von Ingo Schmidt
Es ist still geworden um die BRICS. Investmentbankern galten sie vor wenigen Jahren als Wachstumsmärkte, Globalisierungskritiker sahen sie als eine politisch regulierte Alternative zum Neoliberalismus, Antiimperialisten als Gegenmacht zu US-Imperialismus und NATO. Das Ende zweistelliger Wachstumsraten in China und die damit verbundene Abschwächung der Rohstoffnachfrage, die Brasilien, Russland und Südafrika einige Jahre saftige Exporterlöse verschafft hatten, haben den unterschiedlichen Mutmaßungen über die BRICS ein Ende bereitet.
Europäisches Sozialmodell und BRICS
Ähnlich erging es vor etwas längerer Zeit dem Europäischen Sozialmodell. Wie den BRICS wurde auch ihm nachgesagt, es stelle eine Alternative zur deregulierten Marktwirtschaft in den angelsächsischen Ländern dar. Das von sozialdemokratischen Intellektuellen entwickelte Argument: Dem Zwang zur Kostensenkung in einer globalisierten Welt könne sich niemand entziehen, der Versuch, durch Deregulierung der Arbeitsmärkte und Sozialabbau mit den Löhnen in China und anderen Ländern des Südens zu konkurrieren, sei allerdings aussichtslos. Zu groß sei das Nord-Süd-Gefälle bei den Löhnen. Vielversprechender sei es, Sozialpartnerschaft und Sozialstaat als Produktivkraft anzuerkennen. Gut ausgebildete, sozial abgesicherte und von ihren Chefs respektierte Arbeiter seien viel produktiver als von ihren Bossen herumgeschubste und unterbezahlte Proleten. Über das Zurückstutzen einiger Auswüchse des Sozialstaats müsse natürlich trotzdem geredet werden.
Insbesondere diesen letzten Hinweis griffen sozialdemokratische Politiker in der Folge der von den USA ausgehenden Finanz- und Wirtschaftskrisen 2001 und 2008/2009 gerne auf und drückten Kürzungsprogramme durch, die konservative Regierungen zwar stets für notwendig befunden, praktisch aber lieber vermieden hatten. Gerade als der von den USA, nicht zuletzt zur Sicherung ihrer weltpolitischen Dominanz, vorangetriebene Dollar-Wall-Street-Kapitalismus an seine Grenzen stieß und sich das Konstrukt Europäisches Sozialmodell in der Praxis als überlegene Form gesellschaftlicher Organisation hätte beweisen können, schalteten Regierungen quer durch Europa auf Sparpolitik und Privatisierungen um. Dabei wurden die Sozialstaaten Kontinentaleuropas soweit abgeschliffen, dass Unterschiede zu den rudimentären Sozialstaatsmodellen Großbritanniens und der USA kaum mehr zu erkennen sind.
Angesichts der vom angelsächsischen Finanzkapitalismus ausgehenden Krisen und des neoliberalen Zurechtstutzens des Europäischen Sozialmodells kamen die BRICS gerade recht. International operierenden Investoren versprachen sie Rendite, Kritiker des neoliberalen Kapitalismus entdeckten sie als politische Alternative.
Beide lagen daneben. Unbegrenztes Wachstum ist in den BRICS ebenso wenig ausgebrochen wie in den zur New Economy erklärten USA der 90er Jahre. Staatsquoten von 30,8% in China, 27,2% in Indien und 33,2% in Südafrika legen zudem nahe, dass zumindest einige der BRICS dem neoliberalen Ideal einer staatenlosen Wirtschaft näher sind als die USA mit 36,2% oder Deutschland und Großbritannien mit Werten von 44,3% bzw. 43,9%. Solche Zahlen wurden während des Booms in den BRICS-Staaten von konservativen Intellektuellen angeführt, um die angebliche Gefährdung eines staatlich erdrosselten Westens durch die unbändige Entfaltung der Marktkräfte im Süden zu illustrieren. Den kulturpessimistischen Ton dieser Warnungen muss man nicht mögen, und in Brasilien, Russland und Südafrika ist erstmal Rezession bzw. Stagnation statt Aufschwung angesagt. Trotzdem waren die Konservativen auf einer richtigen Spur.
Geopolitik und neue Regionalmächte
Die BRICS, weniger als Block denn je für sich, haben westliche Machthaber daran erinnert, dass es Staaten gibt, die sich weder nach Belieben in die vom Westen gestrickten Zwangsjacken supranationaler Organisationen wie die WTO stecken, noch ohne unkalkulierbare Risiken militärisch angreifen lassen. Daran ändert auch das Ende des Booms in den BRICS-Staaten nichts. Die Doha-Verhandlungen sind maßgeblich am Widerstand der Brasilianer gescheitert, die einer weiteren Öffnung ihrer Märkte nur im Gegenzug zum Abbau des Agrarprotektionismus des Westens zustimmen wollten. In Afghanistan und Irak hatten verschiedene Koalitionen der Willigen erfahren müssen, dass der Sieg im Kalten Krieg sie nicht in die Lage versetzt hatte, nach Belieben westlich orientierte Regimes zu installieren. Trotz gelegentlichem Säbelrasseln gegenüber China und Russland – militärische Auseinandersetzungen mit den Regionalmächten des Südens bzw. Ostens sucht der Westen zu vermeiden.
Clintons Globalisierungsprojekt, das von den Europäern nach Kräften unterstützt wurde, ist unvollendet geblieben. George W. Bushs noch ambitioniertere Pläne für ein New American Century ist komplett gescheitert. Als sich im Herbst 2008 die fast ein Jahr zuvor in den USA ausgebrochene Immobilienkrise zu einer Weltwirtschaftskrise auswuchs, wurden die G20, bis dahin eine wenig beachtete Runde der reichen und aufstrebenden Länder dieser Welt, zum Koordinationszentrum der Krisenabwehr. Überraschend effektiv einigten sich die beteiligten Regierungen, darunter die brasilianische, chinesische, indische und russische, auf Nachfrageprogramme, um den Ausfall privater Nachfrage im Weltmaßstab auszugleichen.
In der Not wurde lediglich eine bis dahin weitgehend verdrängte Wahrheit anerkannt: Es gibt Regionalmächte, mit denen man auch schon mal auf Augenhöhe verhandeln muss. Mit denen es allerdings auch Konflikte auf Augenhöhe gibt, wie insbesondere der offen ausgetragene Streit zwischen den USA und Europa auf der einen und Russland auf der anderen Seite zeigt. Weder Russland noch China, von den anderen BRICS ganz zu schweigen, haben Ambitionen, die USA als globale Führungsmacht abzulösen.
Solange die Europäer auf transatlantischem Kurs bleiben, sich also keinen Träumen eines Europäischen Sozialmodells mit eigenen weltpolitischen Ambitionen hingeben, dürfen sie sich ihrer Rolle als Juniorpartner der Weltmacht halbwegs sicher sein. Allerdings müssen sie diese Rolle auch schon mal mit den Emporkömmlingen des Südens teilen. Für die USA, deren globale Führungskraft durch die militärischen Desaster in Irak und Afghanistan und von der Wall Street ausgehende Wirtschaftskrisen arg gebeutelt wurde, ergeben sich dadurch sogar mehr Handlungsoptionen als in der Vergangenheit. Diese nutzen sie, um sich mit den transatlantischen bzw. transpazifischen Freihandelspartnerschaften TTIP und TPP als Dreh- und Angelpunkt des Welthandels bzw. seiner Regeln zu etablieren – unter Ausschluss der entscheidenden BRICS-Staaten. China, der wichtigste Pazifikanrainer, bleibt beim TPP ebenso außen vor wie Russland beim TTIP.
Neue Arbeiterklassen im Süden
Die weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Auswirkungen der Etablierung der BRICS als Regionalmächte haben eine Zeitlang großes Interesse auf sich gezogen. Weitgehend unbeachtet blieb dagegen eine viel tiefgreifendere Entwicklung: die Entstehung neuer Arbeiterklassen. Allein der Eintritt von mehr als 800 Millionen chinesischen und knapp 500 Millionen indischen Arbeitskräften in den Weltmarkt hat das weltweite Arbeitsangebot seit den frühen 90er Jahren fast verdoppelt. Während im Westen seit langem über das Verschwinden der Arbeiterklasse in einer postindustriellen Gesellschaft diskutiert wird, in Osteuropa real existierende Arbeiterklassen im Zuge massiver Deindustrialisierung verschwunden sind, haben sich im Süden neue Industriezentren und Arbeiterklassen gebildet. Die «postindustrielle Frage», ob Beschäftigte in verschiedenen Dienstleistungsberufen zur Arbeiterklasse gehören, stellt sich dort nicht. Arbeiterklasse und Fabrikarbeit sind dort zwei Seiten einer Medaille.
Extrem harte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne in den zumeist gewerkschaftsfreien Exportproduktionszonen haben in den letzten Jahren in den «BICS» (Russland muss man hier ausnehmen) zu einer Reihe spontaner Streiks und mitunter auch zu neuen Ansätzen gewerkschaftlicher Organisation geführt. In China sind die Staatsgewerkschaften zwar allgegenwärtig, werden von Arbeitern aber fast durchgängig als verlängerter Arm des Managements angesehen. Nur vereinzelt geben sie unabhängigen Arbeiterkämpfen Rückdeckung.
Längere Zeit wurden solche Kämpfe vom Wirtschaftsaufschwung in den BRICS begünstigt. Steigende Beschäftigtenzahlen geben Arbeitern das Gefühl wachsender Stärke. Mit dem Ende des Aufschwungs sind die Arbeitskämpfe härter und bitterer geworden. Konfrontiert mit zunehmenden Absatzproblemen setzen Kapitalisten den Forderungen der Arbeiter stärkeren Widerstand entgegen, während letztere nicht mehr nur um Lohn und Arbeitsbedingungen, sondern zunehmend auch um den Erhalt ihrer Arbeitsbedingungen kämpfen.
Schon während des Aufschwungs hat das Eindringen von Agrar- und Rohstoffkonzernen in ländliche Gebiete, in denen noch vorwiegend Subsistenzproduktion betrieben wurde, Millionen Menschen vertrieben und damit einen Überschuss potenzieller Arbeitskräfte geschaffen, der weit über die zur Niedrighaltung der Löhne notwendige industrielle Reservearmee hinausgeht. Außer in China, wo zweistellige Wachstumsraten den meisten dieser vom Land Vertriebenen Arbeitsplätze verschaffen konnten und wo der Wohnsitzwechsel vom Land in die Stadt politisch begrenzt wird, haben sich in anderen Ländern des Südens riesige Slums und informelle Sektoren herausgebildet.
Neue Zentren der Kapitalakkumulation und neue Arbeiterklassen sind Inseln in einem Meer des Massenelends, in dem der Mangel so groß ist, dass kein für die Kapitalakkumulation notwendiger Überschuss der Produktion über den unmittelbaren Verbrauch entstehen kann. Europas herrschende Klassen, die zu Zeiten der Industrialisierung im 19.Jahrhundert mit einer ähnlichen Situation konfrontiert waren, verschifften einen erheblichen Teil der damaligen Überschussbevölkerung in ihre Siedlerkolonien bzw. in die USA. Dieses Ventil haben die heutigen Herrscher im Süden nicht. Daher nehmen neben den Kämpfen in den neuen Zentren der Kapitalakkumulation auch die Konflikte um den Zugang zu Subsistenzmitteln in den umliegenden ländlichen Regionen und Slums zu.
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