von espresso.repubblica.it*
Der Semiotiker und Schriftsteller schreibt seinem Enkel. Mit Überlegungen zur Technologie und einem Rat für die Zukunft: nämlich die «Vispa Teresa» [ein Gedicht von Luigi Sailer]**, die Aufstellung der Fußballmannschaft vom AS Rom oder die Namen der Domestiken der drei Musketiere auswendig zu lernen. Denn das Internet kann weder das Wissen noch unser Gehirn ersetzen.
Mein lieber kleiner Enkel,
ich möchte nicht, dass dieser Brief zu sentimental daherkommt und Ratschläge über Nächstenliebe, das Vaterland, die Welt und all sowas erteilt. Du würdest nicht zuhören und zum Zeitpunkt, wo du das in die Praxis umsetzt (du erwachsen und ich nicht mehr da), wird sich das Wertesystem so sehr verändert haben, dass meine Empfehlungen sich vermutlich als veraltet herausstellen.
Daher will ich mich mit einer einzigen Empfehlung begnügen, die du jetzt schon in die Praxis umsetzen kannst, während du auf deinem iPad surfst, und ich werde mich davor hüten, dir davon abzuraten, nicht weil ich wirken würde wie ein mürrischer Greis, sondern weil ich es auch tue. Ich kann dir höchstens empfehlen, solltest du dabei zufällig auf die Hunderte Pornoseiten stoßen, die auf vielfältigste Art den Verkehr zwischen zwei Menschen oder zwischen einem Menschen und einem Tier zeigen: Versuch nicht zu glauben, dass das Sex ist, im übrigen ziemlich eintönig, denn das ist eine Inszenierung, die dich zwingt, das Haus nicht zu verlassen, um die echten Mädchen anzuschauen. Ich gehe davon aus, dass du heterosexuell bist, falls nicht, passe meine Ratschläge deinem Fall an: Aber schau dir die Mädchen an, in der Schule oder wo du spielen gehst, denn die wirklichen sind besser als die im Fernsehen und eines Tages werden sie dir mehr Befriedigung bereiten als die, denen du online begegnest. Glaub dem, der mehr Erfahrung hat als du (wenn ich Sex nur am Computer angeschaut hätte, wäre dein Vater nie geboren und wer weiß, wo du dann wärst, mehr noch, dich gäbe es gar nicht).
Darüber wollte ich mit dir nicht sprechen, sondern von einer Krankheit, die deine Generation und selbst die schon etwas Älteren ereilt hat, die womöglich schon zur Universität gehen: der Verlust der Erinnerung.
Es stimmt schon, wenn du wissen möchtest, wer Karl der Große war oder wo Kuala Lumpur liegt, musst du nur einige Tasten drücken, und das Internet sagt es dir sofort. Tu das, wenn es nützlich ist, aber wenn du es getan hast, versuch dich zu erinnern, wovon die Rede war, damit du nicht gezwungen bist, ein zweites Mal zu suchen, solltest du das dringend benötigen, zum Beispiel für eine Aufgabe in der Schule. Es besteht nämlich die Gefahr, dass du den Wunsch verlierst, das in deinem Kopf zu speichern, weil du denkst, dein Computer kann dir das in jedem Moment sagen. Das wäre ein wenig so, als wenn du meintest, nachdem du gelernt hast, dass es Busse oder die U-Bahn gibt, die dir erlauben, mühelos von der Straße X zur Straße Y zu kommen (was sehr bequem ist, tu es ruhig immer, wenn du in Eile bist), du brauchtest nicht mehr zu gehen. Aber wenn du nicht genug gehst, wirst du «behindert», wie man diejenigen nennt, die sich im Rollstuhl fortbewegen müssen. Gut, ich weiß, dass du Sport treibst und deinen Körper zu bewegen weißt, aber kehren wir zurück zu deinem Gehirn.
Das Gedächtnis ist ein Muskel wie die Beine, wenn du es nicht trainierst, rostet es ein und du wirst (geistig) behindert, d.h. – reden wir Klartext – ein Idiot. Und weil darüber hinaus für alle das Risiko besteht, an Alzheimer zu erkranken, wenn man alt wird, ist das ständige Training des Gedächtnisses ein Mittel, dieses unerfreuliche Geschick zu vermeiden.
Hier also meine Diät. Lerne jeden Morgen einige Strophen, ein kurzes Gedicht oder, wie wir es mussten, «La Cavallina Storna» [von Giovanni Pascoli] oder «Il sabato del villaggio» [von Giacomo Leopardi] auswendig. Und vielleicht eiferst du ja mit deinen Freunden um die Wette, wer sich besser erinnern kann. Wenn dir Gedichte nicht gefallen, lerne die Aufstellungen von Fußballmannschaften, aber Achtung, du musst nicht nur wissen, wer die Spieler vom AS Rom heute sind, sondern auch die der anderen Mannschaften und vielleicht auch die Mannschaften der Vergangenheit (stell dir vor, ich erinnere mich an die Aufstellung vom AC Turin, als ihr Flugzeug bei der Basilica von Superga [1949] abgestürzt ist, mit allen Spielern an Bord: Bacigalupo, Ballarin, Marosi etc.). Mach Gedächtniswettbewerbe, etwa zu den Büchern, die du gelesen hast (wer war an Bord der Hispaniola auf der Suche nach der Schatzinsel? Lord Trelawney, Kapitän Smollet, Doctor Livesey, Long John Silver, Jim…). Schau, ob deine Freunde sich daran erinnern, wer die Domestiken der drei Musketiere und von D’Artagnan waren (Grimaud, Bazin, Mousqueton und Planchet)… Und wenn du nicht Die drei Musketiere lesen willst (du weißt nicht, was du versäumst), tu es halt mit einer der Geschichten, die du gelesen hast.
Es scheint ein Spiel (und es ist ein Spiel), aber du wirst sehen, wie dein Kopf sich mit Personen, Geschichten und Erinnerungen jeder Art bevölkert. Du wirst dich gefragt haben, warum die Computer früher elektronische Gehirne genannt wurden: Das ist, weil sie nach dem Vorbild deines (unseres) Gehirns konzipiert worden sind, aber unser Gehirn hat mehr Verbindungen als ein Computer, es ist eine Art Computer, den du immer mit dir trägst und der wächst und durch Übung gekräftigt wird, während der Computer auf deinem Tisch an Geschwindigkeit verliert, je länger du ihn benutzt, und nach ein paar Jahren musst du ihn austauschen. Dein Gehirn hingegen kann 90 Jahre alt werden, und mit 90 Jahren wird es sich (wenn es in Übung gehalten wurde) an mehr Dinge erinnern als du heute. Und das gratis.
Dann gibt es das historische Gedächtnis, das nicht die Tatsachen deines Lebens betrifft oder die Dinge, die du gelesen hast, sondern das, was geschehen ist, bevor du geboren wurdest.
Wenn du heute ins Kino gehst, musst du um eine bestimmte Uhrzeit reingehen, wenn der Film beginnt, und sobald der Film begonnen hat, nimmt dich jemand sozusagen an die Hand und sagt dir, was geschieht. Zu meiner Zeit konnte man jederzeit das Kino betreten, auch in der Mitte der Vorführung, man kam rein, während Dinge passierten, und man versuchte zu verstehen, was vorher geschehen war (wenn der Film dann wieder von vorne losging, sah man, ob man richtig gelegen hatte – abgesehen davon, dass man sitzenbleiben und ihn noch einmal anschauen konnte, wenn einem der Film gefallen hatte). Das Leben ist wie ein Film zu meiner Zeit. Wir treten ins Leben, wenn viele Dinge schon geschehen sind, seit Hunderttausenden von Jahren, und es ist wichtig zu lernen, was geschehen ist, bevor wir geboren wurden; es dient dazu, besser zu verstehen, denn heute geschehen viele neue Dinge.
Nun müsste dir die Schule (über deine persönliche Lektüre hinaus) beibringen, zu erinnern, was vor deiner Geburt geschehen ist, aber man sieht, dass sie das nicht gut macht, denn verschiedene Umfragen sagen uns, dass die Schüler von heute, auch die, die schon die Universität besuchen, wenn sie zufällig 1990 geboren sind, nicht wissen (und vielleicht auch nicht wissen wollen) was 1980 passiert ist (ganz zu schweigen von dem, was vor 50 Jahren geschah). Statistiken sagen uns: Wenn man Leute fragt, wer Aldo Moro war, antworten sie, das war der Chef der Roten Brigaden – dabei wurde er von den Roten Brigaden umgebracht.
Reden wir nicht über die Roten Brigaden, sie bleiben für viele etwas Geheimnisvolles, und doch waren sie vor über 30 Jahren Gegenwart. Ich bin 1932 geboren, zehn Jahre nach der Machtergreifung des Faschismus, aber ich wusste sogar, wer zu Zeiten des Marsches auf Rom (was ist das?) Ministerpräsident war. Vielleicht hat mir das die faschistische Schule beigebracht, um mir zu erklären, wie dumm und böse dieser Minister war («der feige Facta»), den die Faschisten abgesetzt haben. Gut, aber wenigstens wusste ich es. Und dann, abgesehen von der Schule, weiß ein Junge von heute nicht, wie die Schauspielerinnen vor zwanzig Jahren hießen, während ich wusste, wer Francesca Bertini war, die in den Stummfilmen zwanzig Jahre vor meiner Geburt gespielt hat. Vielleicht weil ich in der Abstellkammer in unserem Haus in alten Zeitschriften geblättert habe, aber ich lade dich eben ein, in alten Zeitschriften zu blättern, denn es ist eine Art zu erfahren, was geschehen ist, bevor du geboren bist.
Aber warum ist es so wichtig zu wissen, was früher geschehen ist? Weil das, was früher passiert ist, dir oftmals erklärt, warum bestimmte Dinge heutzutage geschehen, und in jedem Fall ist es eine Art, wie bei der Aufstellung der Fußballmannschaften, unser Gedächtnis zu bereichern.
Merke, das kannst du nicht nur mit Büchern und Zeitschriften tun, sondern sehr wohl auch mit dem Internet. Das kann man nicht nur nutzen, um mit Freunden zu chatten, sondern auch um mit der Weltgeschichte zu chatten. Wer waren die Hethiter? Und die Kamisarden [Hugenotten in den Cevennen]? Und wie hießen die drei Karavellen von Kolumbus? Wann sind die Dinosaurier verschwunden? Konnte Noahs Arche ein Steuer haben? Wie hieß der Vorfahre vom Ochsen? Gab es vor hundert Jahren mehr Tiger als heute? Was war das Königreich von Mali? Und wer hingegen sprach vom Reich des Bösen? Wer war der zweite Papst in der Geschichte? Seit wann gibt es Mickey Mouse?
Ich könnte ewig weiter machen, und das wären alles schöne Rechercheabenteuer. Und an alle kann man sich erinnern. Es wird der Tag kommen, an dem du alt bist und dich fühlst, als hättest du tausend Leben gelebt, denn es wird dir vorkommen, als seist du bei der Schlacht von Waterloo dabeigewesen, oder bei der Ermordung von Julius Cäsar, und nicht weit weg von dem Ort, an dem Berthold Schwarz aus Versehen das Schießpulver entdeckte, als er versuchte herauszufinden, wie man Gold herstellt, und dabei in die Luft geflogen ist (und das geschah ihm recht). Freunde von dir, die ihr Gedächtnis nicht trainiert haben, werden hingegen nur ein Leben gelebt haben, ihr eigenes, das ziemlich melancholisch und arm an großen Emotionen gewesen sein wird.
Pflege also dein Gedächtnis, und lerne von morgen an «La Vispa Teresa» auswendig.
** Die im folgenden genannten Gedichttitel stammen von italienischen Dichtern des 19.Jahrhunderts und gehören zur Schullektüre.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.