wenn überhaupt, vornehmlich auf Diebstahl reagiert und bei den sexuellen Übergriffen regelrecht «zugeschaut», wie von Frauen berichtet wurde. Man darf mutmaßen, dass es Frauen in diesem Fall leichter gefallen ist, Strafanzeige zu erstatten, weil es diese öffentliche Empörung gab und weil es «die anderen» betraf, nicht «die eigenen». Möglichwerweise haben auch nichtbetroffene Frauen aus dem rechtsextremen Lager die Gelegenheit genutzt, die Zahl der Anzeigen künstlich in die Höhe zu treiben.
Das alles entwertet jedoch nicht die Tatsache, dass es positiv ist, dass so viele Frauen Anzeige erstattet und gegen die sexualisierte Gewalt und ihre Instrumentalisierung für eine rassistische Politik auf die Straße gegangen sind. Die Frauenbewegung hat sich damit in der Öffentlichkeit wieder zurückgemeldet – und zwar mehrheitlich deutlich auf der Seite der Asylsuchenden.

Durch die Bank fordern Frauenverbände nach «Köln» eine Verschärfung des Sexualstrafrechts. Nicht nur sexuelle Nötigung, auch sexuelle Belästigung soll strafbar werden. Bislang ist es so, dass erst eine Körperverletzung nachzuweisen ist, bevor man ihr glaubt, dass sie sich gewehrt hat. Und nur, wenn sie sich handgreiflich gewehrt hat, wird ihr abgenommen, dass sie Nein gesagt hat. Sollen Linke sich dem anschließen und nach mehr Polizei und schärferen Gesetzen rufen?
Schärfere Gesetze sind für sich genommen keine Gewähr, dass sie auch richtig angewendet werden. Missachtung von Frauen verschwindet deswegen ja nicht aus Männerköpfen, auch nicht aus denen der Polizei. Dennoch ist es ein Fortschritt, wenn eine Gesellschaft auch durch Gesetze unterstreicht, dass sie sexuelle Gewalt nicht duldet – von niemandem.
Eine Erfahrung ist aber auch, dass Selbsthilfestrukturen sehr wichtig sind, ohne diese bleibt das Gesetz ein leerer Buchstabe. Beides ist nötig und dringend. Denn die Gefahr besteht, dass sich Rechtsextreme nun als verlässliche Kraft profilieren, die wirksam öffentliche Sicherheit garantiert.
Die Chance für diese neue Rolle und die Akzeptanz, die sie ihr in der Öffentlichkeit verschaffen kann, hat die extreme Rechte bereits erkannt: Sie bietet großzügig bewaffnete «Bürgerwehren» an, und es gibt Bürgermeister, die das dulden, wenn nicht gar fördern. Die Polizei will dies Treiben «beobachten», was bedeutet: sie lässt es, mindestens streckenweise, gewähren.
Besorgniserregender könnte die Lage nicht sein. Die Linke darf das Bedürfnis nach Schutz des öffentlichen Raums und im öffentlichen Raum nicht kleinreden – er ist eine Grundvoraussetzung von Demokratie. Sie darf es auch nicht mit dem Ruf nach einem starken Staat verwechseln. Der neoliberale Staat baut Schutz ab und Repression auf, diese Unterscheidung ist ganz wichtig. Was der Spiegel Staatsohnmacht nennt, ist in Wirklichkeit Staatsversagen: ein Ergebnis politischer Entscheidungen, die das Öffentliche zurückdrängen und das Private fördern – auch privatisierte Gewalt. Linke aber treten für ein Staatswesen ein, das den Schutz der Bürger in den Rahmen gleicher Rechte und öffentlicher Kontrolle stellt – das ist eine Dimension, um die es hier auch geht.

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