Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2016
Gefühlte Überforderung
von Violetta Bock, Rolf Euler und Angela Klein

Tinos Beitrag wiederholt unter dem Strich zwei wesentliche Forderungen der Konservativen in der Asylpolitik: Flüchtlinge müssen kontingentiert werden und sie müssen hierarchisiert werden, sprich: Sie werden eingeteilt in solche, die man bevorzugt, und solche, die sich hinten anstellen müssen. Er tut das mit verständlichen humanitären Argumenten (die gebildete Schicht wird im eigenen Land gebraucht) und setzt auch die Auswahlkriterien anders, das ändert aber nichts daran, dass die Sache am Ende auf dasselbe hinausläuft: verschärfte Grenzkontrollen bei uns und andere Mechanismen, um Menschen von der Flucht abzuhalten. Eine Abwehrpolitik.

Was wir an diesem Ansatz kritisieren, ist seine Nähe zur rechten Propaganda: «das Boot ist voll». Wenn ich den Fokus der Debatte auf die Frage der Kapazitätsgrenzen richte, dann unterhalte ich mich zwangsläufig darüber, was ich oder wir verkraften können, und nicht mehr darüber, warum diese Menschen fliehen, was das mit der Politik der uns Regierenden zu tun hat, was das mit dem globalisierten Kapitalismus und der sog. «neuen Weltordnung» nach dem Fall der Mauer zu tun hat. Die vielen Menschen hingegen, die «nur» aus humanitären Gründen helfen und dabei manchmal auch auf die Verantwortung eines Landes wie Deutschland mit seiner Geschichte und seinem Wohlstand verweisen, üben unmittelbarer und radikaler Kritik an den bestehenden Verhältnissen, als Tino das tut.

Wir verstehen auch die Forderung, einen Klassenstandpunkt einzunehmen, so, dass sie an uns gerichtet heißt: die Verhältnisse im eigenen Land umgestalten. Sie kann nicht so verstanden werden, dass wir den Menschen in den Fluchtländern vorschreiben, wie sie die Verhältnisse dort ändern müssten, um Fluchtgründe zu bekämpfen, welche die Eliten dort ja ebenfalls produzieren.

 

Tino macht zwei Fehler:

  1. Er betrachtet die Flüchtlingsfrage zuallererst aus der Sicht der Zurückgebliebenen in den Heimatländern und klammert an dieser Stelle die Frage nach den Verantwortlichen für die Fluchtbewegungen – nach den Fluchtursachen also – aus: Es ist die imperialistische Politik, die maßgeblich die Fluchtbewegungen verursacht. Tino gehört aber nicht zu den Zurückgebliebenen und lebt auch nicht in diesen Ländern. Er gehört zu, lebt und macht Politik in dem Land bzw. der Region der Welt, das/die einen hohen Anteil an den Fluchtursachen hat. Es ist eine Verirrung zu meinen, der revolutionäre Internationalist schwebe kraft seiner Anschauungen über seiner konkreten Existenz als Bürger eines sog. «entwickelten» Landes und könne die Welt gewissermaßen von einem staatenlosen Feldherrnhügel aus betrachten. Damit verwischt er die Fronten der Diskussion.

Es macht einen Unterschied, ob eine in zerbombten Städten und Dörfern zurückgebliebene Syrerin sagt: «Ich bleibe hier», oder ob ein in Frieden lebender Europäer sagt: «Vom Klassenstandpunkt aus solltest du nicht fliehen» – denn du bist Zahnarzt, oder Ingenieur oder anderes. Diese «Triage» wollen wir uns nicht leisten.

  1. Er nimmt anscheinend die bürgerliche Rechtfertigung für geschlossene Grenzen für bare Münze, die da sagt: 3 Milliarden Menschen leben in großer Armut und sind potenzielle Wirtschaftsflüchtlinge, die alle zu uns wollen. Die Zahlen sprechen hartnäckig eine andere Sprache: Von den 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, suchen zwei Drittel eine andere Bleibe im eigenen Land, der größte Teil des letzten Drittels lebt in den umliegenden Staaten. 2015 stellten in der EU 1,3 Millionen Menschen einen Asylantrag, wollen also zunächst hier bleiben. 1,3 Millionen auf 508 Millionen Einwohner – ist das eine Zahl, die überhaupt der Rede wert ist? Nach dem Krieg hat das territorial geschrumpfte Deutschland 14 Millionen Menschen aufgenommen – und nicht zu seinem Schaden. Sicher, das waren «Deutsche»…

Die angebliche «Überforderung» ist eine gefühlte, eine medial und von konservativen Kräften geschürte. Hat irgendjemand in Deutschland durch die Ankunft der Flüchtlinge im vergangenen Jahr eine ungewollte Einschränkung erfahren? Überfordert ist hierzulande einzig und allein die Bürokratie. Und das ist sie deswegen, weil es zur neoliberalen Staatsauffassung gehört, dass öffentliche Daseinsvorsorge – etwa günstiger Wohnraum oder Jugend- und Begegnungszentren – möglichst abgebaut und privatisiert werden soll. Diese Auffassung ist allerdings gescheitert, aber die Herrschenden haben daraus nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen.

Wir verweisen auch darauf, dass nach Art.13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte «jeder das Recht hat, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren». Flucht ist immer ein Zwang zu gehen. Das Menschenrecht auf Freizügigkeit sollte deshalb prioritär den Menschen zugute kommen, die gehen müssen, ganz gleich aus welchen Gründen. Ihr Recht wiegt mehr als das der 12 Millionen Touristen, die jährlich Berlin besuchen. Und, ja: Es gibt Menschheitsfragen, bei denen man den Klassenstandpunkt sehr konkret darauf abklopfen muss, wo er hinträgt: die Umweltzerstörung gehört dazu, die Frauenunterdrückung – und eben auch Flucht und Migration…

 

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