Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2016
Ein Blick aus dem benachbarten Ausland auf die Sylvesternacht
von der Redaktion

Die Kölner Sylvesternacht hat im europäischen und internationalen Ausland hohe Wellen geschlagen. Und das nicht nur, weil natürlich auch die ausländischen Medien die Ereignisse sehr hochgekocht haben, sondern auch weil in anderen Ländern der Zusammenstoß mit Migranten aus dem arabischen Raum seit längerem viel stärker und heftiger ist als in Deutschland – Produkt einer verfehlten bis völlig fehlenden Integrationspolitik.
So schreibt Pascale Vielle, Professorin an der Freien Universität Brüssel, auf der Webseite Europe solidaire sans frontière (ESSF): «Dort wo ich wohne, Nähe Gare du Midi, ist sexuelle Belästigung auf der Straße Alltag, durch Anstarren, anzügliche Bemerkungen über meine Figur, Beleidigungen, wenn ich nicht unterwürfig antworte. Dieses Verhalten geht, nach dem, was ich beurteilen kann, von Männern mit einem muslimischen Hintergrund aus und folgt immer demselben Muster, etwa so: Mehrere Männer machen sich, häufig am selben Ort, vor einem Imbiss oder einem Supermarkt breit und hindern die Passanten am Zutritt. Das ist mit Köln nicht zu vergleichen, aber es geht dabei immer um dasselbe: Man will uns zu verstehen geben, dass unser Platz nicht im öffentlichen Raum ist.»
Wir veröffentlichen deshalb nachstehend Auszüge aus einer Debatte, die der Sender France Culture am 20.Januar unter dem Titel «Nach Köln: Wer verantwortet die Gewalt gegen Frauen?» ausstrahlte. Eingeladen war die Anthropologin VÉRONIQUE NAHOUM-GRAPPE. Sie hat u.a. an einem Sammelband zur Geschichte der Frauen mitgewirkt, der von Georges Duby und Michel Perrot herausgegeben worden ist (Quelle: http://alencontre.org/ ?s=Véronique).

Véronique Nahoum-Grappe: Die Kölner Ereignisse machen uns in zweifacher Hinsicht zornig.
Auf der einen Seite ist da die enorme Asymmetrie hinsichtlich der Handlungsfreiheit von Männern und Frauen in unserer Kultur und vielleicht in der Gesellschaft. Die Möglichkeit, zu jeder Zeit tags und nachts allein, ohne Begleitung ausgehen zu können, ist eine wunderbare Errungenschaft, und wie alle großen Freiheiten durchwirkt sie auch die winzigsten Momente des Alltagslebens. In der Sylvesternacht mit Freundinnen ausgehen zu können, ohne (männlichen) Schutz, ohne sich als Mann verkleiden zu müssen, wie dies im 18.Jahrhundert noch der Fall war, ist eine großartige Errungenschaft, die Männer sich gar nicht vorstellen können – sie ist ja auch erst jüngeren Datums. Aber sie großartig. Das ist verletzt worden, und das macht zutiefst wütend. Das stellt die Möglichkeit in Frage, sich in aller Freiheit draußen zu bewegen. Das ist das erste.
Das zweite betrifft die Menge. Und vielleicht auch die Kriminalgeschichte. Im Verlauf der Geschichte haben sich die Formen der Kriminalität immer wieder an das geltende System der Präsenz im öffentlichen Raum angepasst. So dachte man bislang, dass die Menge einen schützt, weil sie einen umgibt – allein sein war bedrohlich für die Frauen – und weil die Menschen in der Menge in Verbindung miteinander stehen. Es gab manchmal einzelne Taschendiebe oder «Grabscher». Aber die Vorstellung, dass die Menge selbst eine verdunkelnde Mauer bildet, in deren Schutz Gewalttaten begangen werden können, dass Gewalttäter sie als Schutz für sich nutzen und daraus eine Taktik machen können, ist neu und schreckenerregend. Darauf waren die Frauen nicht vorbereitet.
Die Lage und die physische Integrität von Frauen im öffentlichen Raum zu gefährden, indem man sie anmacht, um ihr die Handtasche zu stehlen, ist zweifellos eine Premiere, das hat es noch nicht gegeben, und jetzt ist es ein Risiko. Diebstahl und sexuelle Nötigung zugleich, das ist Erpressung, eine Art mafiöse Erpressung. Es ist eine Mafia, die eine Vorform der Zuhälterei ausübt.
Der Nervenkrieg ist dabei nicht zweitrangig, er spielt eine große Rolle. Man muss die Dinge situativ betrachten, da gibt es eine Arbeit zu leisten, auch die Frauen untereinander. Was tun? Was ist die Antwort? Wie kann man sich darauf vorbereiten, auf dem Terrain zu reagieren?
Das Geschehen hat schließlich politische und demografische Gründe, für die wir nichts können. Millionen Menschen, 4 Millionen oder mehr, fliehen aus Syrien, das Mittelmeer ist voller Leichen, darunter Frauen und Kinder. Ist es verwunderlich, dass es unter 4 Millionen Menschen auch Dreckskerle gibt? Denken wir uns 4 Millionen Franzosen. Sind das alles Helden?

Das waren nicht nur Syrer! Und nicht nur Flüchtlinge! Das haben die Ermittlungen erbracht.
Sicher, es gab auch Menschen aus Mittel- und Osteuropa darunter.

Tausend Männer, und es ist die Rede von 14 Algeriern, 9 Marokkanern, und man weiß nicht, wer die anderen 800–900 waren.
Das ist das Milieu einer Kultur, die potenziell ebenso mafiös ist wie die Kultur von Katholiken oder Muslimen oder auch von gänzlich kulturlosen Menschen. Es ist die männliche Beutekultur, die sich in der Geschichte immer wieder und unter kulturell und religiös extrem unterschiedlichen Bedingungen zeigt. Zur Zeit gehöre ich zu denen, die sagen: «Achtung, wir werfen nicht alle in einen Topf!» Ich denke, alle alteingesessenen katholischen französischen Zuhälter glauben, Frauen kann man rauben und vergewaltigen, auch dann, wenn man nicht betrunken ist, ganz selbstverständlich, das befleckt die «männliche Ehre» nicht.

Es erstaunt ja schon, dass wir nach nunmehr drei Wochen immer noch keine Klarheit darüber haben, was passiert ist, inwieweit das organisiert war, wer genau eigentlich diese Leute sind? Obwohl es mehrere hundert Anzeigen gab und Kameras rund um den Bahnhof. Da stellt man sich doch Fragen…
Absolut, und das macht mich ziemlich sprachlos. Man kann diese Gewalt unter den Teppich kehren, weil sie Frauen angetan wird. Das ist unerhört. Würde dieselbe Gewalt etwa einer Gruppe von Jugendlichen angetan, stünde alle Welt Kopf. Aber hier herrscht Schweigen, schmieriges, widerliches Schweigen, denn man will politisch korrekt sein und nichts Böses über die Migranten sagen; es wäre eine Katastrophe, wenn das verallgemeinert würde.
Das Tragische ist: Man erkennt, dass in diesem Schweigen die schmierige Seite des politisch Korrekten steckt. Wie im 19.Jahrhundert redet man nicht darüber, weil die Sache stört, sie bringt die Dinge durcheinander, und es ist ja wahr, dass wir selbst zwischen zwei Feuern gefangen sind: dem Zorn über die Stigmatisierung der Migranten und dem Zorn über den Anschlag auf die Frauenrechte. Das sind zwei Empörungen, die ich nicht überein bekomme im Moment. Es ist also naheliegend, dass das Ergebnis davon Sprachlosigkeit ist. Aber dass sich dieses Schweigen «inmitten einer Demokratie», in Deutschland, im Komfort der Fernsehwohnzimmer abspielt, ist für mich unerhört und wirft ein sehr problematisches Licht auf den Stellenwert, den Gewalt gegen Frauen genießt – sie wird ja nie als so gewalttätig empfunden wie die Gewalttaten gegen andere Bevölkerungsgruppen.

Wollte man die Frauen angreifen oder sie bestehlen? Was war zuerst da?
Beides gehört zusammen. Der zentrale Punkt ist, dass es eine Kultur von Männern, jungen Männern, gibt, die meinen, männliche Ehre habe etwas mit Gewalt und mit sexueller Potenz zu tun – das leitet sich nicht notwendig aus einer Religion ab, das findet man an vielen sehr unterschiedlichen Orten mit ganz heterogenen Glaubenssystemen und kulturellen Hintergründen.
Diese Männer glauben allen Ernstes, dass es nicht wider die männliche Ehre ist, wenn sie Frauen schlagen; sie glauben, dass die Frau zu Hause bleiben muss und dass die, die sich draußen aufhalten – mit Ausnahme ihrer Mutter und Schwester –, Huren sind. Deshalb dürfen sie. In unserer Kultur ist das anders. Studien zeigen, dass man bei uns denkt, Frauen schlagen, das ist nicht ehrenhaft, er tut es, wenn er getrunken hat, danach geht er zum Suchtspezialisten, weil er sich schämt. Verbrechen an Frauen werden unsichtbar, wenn die Frau als Wesen vorgestellt wird, das eine solche Behandlung verdient, dann braucht man keine Gewissensbisse zu haben. Das ist der springende Punkt. Das hat mit Religion nichts zu tun, das findet man auch in Frankreich, bei vielen Banden.
Das 19.Jahrhundert war fürchterlich für die Frauen: All die Biografien von vergewaltigten Frauen, die in die Stadt kommen, sich im 6.Stock (dem Dienstmädchenzimmer) einrichten, dieses ganze Leben als Dienerin mit den vielfältigen Gewalttaten, die sie erleiden mussten. Die Geschichte der Frauen ist voller Horrorgeschichten, und die Dunkelziffer der Verbrechen gegen Frauen im Schoß der Familie, am Arbeitsplatz…, die nie ans Tageslicht kommen, ist enorm.
Ich habe von der Freiheit auszugehen gesprochen, man muss sie aber ins Bild rücken. In der traditionellen französischen Kultur, die vom 19.Jahrhundert geprägt ist, geht ein junges Mädchen nicht allein auf einen Ball. Wenn sie da allein hingeht, selbst in Begleitung ihres Bruders, bricht die Welt zusammen, sie riskiert den Tod. Ausgehen, um sich zu amüsieren, ist in traditionellen Gesellschaften für Mädchen und Jungen eine sehr unterschiedliche Erfahrung. «Lasst eure Hähne raus, ich pass auf meine Hennen auf.»
Es gibt dieses alte Jungfräulichkeitstabu, das Frauen daran gehindert hat auszugehen. In den unteren Bevölkerungsschichten, bei den Bauern und den Arbeitern, genießen Frauen selbst im 19.Jahrhundert sehr viel mehr Freiheiten als Frauen aus dem bürgerlichen Milieu. Die werden viel mehr eingeschlossen, eben um diesen wertvollen Schatz zu erhalten, um ihre Sexualität in legitime Bahnen lenken zu können und die physiologische, kulturelle, soziale Reproduktion und die Reproduktion des Eigentums in Übereinstimmung zu bringen. In den unteren Bevölkerungsschichten spielt dieser Aspekt keine so große Rolle.
Die Freiheit, von der ich gesprochen habe, ist eine sehr konkrete: nicht die Freiheit, auf den Markt zu gehen oder vom Jahrmarkt zurückzukommen, sondern die Freiheit für junge Frauen, ihr «Junggesellinnendasein» in der Weise begraben zu können, wie es die Männer taten und tun – ohne Männer und um sich nochmal richtig zu amüsieren. Am Abend, in der Nacht tanzen gehen. Das ist eine besondere, außergewöhnliche Freiheit; sie ist heute möglich, weil damit viel weniger kulturelle und moralische Risiken verbunden sind, der Verlust der Jungfräulichkeit bedeutet keine identitäre Katastrophe mehr. Das ist vorbei und wir weinen dem keine Träne nach. Doch diese Freiheit ist nicht ein für allemal gesichert, sie ist das Ergebnis einer ganzen Reihe von Faktoren und hängt auch mit anderen Freiheiten zusammen: der Freiheit zu gehen, zu reisen, sich die Nacht, den Tag anzueignen…
Es herrscht auch immer noch keine volle Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Man sieht viel weniger junge Mädchen nachts allein auf der Straße als junge Männer. Von dieser Freiheit spreche ich. Sie hängt vollständig vom gegebenen soziokulturellen System ab, aber auch davon, dass es Fortschritte in der Demokratie gibt.

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