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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2016
Die Ära PT geht zu Ende
von Bea Whitaker, João Machado*

Am 17.April stimmte die Abgeordnetenkammer des brasilianischen Parlaments für die Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Roussef von der regierenden PT (Arbeiterpartei).

Brasilien macht eine tiefe institutionelle Krise durch, die größte seit dem Ende der Diktatur. Die Regierung Roussef ist ernsthaft beschädigt und gelähmt, das trifft aber auch auf die wichtigsten Institutionen der bürgerlichen Demokratie zu. Führende Persönlichkeiten des Parlaments sind in die Operation Lava Jato** verwickelt, darunter Eduardo Cunha, der Vorsitzender der Abgeordnetenkammer, gegen ihn läuft ein Gerichtsverfahren. Gegen die Vorsitzenden der traditionellen Parteien, sowohl der Regierung als auch der rechten Opposition (darunter die PMDB, die Partei von Cunha und von Vizepräsident Michel Temer, die jüngst die Regierung verlassen hat), laufen Ermittlungsverfahren.

In den staatlichen Institutionen herrscht großes Chaos, die Justiz ist auf allen Ebenen gespalten. Die Krise der Glaubwürdigkeit und des Modus operandi der bürgerlichen Demokratie ist immens, erste Anzeichen davon zeigten sich 2013 in massiven Streiks und spontanen Mobilisierungen der Jugend.

Brasilien macht eine akute politische Krise durch, gleichzeitig gibt es eine schwere ökonomische, soziale und Umweltkrise. Diese umfassende Krise resultiert in Erwerbslosigkeit, Inflation, Einfrieren der Löhne, Zusammenbruch des öffentlichen Dienstes, Umweltkatastrophen und Umweltverbrechen: all dies bezeichnet symbolhaft das Scheitern eines Entwicklungsmodells. Das «Wachstums»modell, das während der Amtszeit Lulas angenommen wurde, hat zusammen mit der Durchsetzung neoliberaler Anpassungspolitik und der Rezession eine anhaltende Stagnation hervorgebracht. Was auch immer kurzfristig das Ergebnis sein wird: mittelfristig ist jedenfalls eine fortgesetzte Akkumulation von Krisen mitsamt ihren sozialen und politischen Spannungen zu erwarten.

Die PT-Ära geht zu Ende. Die Möglichkeiten, das exportorientierte «neoextraktivistische» Wachstumsmodell aufrechtzuerhalten, sind erschöpft. Selbst wenn der Lulaismus wegen der starken Polarisierung zwischen den beiden Lagern [pro und contra Amtsenthebung von Dilma Roussef] politisch überleben sollte, kann die von ihm entwickelte Strategie, gleichzeitig Unternehmer, Agrobusiness und Finanzkapital zu fördern und den ärmsten Schichten Konzessionen zu machen, politisch und moralisch nicht mehr als Linksschwenk erscheinen. Obwohl über 100000 Menschen in den Straßen von São Paulo gegen die Amtsenthebung demonstrierten, fordert Lula die Vertreter des Kapitals weiter auf, ihm zu vertrauen, er garantiere den sozialen Frieden. Dies ist das Ende eines langen Zyklus der brasilianischen Linken.

Aufstieg der Rechten
In dieser politischen Polarisierung, die sich in den zwei Jahren Dilma-Regierung entwickelt hat, sind in der brasilianischen Gesellschaft rechte Ideen und Stimmungen aufgetaucht. Man ist auf der Suche nach einem Retter, einem Bonaparte, der fähig ist, die Korruption zu stoppen.

Das Anti-PT-Spektrum ist in zwei Teile gespalten: ein liberaleres und ein konservativeres,  zwischen beiden gibt es zahlreiche Überschneidungen. Einige Bewegungen mit liberalem Charakter wie die Bewegung Freies Brasilien (MBL) und Vem Para Rua (Komm auf die Straße) sowie reaktionärere Bewegungen, einschließlich einiger religiöser Führer und mancher Befürworter einer Rückkehr zur Militärdiktatur wie Bolsonaro, zeigen, dass sie zunehmenden Einfluss ausüben können.

In diesem Kontext ist es zu Gewaltakten und Hasspropaganda gegen die Linke im allgemeinen gekommen. Medien stacheln zum Hass auf und manipulieren Informationen, manchmal tragen sie direkt oder indirekt zu Gewalttaten bei.

Die Krise der alten Regierungslinken, die eine unpopuläre und repressive Politik (besonders an der Peripherie der großen Städte) gegen junge Leute und Schwarze durchgesetzt hat, und die Offensive einer intoleranten Rechten und deren Hasspropaganda zeigen Auswirkungen auf die Linke und auf sozialistische Ideen insgesamt. Es braucht eine Periode der Reorganisierung der Massenbewegung und einen neuen Zyklus, um ein linkes Projekt zu rekonstruieren.

Junge Menschen erfahren heute Erwerbslosigkeit, Gewalt, fehlende öffentliche Dienstleistungen und fehlende demokratische Rechte. Sie identifizieren sich mit keinem der beiden Lager, die sich heute bekriegen, was ihre geringe Beteiligung an den Mobilisierungen im März erklärt.  Die progressiveren Sektoren der Gesellschaft und die «proletarische» Basis des früheren historischen Blocks um die PT hingegen demonstrierten massiv für die Verteidigung der demokratischen Freiheiten, trotz zahlreicher Kritiken an der Regierung wegen ihrer unpopulären ökonomischen Maßnahmen und ihrer offensichtlichen Korruption.

Probleme der radikalen Linken
Die antikapitalistische und sozialistische Linke tut sich schwer, mit der gegenwärtige Lage in Brasilien umzugehen. Eine Regierung, die aus der Arbeiterbewegung kommt und von breiten Volksschichten getragen wurde, ist dabei, von der Rechten gestürzt zu werden, deren Hauptagenten die Justiz, die Opposition im Parlament und die Medien sind, wobei der Medienkonzern Globo den Ton angibt.

Diese Regierung ist im freien Fall, sie ist keine progressive Regierung mehr, sondern eine Regierung, die eine neoliberale Anpassungspolitik vertritt und unter dem politischen Druck nur noch weiter nach rechts geht: mit Antiterrorgesetzen, der Ankündigung von Lohnkürzungen, Angriffen auf den öffentlichen Dienst, Rentenkürzungen und der Aussicht, die Anpassung des Mindestlohns an die Teuerungsrate auszusetzen.

Die Maßnahmen begünstigen eindeutig die Interessen des Kapitals, dennoch sind sich Unternehmerverbände und Medien einig, dass Dilma Roussef nicht in der Lage sein wird, ihre Pläne so umzusetzen, dass sie wieder Stabilität gewinnt. Deshalb halten sie es für notwendig, sie zu ersetzen.

Die Massenmobilisierungen vom 13.März (für die Absetzung Dilmas) und vom 18. und 31.März (gegen die Absetzung Dilmas) waren in den verschiedenen Städten und Regionen recht unterschiedlich zusammengesetzt. Die Mobilisierungen vom 31. März, an denen sich im ganzen Land 700000 Menschen beteiligten, richteten sich global gegen die Absetzung der Präsidentin, forderten Demokratie und das Ende der antisozialen Politik der Regierung. Trotzdem ist eine große Mehrheit der Bevölkerung für den Rücktritt der Präsidentin, die Regierung hat ihre Mehrheit in der Bevölkerung verloren.

Die Möglichkeit eines neuen Staatsstreichs wie 1964 steht nicht auf der Tagesordnung. Doch die starken religiös-fundamentalistischen Einrichtungen, einflussreiche oligarchische Gruppen und die mit der Waffenindustrie und verschiedenen Polizeikräften verbundenen Sektoren stehen für rückschrittliche Projekte und den Versuch, Errungenschaften der Vergangenheit zu annullieren.

Neuwahlen
Zu Beginn der Untersuchungen über die Korruption wurden Geschäftsleute und rechte Persönlichkeiten verhaftet, ob sie nun zur Regierung gehörten oder nicht. Aber die anhaltende institutionelle Krise hat eine Atmosphäre geschaffen, in der dank der Operation Lava Jato alles erlaubt ist – auch mit absurden undemokratischen juristischen Verfahren gegen Beschuldigte, die dem Regierungslager zugeordnet werden. Das geschieht in Abstimmung mit allen größeren Medien und der rechten Opposition. Die allgemeine Empörung über die Korruption der PT hilft der Mehrheit der Kräfte, die das Kapital repräsentieren, für einen Regierungswechsel zu arbeiten, ohne dass es zu einem demokratischen Wandel im politischen Regime kommt.

Die Periode, die nun begonnen hat, ist ein schwieriger Übergang, da eine sozialistische Linke fehlt, die ausreichend einflussreich ist, um selbst Trägerin einer Alternative zu werden. Die Partei für Freiheit und Sozialismus (PSOL) wird in den sozialen Kämpfen respektiert und interveniert in Bereichen der Jugend und verschiedenen Milieus von Unterdrückten; bei Wahlen bekommt sie mehrere Millionen Stimmen. Sie ist die Hauptpartei der sozialistischen Linken. Sie ist aber noch nicht in der Lage, eine reale Alternative zur PT-Regierung zu präsentieren, obgleich sie sich als linke Opposition darstellt: gegen die Konzessionen der Regierung an das Kapital, gegen die Privilegien der herrschenden Klasse, gegen die Korruption. Natürlich unterstützt sie absolut nicht die Manöver der Rechten zum Sturz von Dilma Roussef.

Tatsächlich wird das Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin vom Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha von der PMDB angeführt, der selbst in die Ermittlungen gegen Petrobras und in eine Reihe von Verbrechen verwickelt ist. Gleichzeitig unternehmen Medien und Justiz zahlreiche Anstrengungen, die Verwicklung führender Persönlichkeiten der rechten Opposition in die Korruption zu vertuschen, darunter Mitglieder der PMDB (die gerade die Regierung verlassen hat), zu der auch Vizepräsident Michel Temer gehört.

Selbst wenn das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma über «normale» oder juristische Kanäle laufen würde, müsste Temer daran gehindert werden, die Führung des Landes zu übernehmen. Einige Mainstream-Medien, die jetzt zum Anti-PT-Lager gehören, fordern deshalb die Absetzung von Dilma und Temer. Nach Meinungsumfragen würde Temer bei Präsidentschaftswahlen nur 1% der Stimmen erhalten. Der Ausweg aus der Krise liegt in Neuwahlen zur Präsidentschaft und zum Parlament.

Konkrete Kampagnen gegen die Angriffe der Konservativen auf die sozialen Rechte, gegen Polizeigewalt, gegen die Sparpolitik müssen von realen Bewegungen vorangetrieben werden werden, mit konkreten Forderungen, die den sozialen Rückhalt der sozialistischen Linken stärken. In diesem frühen Stadium einer Reorganisation sollten Initiativen für den Aufbau neuer Instrumente der Einheit der linken Opposition gestartet werden, die von der Regierung unabhängig sind.

* Bea Whitaker und João Machado sind Mitglieder der PSOL.

** Operation Lava Jato wird die polizeiliche Ermittlung gegen die Korruption und Geldwäsche beim halbstaatlichen brasilianischen Ölkonzern Petrobras genannt, in die bedeutende Unternehmer und Politiker verwickelt sind.

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