Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2016

Das Gewerkschaftsmonopol hilft bei der Einschränkung des Streikrechts
von Rolf Geffken

In der Debatte um das Streikrecht in Deutschland taucht immer wieder die Frage auf, ob dieses Recht überhaupt garantiert sei, weil es nicht dem Wortlaut nach im Grundgesetz zu finden ist. Allein der Umstand, dass diese Frage im Zusammenhang mit Arbeitskämpfen immer wieder diskutiert wird, zeigt, welch große Rolle sie im Bewusstsein der Akteure zu spielen scheint.
Der Akteure? Überall? Nein. Das in Deutschland vorherrschende hohe Maß an Rechtgläubigkeit findet seinesgleichen in kaum einem anderen europäischen Land. Beteiligt an dem hohen Stellenwert von Juristen und Gerichten bei Arbeitskämpfen sind nicht etwa nur die Unternehmer oder der Staat. Nein, es sind vor allem die Gewerkschaften selbst, die diese Art von Rechtgläubigkeit immer wieder neu reproduzieren.
Als jüngstes Beispiel mag die «erfolgreiche» Durchführung eines Statusverfahrens der Gewerkschaft Ver.di gegen die junge Neue Assekuranz-Gewerkschaft (NAG) im Versicherungsgewerbe dienen. Ver.di feierte die «Feststellung» des Landesarbeitsgerichts Hessen, die NAG sei «keine Gewerkschaft» als Erfolg, nachdem Ver.di zuvor Beschäftigte im Versicherungsgewerbe vor der Teilnahme an einem von der NAG organisierten Streik gewarnt hatte: Die Teilnahme habe eine Kündigung zur Folge, die NAG «sei» ja keine Gewerkschaft.

Wer streiken darf
Gerichte entscheiden also in Deutschland auf Veranlassung von Gewerkschaften, wer «eine Gewerkschaft ist». Und selbst viele kritische Gewerkschafter hinterfragen nicht die scheinbar «neutrale» Prüfung dieser Frage durch keineswegs gewerkschaftsfreundliche Gerichte. Dabei hängt von diesem «Rechtsbegriff» einiges ab. So zum Beispiel, ob man einen Wahlvorstand für eine Betriebsratswahl beantragen oder ob man auf einer Betriebsversammlung das Wort ergreifen kann. Vor allem aber: Ob man zu einem Streik aufrufen kann, denn der Streik gilt in Deutschland nur dann als legal, wenn eine Gewerkschaft ihn stützt.
Zunächst: Wer versucht, eine gewerkschaftsfeindliche und streikfeindliche Rechtsprechung, für sich zu instrumentalisieren, wird schnell an Grenzen stoßen. Ein solches Vorgehen rächt sich alsbald, denn jede Art der Einschränkung des gewerkschaftlichen oder auch nicht gewerkschaftlichen Handlungsspielraums schadet den Beschäftigten und damit allen Gewerkschaften.
Allerdings ist eines richtig: Die deutsche Rechtsprechung stellt vor allem an die DGB-Gewerkschaften Erwartungen, die diese in den letzten 60 Jahren überwiegend erfüllt haben. Sie sollen helfen, soziale Konflikte in engen Grenzen zu halten und die Arbeitsbeziehungen zu stabilisieren. Eben deshalb unterstrich das Bundesarbeitsgericht mehrmals, dass das «Instrument» des Streiks nur solchen Händen anvertraut werden dürfe, die davon «verantwortungsvoll» (= nicht intensiv) Gebrauch machten. Zu konstatieren ist auch eine wichtige Konstante der deutschen «Arbeitskampfrechtsprechung»: Der «wilde Streik» ist unzulässig. Seine Durchführung kann für die Akteure sehr teuer werden. In Form von Entlassungen oder von Schadenersatzleistungen. Im «einfachsten» Fall in Form von Abmahnungen, wie jüngst im Falle eines spontanen Streiks im Mercedes-Werk Bremen.
Um einerseits den Wandel in der Rechtsprechung, aber auch seine Konstanten politisch und rechtlich korrekt zu analysieren, muss man die dialektischen Beziehungen zwischen Recht und Praxis, zwischen Rechtsprechung und Streikbewegung herausfiltern. Indem wir die Entwicklung eines Gegenstands untersuchen, offenbart sich uns rasch auch sein Kern. Historischen Fragestellungen kommt also gerade im Rahmen der Streikrechtsdiskussion ein großer Erkenntniswert und sodann auch eine große praktische Relevanz zu.
So zeigen allein die zahlreichen Kehrtwendungen durch das BAG seit 1955 als Reaktion auf die gewerkschaftliche Praxis, dass an dieser Rechtsprechung so ziemlich nichts «in Stein gemeißelt» war und ist. Eine äußerst wichtige Feststellung für all jene, die immer noch die Last einer großen Rechtgläubigkeit und Rechtsfixiertheit mit sich und in den Gewerkschaften herumtragen!
Eine ähnliche Relativierung angeblich absolut gesetzter Maßstäbe ergibt sich aber, wenn wir nicht einen historischen, sondern einen politisch-geografischen Vergleich vornehmen. Dabei reicht bereits ein Blick auf die wichtigsten westeuropäischen Länder um festzustellen, dass die von manchen Gewerkschaftsführungen dargestellte Rechtslage dort ganz anders ist als hierzulande.

Der spontane Streik in Europa
Nehmen wir den spontanen Streik: Allein in so wichtigen Ländern wie Frankreich, Italien und Belgien besteht ein wesentlicher Unterschied zur deutschen Rechtslage (und zwar ungeachtet aller nachfolgenden Einschränkungen des Streikrechts): Das Streikrecht ist dort konsequent als Individualgrundrecht ausgestaltet. Es ist das Recht des einzelnen Beschäftigten zu streiken. Übrigens sagt das deutsche Grundgesetz in Art.9 III nichts anderes, denn es spricht von «Jedermann» und «allen Berufen» und eben nicht von Gewerkschaften. In diesen drei Kernstaaten der EU jedoch zieht die Rechtsprechung die einzig richtige Konsequenz aus diesem Individualrecht: Der spontane nichtgewerkschaftliche Streik ist ebenso zulässig wie der gewerkschaftliche Streik.
In Belgien betont die Rechtsprechung sogar, dass der einzelne Beschäftigte mit der Teilnahme an einem spontanen Streik sein «Recht auf Vereinigungsfreiheit» ausübe. Richtig: Der Streik nämlich ist die Urform der in der Koalitionsfreiheit garantierten Vereinigungsfreiheit der Arbeiter. Das offenbart schon die historische Entwicklung: Aus Streiks entstanden Gewerkschaften. Gewerkschaft und Streik sind zwar kein Gegensatz. Während aber die Gewerkschaft ohne den Streik undenkbar ist, so ist der Streik ohne die Gewerkschaft durchaus denkbar. Konsequenterweise können sich die Teilnehmer an einem spontanen Streik in Belgien auch nicht schadenersatzpflichtig machen, während in Frankreich die Friedenspflicht der Tarifvertragsparteien nur für die Gewerkschaften, nicht aber für die Beschäftigten gilt.

Der politische Streik in Europa
Daneben weist die deutsche «Rechtslage» zwei weitere Konstanten auf, die es in wichtigen anderen EU-Staaten nicht gibt: so das nirgendwo fixierte und doch immer wieder behauptete «Verbot des politischen Streiks» und das ebenfalls nirgendwo, auch nicht in Deutschland fixierte «Verbot von Beamtenstreiks».
In Belgien ist der «politische Streik» zulässig, sofern die Ziele des Streiks Beschäftigungsfragen zum Gegenstand haben. Ähnlich in Italien, wo es nur darauf ankommt, ob der Streik sich gegen das demokratische System richtet. Nur im letzteren Fall wäre er unzulässig. Sogar in Dänemark gilt der politische Streik als zulässig, sofern er nur «von kurzer Dauer» und «gerechtfertigt» ist.
Ähnlich verhält es sich mit dem sog. Verbot des Beamtenstreiks. Es wird in seiner absoluten Form eigentlich nur in Deutschland behauptet. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat es wiederholt in Frage gestellt, ein einzelnes deutsches Verwaltungsgericht schloss sich seinen Zweifeln an. Das in Deutschland zuständige Bundesverwaltungsgericht ließ sich davon allerdings nicht beirren.
Einschränkungen des politischen Streiks gibt es in anderen EU-Staaten meist nur dort, wo bestimmte zentrale staatliche Bereiche betroffen sind, wie z.B. Polizei, Justiz, Militär. Ein Streikverbot für Lehrer aber, wie es noch kürzlich vom Bundesverwaltungsgericht gegen beamtete Lehrer in Deutschland durchgesetzt wurde, ist ein deutsches Unikum.
Richtig ist andererseits, dass in einer Reihe von EU-Staaten in den letzten zehn Jahren gesetzliche Streikrechtseinschränkungen durchgesetzt wurden. So sind etwa in Frankreich im öffentlichen Dienst nur «repräsentative» Gewerkschaften zu einem Streikaufruf berechtigt. Zudem müssen Streiks dort innerhalb einer bestimmten Frist angekündigt werden. Einschränkungen wurden auch für die Beschäftigten im Verkehrswesen und in Schulen eingeführt. Ähnliches gilt für Italien. Doch schränken selbst diese gesetzlichen Bestimmungen das Streikrecht nur unwesentlich ein. Entweder bleiben sie auf bestimmte Bereiche begrenzt oder sie betreffen nur relativ kurze Ankündigungsfristen.
Anders ist die Lage in Großbritannien, wo seit der Regierung Thatcher die Gewerkschaften durch externen Zwang zu Urabstimmungen und einem starken Schlichtungsdruck sowie Schadenersatzdrohungen massiv an der Ausübung des Streikrechts gehindert werden.
Staatliche Eingriffe in das System kollektiver Arbeitsbeziehungen gibt es in Deutschland erst mit dem Tarifeinheitsgesetz. Alle anderen «Regeln» wurden und werden ohne jede gesetzliche Grundlage in Grundsatzentscheidungen des Bundesarbeitsgerichts aufgestellt. Die Gewerkschaften stellen dieses Regelwerk kaum in Frage. Umgekehrt agieren Rechtsprechung und Verwaltung in Frankreich, Belgien und Italien weitgehend zurückhaltend und versuchen, den Handlungsspielraum der Gewerkschaften nicht zusätzlich einzuschränken. Dass dies mit einer seit vielen Jahren weit offensiveren Handhabung des Streiks gerade durch größere Gewerkschaften zusammenhängen dürfte, liegt auf der Hand.
In den meisten anderen EU-Staaten ist die in Deutschland über sogenannte Statusverfahren erfolgte Absicherung von Gewerkschaftsmonopolen unbekannt. Die Freiheit, Gewerkschaften zu gründen, ist in den meisten EU-Staaten anerkannt und wird auch von den dortigen Gewerkschaften nicht in Frage gestellt. Wer eine Gewerkschaft «ist» und wer nicht, entscheiden jedenfalls in den meisten Nachbarstaaten Deutschlands die Beschäftigten.

Zum EU-Vergleich siehe auch Wiebke Warneck: Streikregeln in der EU27 und darüber hinaus – ein vergleichender Überblick, Bericht 103. Hrsg. ETUI. Brüssel 2008, S.14.

Teile diesen Beitrag:

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.