Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2016
Rekrutierungserfolg für Jihadisten hausgemacht?
von Mauro Gasparini*

«Jetzt ist es passiert». Viele Einwohner von Brüssel hatten dieses Gefühl am 22.März, als die terroristischen Attentate die belgische Hauptstadt trafen, so sehr hatten Medien und Politik die Gemüter darauf vorbereitet. Schon im November 2015 hatten Regierung und Geheimdienste für ganz Brüssel wegen «unmittelbarer Gefahr im Verzuge» den Belagerungszustand verhängt, womit alles städtische Leben vier lange Tage erlosch – das war ein regelrechter Großversuch in Sachen Ausnahmezustand. Seitdem hat die Armee die Vorherrschaft über die Straßen von Brüssel und anderer großer Städte wie Antwerpen übernommen.

Das Timing für die Attentate in Brüssel konnte nicht perfekter sein: Die diffuse Angst in der Stadt einige Tage nach der Verhaftung von Salah Abdeslam, einem der Hauptverdächtigen der Pariser Attentate, wurde damit erneut geschürt. Hätte es eines weiteren Beweises bedurft, dass die «Anti-Terror-Strategie» der belgischen Regierung zum Scheitern verurteilt ist, dann hat ihn der 22.März in ebenso tragischer wie spektakulärer Weise geliefert. Die auf dem Flughafengelände von Zaventem und in der Metro präsenten Soldaten konnten nichts tun, um die Anschläge zu verhindern.

Etwas ist faul im Königreich
Der IS hat Flughafen und Metro zum Angriffsziel erkoren, weil der wirtschaftliche Schaden durch die zeitweise Lahmlegung des Flughafenbetriebs und die psychologische Wirkung einer Explosion in der Metro mitten im europäischen Viertel von Brüssel besonders groß sind. Hinzu kommt, dass Brüssel als internationale multikulturelle Stadt und als Hauptstadt Europas symbolische Bedeutung hat. Im übrigen ist Belgien Teil der internationalen Koalition gegen den IS im Irak, und sehr viele Menschen aus Belgien, inzwischen über fünfhundert, haben sich in Syrien dem IS oder der Al-Nusra-Front angeschlossen.

Brüssel ist sehr multikulturell, in Belgien zugleich von großem ökonomischem Gewicht und der arme Verwandte. In der Brüsseler Region gibt es eine Erwerbslosenquote von 20%, in ganz Belgien sind es 8,5%. 25% der Einwohner von Brüssel sind arm. Die soziale Selektion im Schulsystem ist völlig entfesselt, dieses funktioniert wie ein Markt, wird zudem zur Hälfte von der katholischen Kirche kontrolliert, aber aus Steuergeldern finanziert. Jedes Jahr wird die Bedeutung dieser katholischen Säule des Staates beim Nationalfeiertag demonstriert, wo der Premierminister und der König gemeinsam an der katholischen Zeremonie des Te Deum teilnehmen.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Absichten, die Politiker und Leitartikler mit ihrer Agitation für Säkularität und insbesondere gegen das Tragen von Kopftüchern verfolgen, noch fragwürdiger. Das ist nichts als eine islamophobe Hetze, mit der Muslime stigmatisiert und diskriminiert werden sollen. Es gibt kaum noch Schulen, an denen Kopftücher getragen werden dürfen. Molenbeek, seinerzeit von der sozialdemokratischen PS regiert, war übrigens der erste Stadtteil, der das Kopftuchverbot beschlossen hat.

In Belgien hat ein junger Mann marokkanischer oder kongolesischer Herkunft dreimal weniger Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden, als ein junger Belgier ohne Migrationshintergrund. Hinzu kommt: Im Gegensatz zu den großen Städten in Frankreich liegen die sozialen Brennpunkte Brüssels nicht am Rande, sondern mitten in der Stadt: Nur zehn Minuten Fußweg trennen Molenbeek von der noblen Flaniermeile Rue Dansaert im Zentrum. In den armen Vierteln wie Schaerbeek, Saint-Josse, Anderlecht, Saint-Gilles und Molenbeek gibt es eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit, in einigen Fällen liegt sie über 50%, und das, obwohl viele junge Leute mit Migrationshintergrund heute mehr Abschlüsse und Diplome haben als der Durchschnitt aller jungen Leute in Belgien. Hinzu kommt die unaufhörliche Schikanierung der Jugendlichen durch die Polizei in manchen Stadtvierteln. Verbale und physische Angriffe auf Eingewanderte mit muslimischer Kultur haben in den letzten Jahren ebenfalls stark zugenommen.

Der Humus
So verwundert es nicht, dass es Gruppen wie dem IS und vergleichbaren rechtsextremen Jihadisten gelungen ist, ein paar Dutzend als Kämpfer für sich zu rekrutieren, und zwar – im Gegensatz zum entstandenen Klischee – keineswegs nur in Molenbeek. Hauptrekrutierungsfeld für den IS ist vielmehr die Hochburg des flämischen Kommunitarismus und Nationalismus, Antwerpen. In Verviers, im wallonischen Teil Belgiens im Osten des Landes, wurde im Januar 2015 eine Terrorzelle ausgehoben, es sind auch viele andere Städte innerhalb und außerhalb Belgiens im Zusammenhang mit diesen Ermittlungen genannt worden.

Im Verhältnis zur Einwohnerzahl «liefert» Belgien die meisten jihadistischen Kämpfer in Syrien. Attentäter wie Medhi Nemmouche, der einen Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel verübt hat, oder Amedy Coulibaly, der in unserem Land Waffen gekauft hat, bevor er im vergangenen November den Anschlag auf den jüdischen Supermarkt Hyper Casher verübte, haben in Belgien gelebt oder sind durch Belgien gezogen. Zwei, die an den Attentaten von Paris beteiligt waren, haben in der Brüsseler Region gelebt.

Der ganze geschilderte Kontext legt nahe: Normalerweise sind die Motive dafür, sich dem IS anzuschließen, nicht religiöser Natur. Rekrutiert wird mittels gut ausgetüftelter Propaganda im Internet oder auf der Straße. Die verschiedenen Personen, die in Europa Anschläge verübt haben, weisen kein einheitliches Profil auf, weder in sozialer noch in religiöser Hinsicht. Abdelhamid Abaaoud zum Beispiel, der an den Anschlägen von Paris beteiligt gewesen sein soll, hat das ziemlich prestigeträchtige Gymnasium St.Pierre in Uccle besucht, aber keine Moscheen.

Viele dieser Jihadisten machen eine Identitätskrise durch, manche streben nach Ruhm und Bedeutung, sind auf der Suche nach einer Sache, für die es sich lohnt zu kämpfen. Andere wollen für sich eine Art von Selbstreinigung, ein Purgatorium. Manche derjenigen, die in den sehr unmenschlichen Gefängnissen Belgiens gefangen waren – und die Mehrheit der Gefangenen entstammen der Bevölkerung ehemaliger Kolonien, obwohl die Kriminalitätsrate in dieser Bevölkerungsschicht nicht höher ist als im Durchschnitt – finden sich danach in den Todescamps des IS und vergleichbarer terroristischer Organisationen wieder.

Kollektive Emotionen und politische Konsequenzen
Es ist der strukturelle Rassismus in den europäischen Gesellschaften und die von den USA und ihren europäischen Verbündeten, in jüngerer Zeit aber auch von Russland geführten imperialistischen Kriege im Nahen und Mittleren Osten und die fortgesetzte Unterdrückung des palästinensischen Volkes, die die Propaganda des IS und anderer islamistischer Gruppierungen nähren. Die Alternative wäre eine Politik der Prävention, der gegenseitigen Hilfe, der Interkulturalität in Partnerschaft mit den Bevölkerungen der verschiedenen Stadtteile – ganz das Gegenteil also zu dem repressiven Sicherheitsarsenal, das in den letzten Wochen in Brüssel aufgefahren wurde.

Die Stimmung in der Bevölkerung und in der Politik ist polarisiert. Auf der einen Seite gibt es beeindruckende Kundgebungen der Solidarität wie am 22.März auf dem Börsenplatz in Brüssel, wo sich Männer und Frauen, abhängig Beschäftigte, Jugendliche, Kinder verschiedenster Herkunft und kultureller Hintergründe zusammengefunden haben. Alle haben die Attentate verurteilt, sich aber gleichzeitig gegen die Ausweitung von Hass und religiösen Spaltungen gewandt, die die Attentate ja bezwecken.

Auf der Seite der Regierung ist es die N-VA (Neu-Flämische Allianz), die am stärksten den provokativen rassistischen Diskurs pflegt. Ihr Vorsitzender Bart De Wever versichert, dass er «Hass verspürt, weil diese Leute [die Attentäter] in ihren Gemeinden auch noch Unterstützung finden». Jan Jambon, führender N-VA-Mann und Innenminster, tut sich immer wieder als verbaler Brandstifter hervor. Er hat zum Beispiel behauptet, die «Mehrheit der Muslime» habe nach den Attentaten vor Freude «getanzt».

Die Regierungskoalition von Premierminister Charles Michel verschärft nicht nur den Marsch in den Starken Staat, sondern nutzt auch die Gunst der Stunde, um neoliberale Konterreformen weiter voranzutreiben, etwa durch den Angriff auf die 38-Stunden-Woche und den Achtstundentag. Geplant sind auch Angriffe auf die Beamtenpensionen, die Versorgung der chronisch Kranken und auf die verbliebenen Normalarbeitsplätze zugunsten weiterer Prekarisierung.

* Mauro Gasparini ist Mitglied der LCR-SAP (belgische Sektion der IV.Internationale).

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