Gespräch mit Theo und Elie
Jetzt hat auch Frankreich seine Bewegung der Plätze, ähnlich wie vor einigen Jahren Spanien und Griechenland, aber doch ganz anders. Das fängt schon damit an, dass die Nacht zum Tag gemacht wird und der Platz der Republik, von dem alles ausging, jeden Tag neu besetzt werden muss. Hindernisreicher als auf dem Syntagma-Platz oder der Puerta del Sol, aber auch mit größerem gesellschaftlichen Tiefgang, denn parallel dazu finden in verschiedenen gesellchaftlichen Bereichen Streiks und Besetzungsaktionen statt, die der Bewegung eine neue Dimension geben können, wenn es wirklich zu einer Konvergenz der Kämpfe kommt.
Wir befragten dazu zwei Aktivisten der Strömung Ensemble der Front de Gauche (Linksfront), die Nacht für Nacht in die Bewegung involviert sind. Theo ist 23 Jahre alt, studiert an der Universität Paris VIII, Saint Denis, und hat zugleich eine halbe Stelle, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Elie, ebenfalls 23 Jahre alt, ist Praktikant. Sie schildern, wie die Bewegung sich aufstellt und sich organisiert.
(Auf S.10 beschreibt unser Korrespondent Bernard Schmid den größeren gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem diese neue Protestbewegung steht.)
Nuit debout («Wache Nacht» oder «Nacht auf den Beinen)» erinnert an die Platzbesetzungen der Indignados in Spanien. Beruft ihr euch auf dieses Beispiel?
Man kann nicht sagen, dass es da einen direkten Bezug gibt, und die Meinungen darüber gehen in der Bewegung ziemlich weit auseinander. Ein Teil ist sicherlich von der Platzbesetzungsbewegung in Spanien geprägt worden, manche haben sogar daran teilgenommen und finden sich heute in Frankreich wieder.
Natürlich findet man Gemeinsamkeiten, angefangen mit der Idee, einen Platz zu besetzen. In Spanien, in Ägypten, auch in Griechenland, in etwas geringerem Maße in den USA, waren die Platzbesetzungen ein großer Erfolg. Sie haben breite Mobilisierungen der Bevölkerung für soziale Gerechtigkeit und Demokratie und eine tiefe Verankerung dieser Themen in den Köpfen ermöglicht. In Ägypten haben die Demonstrierenden sogar den Sturz von Mubarak erreicht. Diese Erfolge haben Nuit debout sicherlich inspiriert.
Wie ist diese Bewegung entstanden? Wer organisiert sie, wer nimmt teil? Wie viele nehmen teil?
Am Anfang stand der Erfolg des Films Merci Patron (Danke, Chef). Die Kinosäle waren bei den Vorführungen immer voll, danach gab es immer lange Diskussionen. Die Macher des Films wollten an diesen Erfolg anknüpfen und ihn vergrößern, indem sie etwas noch Breiteres lancieren, eine öffentliche Versammlung unter dem Motto «Leur faire peur» (Ihnen Angst machen). Tausend Leute haben daran teilgenommen und ihren Willen ausgedrückt, etwas gemeinsam zu machen, wofür aber eine Perspektive nötig war. Zusammen mit den Organisatoren dieser Versammlung kam dann die Idee auf, nach der Demonstration am 31.März nicht nach Hause zu gehen, sondern Nuit debout ins Leben zu rufen.
Diese Bewegung ist entstanden vor dem Hintergrund, dass sich aktive Gewerkschafter bei Goodyear gegen die Unterdrückung ihrer Gewerkschaft gewehrt haben, Lehrerinnen und Lehrer gegen die Konterreformen an den Schulen protestiert haben, Umweltschützer gegen den Bau des Flughafens von Notre Dame des Landes aufgestanden sind.
Es gab also von Anfang an die Idee, die Kämpfe zusammenzuführen, und das ist das Entscheidende. Denn das hat ermöglicht, in den ersten Tagen auf dem Platz sehr rasch die Ökologiebewegten wiederzufinden, die gegen den Klimagipfel COP21 in Paris mobilisiert hatten, die Schüler und Studierenden, die gegen das neue Arbeitsgesetz aufgestanden waren, die Beschäftigten im Gesundheitswesen, die für den Erhalt eines öffentlichen Gesundheitswesens gekämpft haben, aber auch die Aktiven in der Flüchtlingshilfebewegung, die im vergangenen Sommer und Herbst in der Pariser Region stark war.
Inzwischen hat sich die Bewegung bedeutend ausgeweitet, Tausende Menschen kommen täglich auf den Platz, Hunderte vergleichbarer Versammlungen gibt es landesweit, in großen Städten oder in Vorstädten, und wer die Zahl der Teilnehmenden nennen wollte, der müsste schon oberschlau sein.
Wie schafft ihr es, jede Nacht auf dem Platz zu sein? Welche Dynamik hat eure Bewegung? Wie organisiert ihr sie? Was sind eure wichtigsten Forderungen, und wie reagieren die verschiedenen Abteilungen des Staatsapparats?
Viele von uns sind in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen (Teilzeit, erwerbslos, Schüler, Studierende…), das ermöglicht uns, Nuit debout viel Zeit zu widmen: Wir haben nicht viel zu verlieren, besser also die Zeit nutzen, um uns zu organisieren und uns für ein besseres Leben einzusetzen. Da es uns nicht gelungen ist, den Platz die ganze Nacht über besetzt zu halten, mussten wir uns sehr schnell organisieren, um jeden Tag wieder von neuem den Platz besetzen zu können. Das ist anstrengend, weil aber immer mehr Leute dazugekommen sind, können wir uns abwechseln.
Der größte Teil der politischen Aktivitäten beginnt um 18 Uhr, weshalb die Beschäftigten nach ihrem Arbeitstag zu uns kommen können. Die Leute sehen das wirklich nicht als vertane Zeit an: Es gibt ein reales Bedürfnis zu diskutieren, sich gemeinsam zu organisieren und soziale Beziehungen neu zu knüpfen.
Die Bewegung Nuit debout organisiert sich in vielen Arbeitsgruppen zu einzelnen Themen oder Interventionsfeldern. Ständig gibt es neue Kommissionen, wenn das einem Bedürfnis der Beteiligten entspricht. Plenumsdiskussionen gibt es jeden Abend ungefähr ab 18 Uhr auf der Vollversammlung. Man ist bemüht, Demokratie zu leben, die zu respektieren, die sich äußern, und besonders den Wortmeldungen derer Raum zu geben, die in der Gesellschaft besonders unterdrückt sind (wie die Frauen, die rassistisch Diskriminierten, die Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Transsexuellen, die Behinderten…) und denen im normalen Alltag kaum zugehört wird.
Die Repression gegen die Bewegung der Schüler und Studierenden gegen das neue Arbeitsgesetz ist schon seit März sehr heftig: mit martialischen Polizeieinsätzen, vielen Verhaftungen und Anklagen, aber auch vielen, teils stark Verletzten unter den Demonstranten.
Die Bewegung Nuit debout macht auch der Regierung und dem Stadtrat von Paris Sorgen. Der Platz der Republik ist ständig von einem bedeutenden Polizeiaufgebot umstellt, das sich auf die benachbarten Straßen erstreckt. Die Polizei hat zu Beginn der Bewegung regelmäßig eingegriffen, und sie greift auch heute noch regelmäßig am frühen Morgen ein, um eine erneute Besetzung des Platzes und die Versammlungen zu verhindern. Die staatlichen Stellen haben alles versucht, damit wir den Platz verlassen, aber unsere Entschlossenheit bleibt stark, und die Bewegung wird nicht schwächer. Der Bürgermeister von Paris ist vor einigen Tagen sogar so weit gegangen, die öffentliche Beleuchtung des Platzes abzustellen, um uns daran zu hindern, eine Vollversammlung abzuhalten!
Am 31.März hat es eine beeindruckende Streikbewegung mit Demonstrationen gegen das neue Arbeitsrecht gegeben, an der sich eine Million Menschen beteiligt haben. Verbindet sich Nuit debout mit dieser Bewegung, und werden die Streiks weitergehen?
Ja, Nuit Debout ist ja aus der Mobilisierung gegen die Abschaffung des Arbeitsrechts hervorgegangen. Nach dem 31.März hat es aber keine Aufrufe der Gewerkschaften gegeben, den Streik weiterzuführen. Darum ist die Idee entstanden, eine neue Perspektive anzubieten, damit die Bewegung Dauerhaftigkeit gewinnt. Nuit debout geht deshalb über das Thema Arbeitsgesetz hinaus und schneidet zahlreiche verschiedene Probleme an, um eine politische Alternative zu diesem überkommenen System zu entwickeln. Die Entwicklung der Bewegung darf uns allerdings nicht davon abhalten, die spezifische Mobilisierung gegen das neue Arbeitsgesetz fortzusetzen: Das ist ja eine konkrete Maßnahme der Regierung, die in einigen Monaten umgesetzt sein wird, wenn wir nicht dagegen aufstehen.
Einzig die massive Mobilisierung der Jugend, der abhängig Beschäftigten und der Erwerbslosen kann die Regierung zum Rückzug und zur Aufgabe ihres Vorhabens zwingen. Die Kommission «Generalstreik» setzt sich deshalb mit mehr und mehr Gewerkschaftsaktiven in Verbindung, die sich nicht mit ein paar Tagen Streik begnügen wollen – nächsten Samstag (23.April) wird es ein gemeinsames Treffen geben, um den Aktionstag vom 28.April und den 1.Mai vorzubereiten und über die Wiederaufnahme des Streiks zu beraten.
Die Eisenbahner bei der SNCF bereiten einen Streik gegen die völlige Öffnung zur Privatisierung vor. Sucht Nuit debout die Verbindung zu diesen Streikenden? Wie ist eure Beziehung zu den Gewerkschaften?
Die Zusammenführung der Kämpfe macht jeden Tag Fortschritte. Letzte Woche hat sich Nuit debout an den Demonstrationen und anderen Aktionen der Studierenden in Solidarität mit den Eisenbahnern am Bahnhof Saint-Lazare beteiligt. Heute geschah dasselbe am Nordbahnhof, morgen findet das am Bahnhof Austerlitz statt, und so weiter – bis zum 26.April, immer für die spezifischen Belange der Eisenbahner.
Heute Morgen hat Nuit debout außerdem an Aktionen von darstellenden Künsterinnen und Künstlern teilgenommen, letzte Woche auch an denen der Flüchtlinge – wobei unsere Teilnahme und Unterstützung die Räumung eines Flüchtlingslagers durch die Polizei verhindert hat. Darüber hinaus organisiert Nuit debout die Verteilung von Flugblättern vor verschiedenen Betrieben, aber auch vor Arbeitsagenturen («Pôle Emploi»), in denen zum Widerstand aufgerufen wird und dazu, sich uns anzuschließen.
Immer wieder verabreden sich Hunderte von Leuten auf dem Platz, um zusammen loszuziehen und diese Kämpfe zu unterstützen. Je mehr wir es schaffen, diese verschiedenen Milieus zusammenzuführen, je stärker unsere Mobilisierung wird, aus der Vorschläge zur Veränderung der Verhältnisse hervorgehen, desto eher wird es auch Erfolge und Siege geben.
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