Gregor Schöllgen: Gerhard Schröder. Die Biographie. München: DVA, 2015. 1038 S., 34,99 Euro
von Paul B. Kleiser
Vor ein paar Monaten konnte Merkel den zehnten Jahrestag ihres Einzugs ins Kanzleramt feiern. Sie schien auf dem Weg zur «ewigen Kanzlerin», als sie die Grenzen für Flüchtlinge öffnen ließ; seither machen plötzlich Schlagzeilen über ihren baldigen Sturz die Runde. Verglichen mit den brutalen Pressekampagnen, die ihr Vorgänger Schröder und seine häufig wackelige rot-grüne Mehrheit zu überstehen hatten, handelt es sich bei den jetzigen Rücktrittsforderungen aber eher um einen Sturm im Wasserglas.
Der Erlanger Neuhistoriker Gregor Schöllgen hat eine monumentale Biografie über den siebten Bundeskanzler der BRD, Gerhard Schröder, vorgelegt, sie wurde in Berlin von seiner Amtsnachfolgerin, Angela Merkel, vorgestellt. Man könnte sich die Frage stellen, ob sich eine Beschäftigung mit Schröder mehr als zehn Jahre nach dem Machtverlust von Rot-Grün noch lohnt, da er sich ja längst aus der Politik zurückgezogen hat und ein ziemlich auskömmliches Privatleben führt. «Die Biographie» (mit dem bestimmten Artikel!) ist aus mindestens zwei Gründen interessant: Zum einen hatte der Autor angeblich «uneingeschränkten Zugang zu allen Papieren», sogar den privaten, sowie zu amtlichen Dokumenten, auch der Stasi-Akte (Schröder ist «sehr von sich eingenommen»), für die die persönliche Erlaubnis des Porträtierten nötig ist. Zum anderen gelingt es Schöllgen, politische Prozesse in ihren Entwicklungsverläufen deutlich zu machen, etwa wenn es um das schwierige Verhältnis zu Interessengruppen oder den Parteiführungen in Auseinandersetzung mit einer oft widerspenstigen Mitgliedschaft der SPD und der Grünen geht.
Das ist im Fall Schröder besonders wichtig, denn es dürfte wenige programmatische Inhalte der SPD geben, die er nicht früher oder später abgeräumt hat, sofern sie seiner Politik der kapitalistischen Modernisierung im Wege standen. Das gilt natürlich vor allem für seine «Agenda 2010» und die Durchsetzung von «Hartz IV», die europaweit zu einem Synonym der Drangsalierung der abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen geworden sind. Der komplexe Prozess, der zu Schröders Rede vor dem Bundestag am 14.März 2003 führte, wird von Schöllgen in allen Einzelheiten nachgezeichnet. Außerdem hat Schröder – in Kooperation mit Trittin und Fischer – den Grünen so manchen Zahn gezogen, besonders bei den Einsätzen der Bundeswehr in Jugoslawien und Afghanistan.
Der Juso
Der aus einfachen Verhältnissen kommende Schröder siedelte sich zunächst auf dem linken Rand der «Arbeiterpartei» SPD an und wollte die «Vorrechte der herrschenden Klassen» beseitigen. Das war schon damals keineswegs Mainstream in der SPD; in den 60er und 70er Jahren lagen die Jugendorganisationen der SPD häufig in heftigen Kämpfen mit den Altvorderen und verlangten verschiedentlich nach «systemüberwindenden Reformen». Über Fragen wie den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze, die Ordinarienuniversität oder den Umgang mit dem Nationalsozialismus führte sie lange Kontroversen; in der Theorie entdeckten die Jungen unterschiedlichste Richtungen des Marxismus neu.
Auch der Jungsozialist Schröder verstand sich damals als «Marxist», wiewohl er nie einen großen Leseeifer entwickelte und seine Kenntnisse vor allem aus der Sekundärliteratur bezog. Als großer Theoretiker ist der Jurist nie aufgefallen, seine Bücher nennt Schöllgen zu recht «Schnellschüsse». Aber er konnte gut zuhören und entwickelte sich ziemlich schnell zu einem gewieften Taktiker. Der Vorschlag, wie die Auseinandersetzung mit der Hausbesetzerszene in der Hamburger Hafenstraße gelöst werden kann, soll von ihm erarbeitet worden sein. Seit 1980 Mitglied des Bundestags, legte sich der «Enkel von Willy Brandt» über den Koalitionsvertrag mit der FDP («sozialdemokratische Identität preisgegeben») und vor allem die Nachrüstungspolitik mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt an.
1986 ging er nach Niedersachsen, um dort gegen Ministerpräsident Albrecht zu kandidieren. Eine Koalitionsaussage zugunsten der Grünen (vor dem Hintergrund der Katastrophe von Tschernobyl) verhinderte damals der Mann der Kohle aus NRW, Johannes Rau. Doch in Hannover begann die konfliktreiche Zusammenarbeit mit Jürgen Trittin, sodass nach dem Wahlsieg Schröders bei den niedersächsischen Landtagswahlen 1990 das Bett für Rot-Grün bereitet war, auch weil man in der Notwendigkeit des Atomausstiegs übereinstimmte. Kanzler Kohl, der sich zu dem Zeitpunkt im Glanz der bevorstehenden Vereinigung der beiden deutschen Staaten sonnte, soll das Ergebnis als «Desaster» und «bittere Enttäuschung» angesehen haben. Schröder kritisierte den extremen Zeitdruck und die «unzureichende Beteiligung» der Länder am Vereinigungsprozess; Niedersachsen und das Saarland lehnten dann auch den Vereinigungsvertrag ab.
Der Ministerpräsident
Das Kapitel über den Ministerpräsidenten Schröder (1990–1998) ist besonders aufschlussreich, weil Schröder nun Industriepolitik machen musste und sich zu einem «Trommler für den Standort Niedersachsen» entwickelt. Hier zeigen sich erhebliche Parallelen zu der von Stoiber in Bayern entwickelten Politik. Mehr noch als Bayern und Baden-Württemberg hängt das strukturschwache Niedersachsen seit dem Niedergang der Werftindustrie von der Autoindustrie und ihren Zulieferern ab. Mit Hilfe der Deutschen Bank und anderer Institute wehrte Schröder den Zugriff des italienischen Reifenherstellers Pirelli auf Continental ab. Sodann musste er sich als Mitglied des Aufsichtsrats um VW kümmern, das zu diesem Zeitpunkt «ein Sanierungsfall» war. Damals hätte man vermuten können, dass im Konkurrenzkampf mit Opel als Produzenten für den Massenmarkt die Wolfsburger eher das Nachsehen haben würden.
Schröder war klar, dass er für sein «Reformbündnis mit dem aufgeklärten Unternehmertum» die Betriebsräte und die IG Metall ins Boot holen musste, weil nur mit ihnen eine grundlegende Reorganisation der Produktionsstruktur möglich war – sie führte im Gefolge zu Outsourcing und zur Schwächung der Stammbelegschaften. Zur Durchsetzung dieser Politik holte er (mit Rückendeckung von Franz Steinkühler, bis 1993 Vorsitzender der IGM) den Manager Ferdinand Piëch aus Ingolstadt und machte ihn zum Vorstandsvorsitzenden, was dieser bis 2002 blieb. Die enge Zusammenarbeit mit Managern zieht sich wie ein roter Faden durch Schröders Karriere, bis zu seinem Sturz 2005.
Schöllgens Buch ist das eines Schröder eher wohlgesonnenen Historikers, der eine unglaubliche Fülle an Fakten zu verarbeiten und einzuordnen weiß. Als eine Art Lesebuch über die politischen Auseinandersetzungen der letzten 40 Jahre kann es gute Dienste tun.
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