Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2016
Vor 400 Jahren starb der Schöpfer des Don Quijote
von Alan Woods*

Miguel de Cervantes (1547–1616) ist der berühmteste Autor der spanischen Literatur. Als Romanschriftsteller, Dramatiker und Lyriker produzierte er ein umfangreiches Werk, doch heute ist er in erster Linie als Schöpfer des Don Quijote bekannt.

Cervantes wurde in Alacalá de Henares nahe Madrid in eine Familie des niederen Adels geboren. Sein Vater war Wundarzt, und den größten Teil seiner Kindheit verbrachte Cervantes damit, von Stadt zu Stadt zu ziehen, während sein Vater Arbeit suchte. Dieser war in Valladolid, Toledo, Segovia und Madrid wegen seiner Schulden berühmt, weshalb er mehrfach im Gefängnis landete.

Auf den ersten Blick bestand Cervantes’ Leben aus einer langen Reihe von Fehlschlägen: Er scheiterte als Soldat; er scheiterte als Dichter und Stückeschreiber. Später war er gezwungen, eine Anstellung als Steuereintreiber anzunehmen, aber auch sie endete im Desaster: Er wurde der Korruption beschuldigt und kam ins Gefängnis. Durch diese Erfahrungen lernte er unmittelbar eine große Bandbreite menschlicher Typen kennen und entwickelte einen scharfen Blick auf die Gesellschaft seiner Zeit.

Spanien zur Zeit von Cervantes
Spanien war eine Gesellschaft im Übergang. Die Union der Kronen von Aragón und Kastilien, die durch die Heirat von Ferdinand und Isabella erreicht wurde, schuf die Basis für die Einigung Spaniens und die Schaffung einer absolutistischen Monarchie. Der Fall von Granada (1492), des letzten maurischen Königreichs auf spanischem Boden, bildete den Schlussakt der mehrere Jahrhunderte währenden Reconquista. Dem folgte rasch die Entdeckung Amerikas und der Aufstieg Spaniens als die dominierende wirtschaftliche und militärische Macht Europas.

Als Cervantes geboren wurde, hatte Madrid nur 4000 Einwohner und war ähnlich groß wie Toledo, Segovia oder Valladolid. Der Aufstieg Madrids war ein Resultat der Rechte, die dem aufkommenden spanischen Bürgertum von den Königen Kastiliens und Leóns im Mittelalter gewährt worden waren. Im 14.Jahrhundert hatte Ferdinand IV. den Hof dorthin verlegt – wegen der Jagdreviere, des Klimas und des sauberen Wassers. Dadurch machte sich die Monarchie auch unabhängiger von der Kontrolle durch den Adel in den Provinzen.

Unter Philipp I. wurde der Aufbau eines gewaltigen absolutistischen Staatsapparats vollendet und perfektioniert. Madrid wurde aus einem schäbigen Provinzdorf in eine Stadt von 100000 Einwohnern verwandelt, angefüllt mit Kirchen, Kathedralen, Palästen und Botschaften. Für den Bau der Stadt wurden alle Wälder der Umgebung abgeholzt. Die Region, die bislang für ihre gute Luft und ihr reines Wasser berühmt war, wurde zu einem stinkendem Pfuhl. Die Straßen von Madrid waren dunkel, eng und voll von übelriechenden Abfällen, in denen Schweine herumwühlten. Der Madrider Hof war kaum besser und als der schmutzigste in ganz Europa bekannt.

Es war ein siedender Kessel gesellschaftlichen Wandels, in dem die alte Klassen schneller hinwegschmolzen, als neue sie ersetzen konnten. Der Verfall des Feudalismus hatte zusammen mit der Entdeckung Amerikas verheerende Auswirkungen auf die spanische Landwirtschaft. Anstelle einer produktiven Bauernschaft, die ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts verdiente, gab es nun eine Armee von Bettlern und Parasiten, ruinierten Aristokraten und Räubern, königlichen Bediensteten und Trunkenbolden, die alle bestrebt waren, ohne Arbeit zu leben.

Der Verfall begann an der Spitze. Inmitten all dieser Armut und dem ganzen Schmutz und Lärm war der spanische Hof einer der brillantesten in Europa. Hier gab es endlose Spektakel von Bällen, Maskeraden und Musik. Die königliche Familie lebte königlich – auf Kredit. Sie bezahlte kaum ihre Rechnungen. Etwas so vulgäres wie Geld war weit unter der Würde der Aristokratie.

Der parasitäre Adel lebte mit einer derartig notorischen Extravaganz, dass es erforderlich wurde, Gesetze gegen exzessiven Luxus bei Kleidung, Mobiliar und sogar Sätteln zu erlassen. Die Behörden sahen sich sogar gezwungen, prunkvolle Kleidungsstücke öffentlich zu verbrennen. Korruption war die Regel, ehrliche Beamte waren die Ausnahme. Kirche und Staat waren mit einer regelrechten Armee von Parasiten und Müßiggängern ausgestattet, die alle ihr Glück mit öffentlichem Geld machen wollten. Viele Amtsträger lebten unter prekären Bedingungen und waren für eine paar Reales bereit, ihre Großmutter zu verkaufen. Der Verkauf von Ämtern war die Norm. Besonders korrupte Minister wurden in skurrilen Versen verspottet, doch in der Regel schenkte dem Phänomen niemand viel Aufmerksamkeit, da es so verbreitet war, dass es als normal betrachtet wurde.

Philipp II. (1527–1598) erbte ein märchenhaft reiches Imperium, das jedoch auf einem unsicheren Fundament ruhte. In der Folge half er dabei, es weiter durch außenpolitische Abenteuer und Kriege zu untergraben. El Escorial war das Monument zu seinem seelenlosen bürokratischen Regime. Hier vermengte sich der Geist des engstirnigen Bürokratismus mit dem des religiösen Fanatismus: teils Palast, teils Kloster, teils Mausoleum, war El Escorial das Verwaltungszentrum des Imperiums. Hinter seinen hohen Mauern schwelgte Philipp II. in imperialen Fantasien, wobei die Gebäude ständig umgebaut und repariert wurden – unter Verwendung von Marmor und anderer teurer Materialien.

Der Adel imitierte begierig das Beispiel seines Monarchen und baute seine eigenen Paläste. Die explosive Bautätigkeit dezimierte das reiche Waldland, das die Region um Madrid bedeckte. Die grandiosen Pläne führten am Ende zum Bankrott. Ausgerechnet auf dem Gipfel seiner Macht und seines Reichtums verfiel Spanien dem Niedergang und der Verarmung. Ein Jahrhundert später war der stolze Hidalgo mit Löchern im Gewand, einer leeren Brieftasche und einem Familienstammbaum so lang wie die Liste seiner Schulden bereits literarischer Gemeinplatz.

Der Niedergang des Imperiums
Wenngleich Spanien die dominierende Macht in Europa war, lag seine gesellschaftliche Entwicklung hinter der Englands zurück, wo kapitalistische Verhältnisse bereits nach den Pestepidemien und den Bauernrevolten des späten 14.Jahrhunderts Einzug in die Landwirtschaft gehalten hatten.

Zu Beginn des 16.Jahrhunderts war der Kapitalismus auch in Spanien schon in Ansätzen vorhanden. Doch paradoxerweise führten die Entdeckung Amerikas und dessen massive Ausplünderung durch Spanien zur Erstickung dieser Ansätze. Die Flut von Gold und Silber aus den mit Sklavenarbeit betriebenen Minen der Neuen Welt untergrub die Entwicklung von Spaniens Landwirtschaft, Handel, Manufaktur und Industrie. Sie entfachte das Feuer der Inflation und schuf Elend statt Wohlstand.

Die aufstrebende Macht des englischen Kapitalismus stieß notwendigerweise mit dem spanischen Imperium zusammen. Die englische Krone forderte die spanische Vorherrschaft auf dem Meer heraus. Nach und nach etablierten Holland und England Stützpunkte in der Karibik und schufen damit die Basis für neue Imperien. Der Konflikt zwischen England und Spanien erreichte seinen Höhepunkt, als England den niederländischen protestantischen Rebellen, die sich gegen die spanische Herrschaft erhoben hatten, militärische Hilfe gewährte. Dies führte unvermeidlich zum Krieg.

Spaniens Macht erhielt einen heftigen Schlag und sein Stolz einen heftigen Dämpfer, als im Sommer 1588 die spanische Kriegsflotte, die Armada, einer Kombination aus schlechtem Wetter und englischer Feuerkraft unterlag. Über Nacht fand sich Spanien von der aufstrebenden englischen Macht gedemütigt. Die Niederlage hatte symbolischen Charakter – die alte Welt des feudalen Katholizismus war dabei, rasch von der aufstrebenden Macht des kapitalistischen Protestantismus im nördlichen Europa ersetzt zu werden.

Als Philipp II. zehn Jahre später starb, ging mit ihm auch das Zeitalter zu Ende, in dem Spanien das Schicksal der Welt bestimmte. Sein Sohn Philipp III. interessierte sich mehr für die Freuden der Jagd als für die Angelegenheiten des Staates und legte letztere in die Hände des Herzogs von Lerma. Der innere Verfall Spaniens wurde durch die Inkompetenz und Degeneration seines Königshauses noch beschleunigt. Doch die wirklichen Ursachen des Niedergangs lagen anderswo. Die königlichen Herrscher waren lediglich die passenden Charaktere in dieser Tragikomödie von senilem Verfall, Nepotismus und Korruption.

Die ungeheuren Reichtümer, die aus dem Lebenssaft eines ganzen Kontinents gesaugt worden waren, wurden rasch vom Hof und seinen aristokratischen Drohnen verschwendet. Jenseits der Mauern des Hofes gab es Elend, Verarmung und Verzweiflung.

Siglo de Oro und pikaresker Roman
Im 16. und 17.Jahrhundert war Spanien ein Hort von kultureller und gesellschaftlicher Aktivität. Im Land und in Übersee fanden Dinge statt, die die Fantasie aller Männer (und einiger Frauen) von Geist anfeuerten. Sie bildeten den gesellschaftlichen Hintergrund für Spaniens «goldenes Zeitalter», das siglo de oro. Niemals erreichten die spanische Literatur und Kunst solche Höhen wie in dieser Zeit, in der Könige und Adlige eine große Zahl von Dichtern, Romanciers und Malern höchster Qualität unter ihre Fittiche nahmen, unter ihnen Miguel de Cervantes, Lope de Vega, Francisco de Quevedo, Pedro Calderón und Tirso de Molina.

Es war die Periode, die das spanischste aller literarischen Genres hervorbrachte – den pikaresken Roman (Schelmenroman). Der picaro ist ein Schwindler, ein Spitzbube und Abenteurer, der von seiner Schläue lebt, denn er hat sonst nichts, von dem er leben könnte. Er ist die Figur der Periode des Verfalls des Feudalismus und des Übergangs, Strandgut einer Welt, die sich im Auflösungsprozess befindet. Der Niedergang der alten Ordnung führt zu einer chaotischen Situation, in der die alte Moral zusammenbricht, aber noch keine neue an ihre Stelle tritt: von daher der fröhliche moralische Nihilismus des picaro.

Dies ist der Boden, aus dem Lazarillo de Tormes und nicht zuletzt auch der Don Quijote hervorgingen. Als literarischer Stil entstand der pikareske Roman aus der Degeneration der Ritterromantik. Der Verfall des Feudalismus produzierte unvermeidlich eine Reaktion gegen seine Werte, Moral und Ideale. Diese Reaktion drückt sich in Ironie und Spott aus; eine überholte Anschauung ist per Definition lächerlich und daher eine Quelle von Humor.

Die Seiten dieser Literatur sind voller Leben und mit starken und lebhaften Persönlichkeiten gefüllt. Die Antihelden pikaresker Romane wie die des Lazarillo de Tormes sind eine Karikatur auf die Helden der Ritterromanzen.

Es war Marx, der hervorhob, dass Perioden großer historischer Umwälzung besonders reich an «Charakteren» sind. Dies gilt für Shakespeare wie für Cervantes. Das England Shakespeares wie das Spanien von Cervantes war im Griff einer großen sozialen und ökonomischen Umwälzung. Es war ein turbulenter und schmerzvoller Wandel, der eine große Zahl von Menschen ins Elend stieß und in den Städten eine große Klasse von Deklassierten und Besitzlosen schuf: Bettler, Diebe, Huren, Deserteure bildeten zusammen mit den Söhnen verarmter Aristokraten und ehemaliger Priester ein unerschöpfliches Reservoir für Charaktere wie Sir John Falstaff und Lazarillo de Tormes.

Auch die Seiten des Don Quijote sind voll mit Persönlichkeiten und Situationen, die dem großen Buch des Lebens selbst entnommen sind. Der Geist dieses Buches, mit seinem bodenständigen Realismus und fröhlichen Optimismus, ist eindeutig der des Renaissance-Humanismus und nicht der der Gegenreformation. Unsere Augen werden hier nicht zum Himmel gelenkt, sondern auf die Erde und all ihre Reichtümer. Sein Motto ist: «Nichts Menschliches ist mir fremd.»

* Gekürzt aus: www.marxist.com/don-quixote-cervantes150705.htm und www.marxist.com/don-quixote-cervantes2150705.htm.

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