Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2016
Welche Schäden werden damit angerichtet? Ein Beitrag zur Debatte

von Tino Plancherel*

Es ist eines der ältesten und irrationalsten Dogmen der radikalen Linken: Im Namen des Internationalismus vertritt sie die Forderung «offene Grenzen für alle», also den weltweit freien Personenverkehr ohne jede Differenzierung und Einschränkung.

Das wichtigste theoretische Prinzip des revolutionären Sozialismus besteht darin, dass alle Probleme der Welt und der Gesellschaft von einem sozialen, also einem Klassenstandpunkt aus betrachtet werden sollten. Bleiberecht für alle, kein Mensch ist illegal und ähnliche Parolen drücken jedoch eine klassenneutrale Herangehensweise aus.

Vor wenigen Wochen wurde in einer renommierten Nachrichtensendung beiläufig erwähnt: In der Zentralafrikanischen Republik mit 5 Millionen Einwohner gibt es noch einen einzigen Kinderarzt. Andere Pressequellen berichten: Kamerun hat in den letzten zwanzig Jahren etwa 4000 Ärzte verloren, Rumänien allein im Jahr 2012 1600 Ärzte, Bulgarien und Griechenland jeweils mehrere tausend Ärzte. Zwischen Januar und August 2012 verließen 11<k20>0<k0>000 Bürgerinnen und Bürger Griechenland, davon waren über 70 Prozent Akademiker.

In Deutschland kommt ein Arzt/eine Ärztin auf rund 300 Einwohner, in Kamerun ein Arzt auf 10.000 (auf dem Land auf 30.000) Personen. In vielen anderen Ländern wie dem Kongo gibt es einen Arzt für jeweils 50.000 Menschen. Wissen die eurozentristisch verblendeten Vertreter der absoluten Personenfreizügigkeit eigentlich, was das für die Menschen in Kamerun, Rumänien und anderen Ländern konkret bedeutet? Es bedeutet allein in Kamerun jedes Jahr für Zehntausende von Menschen den Tod und für weitere Hunderttausende von Menschen schreckliches Leiden. Man stelle sich das am eigenen Leibe vor, die Verzweiflung, wenn man krank wird und es nirgendwo einen Arzt und auch keine Schmerzmittel gibt!

Nicht bedachte Folgen

Die Forderung nach offenen Grenzen für alle, insbesondere deren Erhöhung zu einer absoluten und faktisch übergeordneten Forderung, hat für die radikale Linke geradezu perverse Konsequenzen:

1. Die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung der ärmeren Länder auf allen Kontinenten, sei es in Kamerun, Rumänien oder Griechenland, ist ein viel höheres Gut als die Personenfreizügigkeit von Akademikern, also etwa der kamerunischen Ärzte, die in die Schweiz kommen und dort, je nach Qualifikation, zwischen 130.000 und 450.000 Euro im Jahr verdienen. Unbeabsichtigt stellt die eurozentristische Haltung der Linken die sozialistische Ethik auf den Kopf.

2. Die Position "offene Grenzen für alle" verwirft explizit jede Differenzierung in politische Flüchtlinge, Kriegsflüchtlinge, Klimaflüchtlinge, religiöse Flüchtlinge, Flüchtlinge aus spezifisch humanitären Gründen (z.B. Frauen, die vor der archaischen Tradition der Geschlechtsbeschneidung fliehen) oder Flüchtlingen aus so genannten wirtschaftlichen Gründen. Die Weigerung zu differenzieren hat vor allem eine Konsequenz: Sie verunmöglicht uns politische Initiativen von minimaler gesellschaftlicher Relevanz. Es gibt auf der Welt 2-3000 Millionen Menschen, die in großer Armut leben und somit potentiell zu "Wirtschaftsflüchtlingen" werden können. Offene Grenzen für alle?

Die Aufgabe einer revolutionären Politik ist es, zu sich akuten gesellschaftlichen Problemen Vorschläge und Forderungen zu entwickeln, die in ihrer Dynamik in die richtige Richtung, d.h. an die Wurzeln des Problems gehen. Die Verschiebung von Millionen Menschen in die kapitalistischen Zentren geht ganz und gar in die falsche Richtung und wäre, wenn sie denn umsetzbar wäre, eine Symptom- und keine Ursachenbekämpfung, die zudem noch brandgefährliche Nebenwirkungen aufweist. Es ist nicht unsere Aufgabe, weltfremde Forderungen aufzustellen, an deren Umsetzbarkeit wir selbst nicht glauben. Nicht einmal eine hypothetische Regierung der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa würde das umsetzen können und wollen.

3. Unsere Aufgabe wäre die Ursachen und Zusammenhänge der Migration und Flucht konkret aufzuzeigen, die Schuldigen zu attackieren und Forderungen zu popularisieren, die der Fremdenfeindlichkeit entgegenwirken und für den fortschrittlichen deutschen Lohnabhängigen im Prinzip als umsetzbar erscheinen. Das könnte zurzeit so aussehen: Wir nehmen eine oder auch zwei Millionen syrische Kriegsflüchtlinge auf, solange das Land sich im Kriegszustand befindet und sorgen für Bedingungen, die eine maximale Selbstorganisation der Flüchtlinge ermöglichen (z.B. sofortiger Schulunterricht der Kinder, nicht nur auf deutsch, sondern auch in ihrer Muttersprache). Das würde soundsoviel Milliarden Euro kosten, die wir aufbringen durch eine Extrasteuer (etwa auf Devisengeschäfte), aus dem Rüstungsetat, aus der Einsparung der Milliarden, die wir nicht dem türkischen Regime geben wollen usw. Aber sobald der Krieg in Syrien beendet ist, sollen die Leute zurück in ihr Land, um es wieder aufzubauen, was wir mit soundsoviel Milliarden unterstützen.

Es ist unsinnig und keine Lösung, halbe Völker in Deutschland langfristig ansiedeln zu wollen und das müssen wir auch sagen. Eine solche Politik, die Klartext spricht und nicht opportunistisch ist, würde uns den Zugang nicht zur Mehrheit, aber zu breiteren Kreisen vor allem der prekarisierten Lohnabhängigen schaffen.

Vorrang für politische Flüchtlinge

4. Die Weigerung, zwischen verschiedenen Kategorien von Flüchtlingen zu differenzieren, hat den Abbau des politischen Asylrechtes faktisch erleichtert. Die politischen Flüchtlinge, die Menschen, die sich in ihren Ländern oft unter großen Opfern oder gar Lebensgefahr für eine gerechtere Gesellschaft einsetzen, sollten – jawohl – Vorrang haben. Der massive privilegierte Ausbau des Asylwesens für politische Flüchtlinge sollte die Hauptstossrichtung der Linken sein, was natürlich im Widerspruch zu einer Politik der offenen Grenzen für alle steht.

Oft hört man das Argument: Wenn du in deinem Land hungern würdest, würdest du auch gehen, also was sollen diese Differenzierungen? Ich habe um das Jahr 2000 fünf Jahre lang in Flüchtlingszentren gearbeitet und war direkt oder indirekt an der Betreuung von schätzungsweise 8000 Flüchtlingen aus zirka 40 verschiedenen Ländern beteiligt. Ich habe keinen einzigen Menschen gesehen, der emigrierte, um dem Hunger zu entfliehen. Jeder der die Migration kennt, weiß, dass die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung aus peripheren Staaten aus verschiedenen Gründen, die hier nicht erläutert werden können, praktisch nie Teil der Migration sind.

Zu sagen, alle Migranten sind Menschen und damit basta, mag die Philosophie von religiösen Menschen sein, ist aber keine sozialistische Position und im Kern pseudo-humanistisch. Ein Beispiel, um das zu verdeutlichen. Zu meiner Zeit gab es Tausende von Flüchtlingen aus dem Kosovo, alles junge Männer, die grosse Mehrheit glühende Anhänger der halbfaschistischen UCK. Keine Einzelerscheinung, mindestens ein Drittel der Migranten und Flüchtlinge haben ein verdrehtes, durch und durch reaktionäres Weltbild und haben genauso wenig Respekt vor den elementaren Menschenrechten wie „unsere“ Reaktionäre. Das kann man nicht einfach ausblenden!

Auch deshalb ist Differenzierung notwendig. Mit der Fokusierung auf das politische Asylrecht und auf spezifische Kampagnen wie im Fall Syriens könnte man viel besser und korrekter in das gesellschaftliche Geschehen eingreifen. Sich auf keine sozialen und ideologischen Differenzierungen der Migrations- und Flüchtlingsbewegung einzulassen, weil dies angeblich eine Spaltungspolitik beinhalte, zeugt von Realitätsverlust – und gerade dies begünstigt die Fremdenfeindlichkeit und die Rechte und ermöglicht es einer Merkel, sich als Humanistin darzustellen.

* Der Autor war zuletzt politisch tätig in der NaO Berlin.

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