Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2016
Analyse statt Projektion
von Manuel Kellner

Der Sinologe Ingo Nentwig ist tot. Er starb am 30.Januar im Alter von 55 Jahren. Er war ein extrem belesener undogmatischer Kommunist. Über seinem Haus in Rödinghausen in Ostwestfalen wehte die rote Fahne, es gleicht einer öffentlichen Bibliothek.
Sein Blick auf die VR China war durchaus kritisch, aber es war kein Blick von außen: «China ist nicht nur das bevölkerungsreichste und drittgrößte Land der Erde, dessen wirtschaftliche und internationale politische Bedeutung in den letzten Jahren rasant gewachsen ist und aller Wahrscheinlichkeit nach weiter wachsen wird, es ist leider auch ein Land, das in der Medienöffentlichkeit mehr Projektionsfläche von Wünschen oder Befürchtungen als Gegenstand rationaler Analyse und sachkundiger Darstellung ist: enttäuschte Träume alt-neulinker Maoisten, esoterische Heilserwartungen der Yin-Yang- und Daoismus-Fans und dumpfe Ängste vor einer neuen ‹Gelben Gefahr›, die durch ihr Wirtschaftswachstum (z.B. Öl- und Stahlverbrauch, Textilexporte, Umweltverschmutzung) ‹unseren› Wohlstand gefährdet.»
Ingo Nentwig war seit August 2015 Vorsitzender der Bildungsgemeinschaft SALZ (Soziales, Arbeit, Leben und Zukunft), er schrieb für die junge Welt, so, wie er früher für den Arbeiterkampf, die Zeitung des Kommunistischen Bundes (KB), geschrieben hatte. Er war ein über die Maßen solidarischer, liebenswürdiger, hilfsbereiter und selbstloser Mensch. Bei Kontroversen wurde er niemals verletzend. Mit wem soll man heute in engerer politischer Solidarität kooperieren? Da nannte Ingo Nentwig diejenigen, die sich als kommunistisch verstehen in der Tradition der III., aber auch der IV.Internationale.
Sein letzter Vortrag im Rahmen der Bildungsarbeit von SALZ e.V. behandelte die Frage der internationalen Solidarität unter den heute weltweit gegebenen Bedingungen. Ich erinnere mich an seine mit Sarkasmus vorgetragene These, der IS halte dem Westen sein (zumindest in Deutschland) von Karl May geformtes Bild vom grausamen Orient vor, etwa wenn in Im Lande des Mahdi II Abu Hamsah Miah als «Vater der Fünfhundert» gefürchtet wird – gemeint waren 500 Peitschenhiebe.
Ingo Nentwig hat zu vielen Themen Chinas geschrieben, unter anderem zur Bedeutung und Bewertung der Kulturrevolution, zum Schamanismus in mündlichen Überlieferungen Nordostchinas (Thema seiner Dissertation 1994), zur Ethnologie und oder zur Nationalitätenpolitik in der Volksrepublik. In China unternahm er zahlreiche Feldforschungen, außerdem war er Gastdozent an der Zentralen Nationalitätenuniversität in Peking. Unvergessen bleiben seine Anekdoten, hier ein Beispiel: Der Premier der VR China von 1949 bis zu seinem Tod 1976, Zhou Enlai, wird von einem französischen Journalisten gefragt, was er denn so von der Großen Französischen Revolution von 1789 halte? Antwort: «Es scheint mir noch etwas zu früh zu sein, das zu bewerten.»
Ist China nun kapitalistisch oder steht es im «Anfangsstadium des Sozialismus», wie die dort herrschende Partei meint? «Alle diese Themen sind in der hiesigen öffentlichen Diskussion mit starken Emotionen, oft mit Vorurteilen belastet, bedürften aber, je wichtiger China wird, einer um so nüchterneren, sachkundigen Betrachtung», forderte Ingo Nentwig.

Erschienen in der jungen Welt vom 3.2.2016

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