Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2016
Arbeitswut, Arbeitszwang, Arbeitszeitverkürzung*

von Manuel Kellner

Das hier besprochene Buch dient der politischen Bildung in emanzipatorischer Absicht in herausragender Weise. Die Diskussion über eine ökosozialistische Alternative zur kapitalistischen Klassengesellschaft kann nur daran gewinnen, diese Darstellung und Kritik der christlich-abendländischen Tradition des geharnischten Kampfs gegen die „Faulheit“ und deren Zuspitzung im Zuge der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise aufzugreifen und den Vorschlag einer radikalen Verkürzung der – direkt oder indirekt – erzwungenen Arbeitszeit in ihre Vorstellungen zu integrieren.

Hans-Albert Wulf spannt einen weiten Bogen von der Spätantike bis zum Frühkapitalismus, wobei die Bezüge zu den Zuständen und Zumutungen der Gegenwart immer wieder handgreiflich deutlich machen, wie eng die gegenwärtige herrschende Ideologie und ihre Praktiken an ihre Vorläufer anknüpfen. Denn als „faul“ und daher verderbt werden heute die Hartz IV-Opfer genauso verschrieen wie damals die „faulen Möche“, die „arbeitsscheuen“ Vagabunden und schließlich die Erwerbslosen, die auf soziale Transferleistungen angewiesen sind.

Bei den asketischen Eremiten der frühchristlichen Zeit in der ägyptischen Wüste galt als die entscheidende Arbeit die religiöse Hingabe im Gebet, in der Zuwendung zu Gott. Die profane Arbeit zur Lebenserhaltung war demgegenüber unwichtig und lästig, eine Ablenkung von dem, worauf es ankam. Die Anfechtungen, denen diese „Anachoreten“ ausgesetzt waren, die Einflüsterungen des Satans, der sie vom Heilsweg abbringen wollte, liefen darauf hinaus, in ihren Herzen Widerwillen gegen die religiöse Hingabe im engsten Sinne des Wortes zu schaffen. Zuviel Aufmerksamkeit für die Werke und Verrichtungen zugunsten des materiellen Lebenserhalts war eine dieser Anfechtungen.

Mit der Schaffung der Klöster und der monastischen Gemeinschaften fand eine entscheidende Umwertung statt. Die Arbeit für die klösterliche Gemeinschaft wurde zunehmend selbst als Gottestdienst begriffen. Wer gegen die damit verbundenen Vorschriften verstieß, versündigte sich genauso wie derjenige, der die rein religiösen Pflichten vernachlässigte. Deutlich wird dies an der sprichwörtlich gewordenen Richtlinie „ora et labora“, „bete und arbeite“. In der Folgezeit entwickelte sich ein Widerspruch zwischen der asketischen Grundhaltung der Mönche und dem zunehmenden Reichtum der Klöster, die durch die arbeitsteilige gemeinschaftliche Arbeit ihrer Insassen oft große Mengen an hochwertigen Gebrauchsgütern hervorbrachten. Noch heute erfreuen wir uns an den monastischen Bieren, Käsen und Weinen.

Die herrschaftliche Polemik gegen die Faulheit richtet sich in dieser Zeit gegen Mönche, die ihrer Arbeitspflicht nicht nachkommen und sich damit gegen ihre klösterliche Gemeinschaft und gegen Gott versündigen, und ganz besonders gegen „umherschweifende“ Mönche, die zwar die Tonsur tragen und fromm tun, sich aber der Arbeitspflicht verweigern und stattdessen alles tun, um sich an den Produkten des Fleißes der anderen, der arbeitsamen und pflichtbewussten Menschen zu erfreuen.

Im Mittelalter, in der frühen Neuzeit, im Zeitalter der Aufklärung und mit besonderer Schärfe mit Beginn der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise wird diese Polemik gegen die „Arbeitsscheuen“ fortgesetzt und verschärft, in dem Maße eine große Zahl von Menschen ihren angestammten Platz in der Gesellschaft verlieren und mit dem Joch der sich zersetzenden Stände auch deren existenziellen Schutz verlieren. Sie werden „frei“ und alsbald als „faul“ und „arbeitsscheu“ diffamiert. Mit strengen Strafen bis hin zu Zwangsarbeit, Prügel, Folter und Hinrichtung wird ihnen eingebläut, dass sie zum Vorteil anderer Menschen schuften müssen, um das Recht zu erwerben, ein elendes Dasein zu fristen.

Da, wo Hans-Albert Wulf die schrecklichen Zustände der „Arbeitshäuser“ und ähnlicher Einrichtungen schildert, fühlt man sich unwillkürlich an das letzte Kapitel des „Kapital Band 1“ von Karl Marx erinnert, wo unter der sarkastischen Überschrift der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“ gezeigt wird, wie für die Geburt der kapitalistischen Produktionsweise in vielfacher Hinsicht brutale Gewalt Pate stand – und wie sie auch in ihrer weiteren Entwicklung immer wieder Pate steht, wo neue Quellen der kapitalistischen Ausbeutung erschlossen werden. Ein wichtiger Aspekt davon – neben zum Beispiel dem kolonialen Raub des lateinamerikanischen Goldes und der Ausrottung und Versklavung indianischer und schwarzafrikanischer Bevölkerungen – ist eben die systematische Anwendung brutaler Gewalt gegen die Armen in den europäischen Ländern, gegen diejenigen, die durch den Rost gefallen sind, wobei die ideologische Begleitmusik darin besteht, dass diese Opfer der gesellschaftlichen Entwicklung als faul, arbeitsscheu und verderbt diffamiert werden. Und die unmittelbaren Opfer dienen den anderen zur Abschreckung, damit sie sich widerspruchslos der Arbeitsdisziplin in der kapitalistischen Manufaktur oder Fabrik beugen. Nebenbei gesagt hat sich, was Wulf nicht ausdrücklich erwähnt, diese Geschichte in den Kolonien vielfach wiederholt – die Menschen der kolonisierten Gebiete wurden immer wieder durch brutale Gewalt enteignet und gezwungen, zum Wohl ihrer Herren und Ausbeuter zu schuften.

Dem Problem der Armut kann nach der überkommenen Herrenmenschenideologie dadurch begegnet werden, dass den Armen beigebracht wird, zu arbeiten, sich dem Normalarbeitstag zu fügen, der nicht von natürlichen Kreisläufen bestimmt wird, sondern von Uhren, von der künstlich gemessenen Zeit. Die mehr oder weniger tyrannischen oder liberaleren Vorstellungen in diesem Zusammenhang unterscheiden sich nicht im Ziel, sondern nur in den Mitteln – zwischen den Polen der reinen Gewaltanwendung auf der einen und der pädagogischen Überredung und der Zurichtung mittels der Schaffung „innerer Zwänge“ auf der anderen Seite.

Die ganze Rabulistik des Moralisierens gegen die „Faulen“ zeigt Hans-Albert Wulf sehr schön auf und stützt sich dabei auf die Auswertung hunderter von Predigten. Nebenbei zeigt er die Schwächen der Religionssoziologie von Max Weber, der den Calvinismus zum Geburtshelfer des Kapitalismus erklärt hat. Das ist in der neueren Forschung sehr weitgehend in Frage gestellt worden, weil die realgeschichtliche Entwicklung diesen Befund nicht deckt – zum Beispiel, weil Frühformen des Kapitalismus in oberitalienischen Städten ganz ohne Calvinismus entstanden waren und der calvinistische „Gottestaat“ (wie grauenhaft er auch war) nichts Nachweisliches für die Entwicklung des realen Kapitalismus geleistet hat. Wulf hat bei seiner Aufarbeitung des einschlägigen Materials auch herausgefunden, dass sich die Diffamierung der „Faulen“ und „Arbeitsscheuen“ in lutherischen und katholischen Predigten ebenso findet wie in calvinistischen.

Interessant in Zusammenhang mit der genannten Rabulistik ist eine bedeutende Akzentverschiebung, je mehr wir uns der Moderne nähern. Die überwiegend religiöse Argumentation wird zunehmend von einer überwiegend weltlichen Argumentation abgelöst. Den „Faulen“ wird zum Beispiel nachgewiesen, dass sie sich mit ihrer Faulheit nur selber schaden. In der Tat: Wer bewegungslos verharrt, der verkümmert, wird krank, leidet und stirbt früh. Das ist bekannt. Wer sich nicht produktiv mit irgendetwas beschäftigt (sondern stattdessen nur frisst, säuft, hurt und schläft), der verkümmert geistig und seelisch. Auch das ist bekannt und leuchtet ohne weiteres ein.

Man muss sich aber vor Augen führen, dass diese großsprecherisch herausposaunten Erkenntnisse, die für alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten gelten und also absolute Wahrheiten (genauer gesagt: Banalitäten) sind, nur zu dem einen Zweck mit erhobenem Zeigefinger angeführt werden, um Menschen in fremdbestimmter Arbeit gefangen zu halten, die nicht über die materiellen Mittel verfügen, sich ohne dies am Leben zu erhalten.

Auch die Verinnerlichung des Arbeitszwangs macht unglücklich und krank. Gerade heute springt das ins Auge: Die Menschen, die Tag und Nacht an ihre Erwerbsarbeit denken, die immer erreichbar sein müssen, die immer in Displays sehen, aber nie in die Augen anderer Menschen, die sich aufreiben in der Arbeit für irgendeine Firma oder „auf eigene Rechnung“ für den nächsten Auftrag, um existenziell nicht unterzugehen, genießen ihr Leben nicht, werden krank und sterben ohne gelebt zu haben.

Wulf behandelt auch die tragische Tatsache, dass die Arbeiterbewegung sich die kapitalistische Arbeitsethik auf ihre Weise zueigen gemacht hatte. Das Selbstwertgefühl der abhängig Beschäftigten als der arbeitenden produktiven Klasse wurde zugleich zur Frontstellung gegen die „Unproduktiven“, die „Faulen“. Sicherlich: Wenn es in der „Internationale“ heißt „Die Müßiggänger schiebt beiseite“, dann waren damit die kapitalistischen Ausbeuter gemeint, die andere Menschen für ihren Profit arbeiten lassen und selbst nicht arbeiten müssen. Doch hat sich dieser Impuls im Laufe der Zeit zu einem Moment der Spaltung unter den Eigentumslosen verkehrt, weil diejenigen, die vom Schicksal der Erwerbslosigkeit geschlagen sind, unter der Hand zu „Faulen“ wurden, zu Lumpen, zu unproduktiven Parasiten (so schlecht es ihnen auch ging).

Paul Lafargue, Schwiegersohn von Marx, ragt heraus mit seiner Streitschrift „Das Recht auf Faulheit“. Obwohl sich Anarchisten gerne auf diese Schrift berufen, betont Wulf doch, dass Lafargue trotz allem das war, was man heute vielleicht einen „Traditionssozialisten“ nennen würde. Gleichwohl ist die Hauptforderung, die Lafargue in der besagten Schrift entwickelt, nämlich die radikale Verkürzung der Arbeitszeit auf drei Stunden täglich, mehr als aktuell. Sie ist zwar von gestern, wirkt aber sehr viel eher wie für übermorgen.

Hans-Albert Wulf beschließt sein Buch mit zehn Thesen, mit einem Plädoyer für ein „Jenseits der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft“. Ausgangspunkt ist der Stress der Arbeitswelt von heute mit ihren verinnerlichten Zwängen, der auch die Frezeit längst überwältigt hat. Wulf hält nichts von der Flucht in Nischen. Stattdessen plädiert er für radikale Arbeitszeitverkürzung in verschiedenen Formen und für die Befreiung von einem Konsumzwang, der die Lebensqualität keineswegs verbessert. Letztlich geht es ihm um eine Umwertung der überkommen Werte: Nicht mehr Geld und mehr Kosnumgüter anhäufen ist Gradmesser für mehr Lebensqualität, sondern „die Zeit, die man zur freien Verfügung hat“. Und: „Jenseits der fremdbestimmten Erwerbsarbeit könnten an die Stelle von Faulheit Begriffe wie selbstbestimmtes Leben, Kreativität, lustvolle Arbeit, autonomes Handeln, gutes Leben, genussvolle Zeitverschwendung und auch Muße treten.“

Die Vision einer Gesellschaft auf dem Weg in die Freiheit ist untrennbar verknüpft mit der Vorstellung von einer radikalen und fortschreitende Verkürzung der Pflichtarbeitszeit. Erst jenseits dieser Zeit beginnt laut Marx das Reich der Freiheit: Jene Zeit, in der die Menschen das tun, was sie unbedingt tun wollen, ohne irgendeinem äußerlichen Zwang zu unterliegen. Was sie in dieser Zeit tun, tun sie mit Hingabe und Begeisterung. Deshalb wird im Laufe der Entwicklung diese freie Zeit die eigentlich produktive Zeit in dem Doppelsinne, dass in ihr die Menschen ihre Fähigeiten und Anlagen frei entfalten und zugleich eben dadurch den anderen Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft im höchsten Grade nützlich sind.

* Rezension des Buchs von Hans-Albert Wulf: Faul! Der lange Marsch in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft, Books on Demand Norderstedt 2016 (geschrieben am 16. Juni 2016)

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