von Tobias Michel
Bei der diesjährigen Tarifrunde im öffentlichen Dienst ging es nicht nur um mehr Lohn, sondern auch um eine neue Entgeltordnung.
«Wir haben eine Entgeltordnungsreform wie seit 50 Jahren nicht mehr», so versucht der Ver.di-Vorsitzende, Frank Bsirske, den Mitgliedern das Tarifergebnis schmackhaft zu machen. Deren Befragung schließt die Tarifrunde im öffentlichen Dienst vorläufig ab. Und die Zustimmung gilt als sicher. Denn auf dem Zettel steht, am Schluss einer gedrängt langen Liste aus Licht und Schatten, die simple Alternative: «Ich stimme der Empfehlung zu.» – «Ich stimme der Empfehlung nicht zu und bin bereit, für ein besseres Ergebnis in den Erzwingungsstreik zu treten.»
Tatsächlich wird mit der überarbeiteten Entgeltordnung eine seit mehr als zehn Jahren schwärende Wunde geschlossen. Diese Ordnung schafft Ordnung in den eigenen Reihen. In über 4000 Fallgruppen beschreibt der Tarifvertrag ab 2017, welche Tätigkeitsmerkmale jeden der rund 2 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst in eine der 17 Entgeltgruppen einreihen.
Die Verdienstunterschiede sind gewaltig. Eine neu einsteigende, ungelernte Kollegin erhält nicht einmal ein Viertel von dem, was eine erfahrene Akademikerin erwartet. Doch ausdifferenziert wird nicht nur nach persönlicher Qualifikation und Erfahrung. Was die einzelne tut, zählt wenig. Eingruppierung und Verdienst entscheidet der Chef nach der Tätigkeit, die er ihr formell überträgt.
Nasenprämien
Ob bei der Müllabfuhr, in der Stadtverwaltung, in der Klinik oder im Kindergarten – die Arbeitgeber würden ihr Lohnangebot am liebsten für jede und jeden einzeln taxieren. Eine einseitige und willkürliche Festsetzung der Gegenleistung für unsere Arbeit würde die Konkurrenz untereinander verschärfen. Denn Arbeitgeber differenzieren das Personal nicht nur nach Können und Wollen, nach Leistungsfähigkeit und Einsatzbereitschaft. Für sie ist die Lohnhöhe zugleich ein willkommenes Instrument zur Disziplinierung.
Die Ordnung, die die Gewerkschaft in der Branche und im Betrieb dagegensetzt, soll solche Spaltungslinien untereinander kitten. Doch sie ist selbst zwiespältig. Denn in den Betrieben diskutieren die Beschäftigten, und besonders die gewerkschaftlich Aktiven, schon lange nicht mehr über Gleichbehandlung und Mehrwert. Statt ihre Rolle in der Wertschöpfung aufzuklären, rufen sie zunehmend nach «Wertschätzung» und «Aufwertung». Sie vergleichen sich untereinander, stellen ihre besonderen Belastungen heraus, ihre «Bedeutung» und «Verantwortung». Sie wünschen sich ein Fortkommen, nicht heraus aus der Lohnarbeit, sondern ein bloßes Voran, als Karriere oder zumindest als ein anerkennendes Aufrücken alle paar Jahre.
Vor zehn Jahren hat die Abspaltung der Ärzte mit einem eigenen Tarifvertrag des berufsständischen Marburger Bunds vor Augen geführt: Über den Wert der Arbeitskraft entscheidet zuallererst der spezifische Mangel oder Überfluss am Arbeitsmarkt. So beschränkt sich die komplett überarbeitete Entgeltordnung des öffentlichen Dienstes darauf, für insgesamt 4000 Gruppen deren abgrenzende Merkmale zu beschreiben und ihnen dann ihren Platz in der Hierarchie zuzuweisen.
Unbestimmt
Diese Merkmale sind eine Quelle fortwährender Hoffnungen und Enttäuschungen für die Betroffenen. Denn sie lesen dort etwas von «gründlichen» und von «gründlichen und vielseitigen» Fachkenntnissen. Sie grübeln, wie sie ihre mindestens «ein Fünftel selbständigen Leistungen» nachweisen können, um eine Gruppe aufzusteigen. Oder sie scheitern daran, ihre täglichen Aufgaben nicht nur in den eigenen, sondern auch in den Augen der Vorgesetzten als «besonders verantwortungsvoll» erscheinen zu lassen.
In Seminaren wollen sich in den kommenden Jahren die Betriebs- und Personalräte fit machen, um solche unbestimmten Rechtsbegriffe mit Sinn, Leben und gerichtlichen Entscheidungen zu füllen. Die IG Metall hat bei ihrem Alptraum ERA vorgemacht, wie dies einer entpolitisierten Tarifarbeit den Weg bereitet.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.