von Antonio Prete*
Don Quijote ist die Sehnsucht, die die Welt und ihre Hindernisse durchstreift. Sehnsucht, die mit jeder Verweigerung, jeder Enttäuschung stärker wird. Don Quijote ist auch die beharrliche, penible, ja zwanghafte Imitation eines Modells: des Rittertums, wie es von Amadis von Gallien** gelebt wurde.
Diese Imitation kehrt das Modell jedoch in jeder Hinsicht um: die Perfektion zerbröselt auf der Suche nach ihr; das Ideal zerbricht, während es verfolgt wird; der geträumte Traum wird von der Wirklichkeit überwältigt. Und dennoch offenbart dieser Verlust des Ideals, dieser Sieg über den Traum das ganze Elend des Realen. Sie preist die Kraft der Imagination. Die Raserei/der Wahn(sinn) ist die einzige Weisheit in einer Welt, wo als Weisheit die Wiederholung des immer Gleichen gilt, die Auslöschung des Anderen, das Misstrauen gegenüber dem Unmöglichen. Don Quijote ist die Transformation einer Bibliothek – die leidenschaftlich gelesenen Ritterromane – in Abenteuer, von Wissen in Erfahrung, die zugleich dem Wissen eine sichtbare Form gibt und seine Anmaßungen ihres Sinns entkleidet. Auf seinem Weg durch die Sierra Morena, zwischen Wirtshäusern und Schlössern, Wäldern und Steilhängen hält Don Quijote das Modell der Situation entgegen, die Imagination der Realität. In diesem Gegensatz wird alles anders: die Barbierschüssel wird zum Helm, die Bäuerin Aldonza Lorenzo zur Dame Dulcinea del Toboso, die Herden werden zu Heeren, aus Damen Prinzessinnen, aus Windmühlen Riesen, aus Wirtshäusern Schlösser. Die Wandlung ist zugleich Ablösung und Traum, Erlösung und Aufnahme ins Reich der Imagination.
Die Hauptperson selbst geht aus einer Transformation hervor: den ruhigen Alonso Quijano, genannt der Gute, verwandelt sein Autor in den geistvollen Hidalgo Don Quijote de la Mancha. Dreimal wird er seiner Welt entzogen – dem Pfarrer, dem Barbier, dem Baccalaureus Samson Carrasco, den wenigen Freunden, den Ritterromanen – und außer Landes in ein aufwändiges Abenteuer getragen, mit Gefahren, Begegnungen, Kampf, Entbehrungen, Askese… Das Abenteuer besteht darin, hinter einer Sache ihren Schatten zu erkunden, ihre verlorene Sprache, ihren verflogenen Hauch. Diese verlorene Sprache, diese unsichtbare Bedeutung wird in der Fiktion wiederhergestellt, und zugleich erweist sich die Labilität, die Haltlosigkeit dieser Rekonstruktion: Es ist diese Bewegung, die die Leser in eine so ideale wie brüchige, hypothetische wie flüchtige, schöne und inexistente Welt hineinzieht.
Don Quijote ist ein Wanderer. Er durchquert eine Natur, in der sich die Natur der ritterlichen Helden von einst widerspiegelt. Jede Landschaft gemahnt den Hidalgo an das süße Arkadien, aber sie ist für den Leser auch das Ende von Arkadien. Darin wie die Dinge enden und bleiben, wenn sie vergangen sind, in diesem Verschwinden, das die Spur des Vorbeigezogenen – des Unmöglichen – hinterlässt, liegt die außerordentliche Schönheit des Don Quijote.
Den Gegensatz zum Hidalgo und seine Parodie, die Herabsetzung des Erhabenen und mühsame Erklärung des gesunden Menschenverstands verkörpert Sancho Panza: eine karnevaleske Gegenfigur, Widerschein des Realen, das sich keine Glaubwürdigkeit verschaffen kann, groteske Reduktion der Utopie (die zum Regieren versprochene Insel). In Cervantes’ Roman streift der Humor die Tragik, das Possenhafte löst sich in Metaphysik auf, Weisheit und Wahnsinn tauschen die Rollen.
Als Buch höchster Fiktion ist Don Quijote auch eine fantastische Meditation über das Buch als solches, über das Verhältnis zwischen Dichtung und Wahrheit, eine Meditation über die Bibliothek, ihre Intrigen, ihr Verhältnis zum Leben. Der Autor selbst, Miguel de Cervantes, versteckt nach vielen Abenteuern eines ganz und gar nicht romanhaften Lebens die Urheberschaft seines Romans hinter dem arabischen Namen Cide Hamete Benengeli. Und im zweiten Teil trifft Don Quijote auf einige Persönlichkeiten, die gerade die apokryphe Folge seiner eigenen Abenteuer lesen (1614 war unter dem Pseudonym Avellaneda eine Fortsetzung des Don Quijote erschienen, dem Cervantes jedoch im Jahr darauf seine eigene Fortsetzung entgegensetzte). In Kenntnis der Umstände zeigt der Ritter von der traurigen Gestalt die Widersprüche in der apokryphen Fassung auf, und um sie endgültig als Fälschung zu widerlegen, beschließt er, sich nicht nach Saragossa zu wenden, wie es die apokryphe Schrift will, sondern nach Barcelona.
Im zweiten Teil tauchen zahlreiche Personen auf, die die Geschichte von Don Quijote bereits kennen. Es findet sich in diesem Roman schon ein Teil der Suchbewegung, die charakteristisch für Borges oder Calvino sein wird, für die verschachtelten Erzählungen aus dem 20.Jahrhundert, für das Buch im Buch.
Don Quijote, der großmütige Hidalgo aus den Ritterromanen, der von ihnen die Sehnsucht nach Abenteuer und Traum geerbt hat, wird zu einem Buch, das die Moderne einleitet. Doch der Held einer vergangenen Ritterschaft verlässt alsbald die Seiten des Buchs von Cervantes, lässt die Grenzen des Romans hinter sich und wird zu einer Figur, die sich durch die Geschichte zieht, durch die Lebenszeit von Menschen, die sich im Dickicht der Geschichte verirrt haben. Er wird befragt, kommentiert, fortgeführt und nachgeahmt – von Fielding bis Diderot, von Thomas Mann bis Borges; als Sinnbild eines Volkes, seiner Tugenden und Laster interpretiert (Unamuno); als Verkörperung des Christlichen gelesen, die Unschuld und Leiden, Verzauberung und Verlorenheit, Demütigung und Leichtsinn in sich vereint (Dostojewski). Oder als Fortbestand des Idealen in der «Prosa der Welt» (Hegel), als Differenz in einem Universum des Tauschs, einer Welt, die zu einem riesigen Marktplatz geworden ist (Marx). Oder als Zeichen des Andersartigen in einer Welt, in der alle Zeichen in die gleiche Richtung zeigen und dazu tendieren, nur eine Bedeutung aufzuweisen (Foucault).
Den Don Quijote lesen heißt, nach dem Sinn des Anderen in einer Welt zu fragen, die sich in sich selbst verschließt, in ihre behaupteten Werte, in das Grau ihres angebeteten Realismus. Es heißt, den Wind der Fiktion ins Gefängnis des Konkreten zu lassen, den Flügel des Unmöglichen in die Trübnis des Alltags.
* Aus: Liberazione (Rom), 22./23.1.2005.
** Amadis von Gallien ist der Held eines der in der Renaissance beliebtesten Ritterromane.
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