Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2016
Wie man damals damit umging
von Manfred Dietenberger

Der Zweite Weltkrieg war die Ursache für die größte Wohnungsnot in der deutschen Geschichte. In die zerbombten und oft schwer zerstörten Städte strömten Soldaten, Vertriebene, befreite KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und viele andere Menschen, die die Kriegswirren entwurzelt hatten.

Im Jahr 1945 waren etwa 20 Millionen Menschen obdachlos oder mussten in beschädigten Häusern und Wohnungen leben. Unter der sich daraus ergebenden katastrophalen Wohnungsnot litten besonders die Flüchtlinge. Flucht und Vertreibung waren in Europa die Quittung für den vorausgegangen Größenwahn der Nazis, für Reichspogromnacht und Okkupation, für SS-, Polizei- und Wehrmachtsmassaker an Polen, Balten, Russen, Weißrussen, Ukrainern und vor allen an den europäischen Juden, für Ghettos, KZ und Massenvernichtungslager.

Gablonz und Neu-Gablonz
Zur Illustration der schwierigen Situation hier zwei Beispiele: Im Jahre 1946 kamen in die 15000 Einwohner zählende, ehedem Freie Reichsstadt Kaufbeuren innerhalb nur weniger Monate 13000 aus dem nordböhmischen Gablonz verjagte oder zwangsumgesiedelte Sudetendeutsche. Diese massenhafte Aufnahme von Flüchtlingen war gewollt und verlief planmäßig. Wie das? Die Idee dazu hatte der Bürgermeister. Von den amerikanischen Besatzungsbehörden wäre er sowieso angewiesen worden, ein sehr großes Kontingent Flüchtlinge (damals wurde zwischen Flüchtlingen, Umsiedlern und Vertriebenen noch nicht unterschieden) in der Stadt aufzunehmen. Da machte er den spektakulären Vorschlag, die Bewohner des von den Tschechoslowaken eroberte Gablonz, seit Jahrhunderten ein berühmtes Zentrum für Glas- und Schmuckwaren, sollten alle nach Kaufbeuren «umgesetzt» werden.

Geplant, getan. Auf dem 300 Hektar großen Gelände, das während des Zweiten Weltkriegs zur Herstellung von Sprengstoff gedient hatte und Häftlinge zur Zwangsarbeit verpflichtete, bauten die hierher verbrachten hochqualifizierten Glasbläser und ihre Familien ein neues Wohn- und Industriegebiet. «Neugablonz» entwickelte sich nach und nach und bot nicht nur Arbeitsplätze für die Flüchtlinge, sondern auch für die «Alteingesessenen» – es mauserte sich zu einem boomenden Wirtschaftsstandort.

Und wie war die Lage in Stuttgart? Im Mai 1945 war auch hier der Krieg zu Ende, nach 53 Fliegerangriffen waren fast 70% der Gebäude zerbombt, Hunderttausende Wohnungen vollständig zerstört oder zumindest nicht mehr bewohnbar. Dennoch zogen bis 1946 rund 140000 Menschen in dieses in Schutt und Asche liegende Stuttgart. Wie dramatisch die Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg war, zeigt ein Interview mit dem damaligen Leiter des Stuttgarter Wohnungsamts, Geiger (Stuttgarter Zeitung vom 26.1.1946). Darin berichtet Geiger:

«In Stuttgart gibt es gegenwärtig rund 185000 bewohnbare Räume. Darin leben etwa 372000 Menschen. Theoretisch betrachtet müssten sich also immer zwei Stuttgarter ein Zimmer teilen. Mehrzimmerwohnungen, in denen nur eine Familie haust, wären demnach undenkbar. Noch deutlicher wird dieses Bild, wenn man die Einwohner- und Wohnraumzahlen von heute mit denen vom April letzten Jahres [1945] vergleicht. Damals standen für 230000 Einwohner 180000 Wohnräume zur Verfügung. Die Einwohnerzahl hat sich inzwischen um 140000 erhöht, die Zahl der vorhandenen Wohnräume dagegen nur um 5000. Selbst wenn man voraussetzt, dass in den 5000 inzwischen wieder instandgesetzten Wohnräumen 10000 Menschen untergebracht werden konnten, so bleibt doch immerhin noch ein beachtlicher Rest von 130000 Menschen, die nur in schon belegten Wohnungen untergekommen sein können. Die Stuttgarter sind also schon ganz erheblich zusammengerückt. Nun werden natürlich sofort viele Menschen, besonders die Wohnungssuchenden unter ihnen, protestieren und fragen, ja warum hat man denn 140000 Menschen nach Stuttgart zurückkommen lassen, wenn nur für 10000 Wohnraum da war? Wofür hat Stuttgart seinerzeit ein Zuzugsverbot erlassen? Das Wohnungsamt sieht sich unter solchen Verhältnissen vor heiklen Aufgaben. Es kann keine neue Wohnung herbeizaubern. Ganz gleich, was es auch anordnet, es muss immer in die persönlichsten Bereiche der einzelnen Einwohner eingreifen. Meistens erheben die Zurückkommenden natürlich Anspruch auf ihre frühere Wohnung. Oder sie weisen ein behelfsmäßiges Unterkommen bei Bekannten nach. Dort sitzen aber bereits Mieter und oft sogar wieder Untermieter. Nicht selten werden zunächst – um der Zuzugsgenehmigung willen – alle auftauchenden Bedenken zuzüglich des Zusammenlebens unterschätzt. Nachher stellt sich dann leider heraus, dass es auf die Dauer doch nicht so geht. Wenn der Hauptmieter bei seiner Rückkehr dem Wohnungsamt gegenüber auch erklärt hat, dass er mit seinem Untermieter auskommen wolle, so findet er häufig schon nach wenigen Wochen tausenderlei Gründe für das Gegenteil. Eines Tages steht der Untermieter dann doch wieder irgendwo auf einer Außenstelle des Wohnungsamtes: Einer von den 8000 in jeder Woche!»

Lastenausgleich
Es gelang in den folgenden Jahren die Flüchtlinge zu integrieren; die Wohnungsnot konnte nicht zuletzt durch den Bau von Hunderttausenden Wohnungen durch Wohnbaugenossenschaften wie die gewerkschaftseigene Neue Heimat usw. beseitigt werden.

Finanziert wurde die Integration der Flüchtlinge über den sogenannten Lastenausgleich. Der war heftig umstritten. Dennoch trat das «Gesetz über einen allgemeinen Lastenausgleich» am 1.September 1952 in Kraft. Westdeutsche, die einen Betrieb, ein Haus, Sparguthaben oder Aktien besaßen, sollten darauf eine Vermögensabgabe entrichten. Konkret hieß das, wer ein Haus besaß, das am Stichtag 100000 Mark wert war, sollte bis 1979 50000 Mark Vermögensabgabe entrichten. Der Lastenausgleich war eine der größten Umverteilungsmaßnahmen, die je in einem kapitalistischen Land stattgefunden hat. Übertragen auf heute könnte das nach Zahlen (von 2012) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) bedeuten: Zahlen sollen die reichsten 8% der Bevölkerung. Wenn auf jedes Vermögen in Deutschland, das 250000 (Ehepaare: 500000) Euro übersteigt, eine Abgabe von 10% erhoben würde, kämen 230 Milliarden Euro zusammen.

Ab den 60er Jahren wurde das «Flüchtlingsproblem» in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung abgelöst vom «Gastarbeiterproblem». Wieder fehlten bezahlbare Wohnungen. 1972 schrieb der Spiegel (17/1972) in seinem Report über Baden-Württemberg:

«Im Schlagschatten des Wohlstands leben im gastarbeiterreichsten Bundesland die meisten der über 800000 Ausländer (rund 10% der Bevölkerung). Tausende von Gastarbeiterkindern bleiben den deutschen Schulen fern, in denen es an Sonderklassen fehlt. Und kaum irgendwo werden Ausländer so schamlos ausgebeutet wie beim schwäbischen ‹Partner der Welt› (Stuttgarter Werbeslogan), wo sie für abbruchreife Altstadtunterkünfte bis zu 23 Mark Miete je Quadratmeter zahlen müssen. Doch nicht nur die Gastarbeiter – für die nach Berechnungen des Stuttgarter Arbeitsministeriums schon heute 90000 Wohnungen fehlen – bedrückt katastrophaler Raummangel. Im Zuwanderungsland Baden-Württemberg, wo Westdeutschlands größte Obdachlosensiedlung (in Mannheim) steht, wird laut Landesregierung der Wohnungs-‹Nachholbedarf erst 1980 beseitigt sein›.»

Neue Lage, alte Probleme
Weit gefehlt. Das «Gastarbeiterproblem» ist längst abgelöst von einem neuen «Flüchtlingsproblem». Wieder ist es zum guten Teil von der deutschen Politik mit verbockt, wieder fehlt es angeblich an allem, auch an Wohnungen. Das Flüchtlingsthema ist seit 1945 hierzulande ständig präsent. Schon damals ging es um Unterbringungsprobleme, Bürokratie und Wohnungsnot. Ein Radiofeature über das prekäre Leben der Flüchtlinge und Vertriebenen begann 1951 mit den Worten: «Waren Sie schon einmal in einem Flüchtlingslager? … Ich weiß nicht, ob Ihnen das bemerkenswert erscheint, aber in manchen Flüchtlingslagern gibt es bloß Vorhänge mit einem Bindfaden als Verschluss. Wissen Sie, das bedrückt die Menschen in Lagern am meisten: das Leben unter fremden Blicken, das pausenlose Dasein in der Masse am Tag und in der Nacht, ja.»

Das ist verdammt aktuell, wie auch das Zitat des Bundespräsidenten Theodor Heuss aus dem Jahr 1953: «Sorgt euch mit uns darum, dass man nicht nur die Arbeitskraft des Menschen sucht, sondern dass man den Menschen aufnimmt. Wer in der Verzweiflung floh, darf nicht in neue Verzweiflung stürzen. Er bedarf der liebenden Hand des Nächsten.»

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