Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2016
Nein sagen reicht nicht
von Angela Klein

«Es gibt viele gute Gründe, die EU zu verlassen», schreibt der Kolumnist des britischen Guardian, Paul Mason, zur Debatte über den Brexit und einen linken Austritt aus der EU. «Die EU ist keine Demokratie und kann keine werden. Im Gegenteil, sie schafft das einladendste Umfeld der Welt für couponschneidende Monopolkonzerne, steuerhinterziehende Eliten und organisiertes Verbrechen. Ihre Exekutive ist so mächtig, dass sie die linke Regierung in Griechenland zermalmen konnte; ihre Legislative so schwach, dass sie nicht aus eigener Kraft Gesetze schreiben oder die eigenen Beamten kontrollieren kann. Und ihre Justiz achtet das Recht des Arbeiters zu streiken geringer als das Recht des Unternehmers, ungehindert seinen Geschäften nachzugehen… Die Sparpolitik, die wir in Großbritannien verspotten, ist in Wirklichkeit als nicht verhandelbar in die EU-Verträge eingeschrieben, sie entspricht ganz den Wirtschaftsprinzipien der Thatcher-Ära. Eine von Corbyn geführte Labour-Regierung müsste ihr Wahlprogramm gegen EU-Gesetze durchsetzen.

Und die Lage wird schlimmer… Europas Führer haben immer noch keinen funktionierenden Plan, wie sie die Flüchtlinge verteilen, die Deutschland im letzten Sommer aufgenommen hat, sie haben einen Deal mit der Türkei zur Rücknahme der Flüchtlinge geschlossen, der eine moralische Bankrotterklärung darstellt und überdies droht zu scheitern. Wenn dann die überlieferte Forderung eines nicht genannten belgischen Ministers Wirklichkeit werden sollte, man solle Flüchtlingsboote in der Ägäis ‹zurücktreiben oder versenken›, hätte jeder EU-Bürger buchstäblich die Hand am Ruder des Schiffes gehabt, das so etwas tut. Man mag einwenden, dass Großbritannien Flüchtlinge nicht besser behandelt. Der Unterschied ist, dass ich in Großbritannien die Regierung abwählen kann, in der EU kann ich das nicht. Das ist das grundsätzliche Argument auf der Linken für einen Brexit.»

Mason erklärt dann, warum er dennoch nicht für den Brexit stimmen will – weil die konservative und extreme Rechte darin nämlich ein Mandat für eine Rückkehr zur Thatcher-Politik reinsten Wassers sieht und sich anschickt, damit die Führung der Tories zu übernehmen. «Die Zeit für einen Bruch mit der EU ist noch nicht gekommen, der steht dann auf der Tagesordnung, wenn wir eine Labour-Regierung haben, die von der EU torpediert wird, nicht jetzt.»

 

Der Mann hat recht. Der Faktor Zeit spielt in der Politik eine sehr große Rolle, eine prinzipiell richtige Entscheidung, die zur Unzeit kommt, kann dann falsch sein und eine gegenteilige Wirkung haben. Nehmen wir also eine Labour-Regierung mit Corbyns Programm an. Der erste Schritt ist der Ungehorsam: Wir respektieren die Zwangsjacke der Sparpolitik der EU nicht mehr. Dann merken wir, dass wir die geballte Ladung Erpressungspolitik der Troika ins Gesicht kriegen: Ein auf europäischer Ebene gut vernetztes Kapital legt alle Daumenschrauben an. Was tun wir dann?

Unsere Antworten bleiben bislang auf der nationalen Ebene stecken, so ist es mit Griechenland passiert, und deswegen ist die griechische Regierung im entscheidenden Augenblick im Juli vergangenen Jahres so schmählich allein geblieben. Sicher hat Großbritannien andere Möglichkeiten als Griechenland, aber das Grundproblem ist dasselbe, und das Problem stellt sich nicht minder in Portugal oder vielleicht demnächst in Spanien.

Was in Griechenland – unter anderem – gefehlt hat, war die Aufforderung der Regierung SYRIZA an die Bevölkerungen der anderen europäischen Ländern: Lasst uns gemeinsam gegen die Spardiktate aufstehen! SYRIZA hat an die europäischen Regierungen appelliert und um deren Solidarität und Verständnis geworben, nicht an die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen in Europa. Das war ein grundlegender Fehler, der darf nicht noch einmal passieren.

 

Auch auf unserer Seite entsteht Solidarität aber nicht von selbst. Dabei geht es ja nicht nur darum, einzelne Projekte wie Gesundheitszentren oder besetzte Betriebe zu unterstützen, sondern darum, beherzt auf ein Tor zuzugehen, wenn es sich aufgetan hat, und die Heerscharen derer zu vergrößern, die dieses Tor weiter aufstoßen wollen, damit es von der anderen Seite nicht so schnell wieder verschlossen werden kann. Also gemeinsamer Kampf um gemeinsame Ziele auf europäischer Ebene.

Was können diese Ziele sein? Es muss uns gelingen, ein gemeinsames Format für ein paar einfache, weichenstellende soziale Forderungen zu finden, die wir gemeinsam tragen – keine abstrakte Verfassungsdebatte, sondern Forderungen, die dort eingreifen, wo die Menschen der Schuh drückt:

Schluss mit der Plünderung der öffentlichen Kassen zugunsten der Banken und der Kapitalanleger; öffentliche Kontrolle über das Kreditwesen; Schluss mit den Privatisierungen, Ausbau des öffentlichen Sektors; eine gesetzliche Bürgerversicherung statt der privaten Altersvorsorge; Anerkennung der Ausbildungsabschlüsse und der Rechte aus den Sozialversicherungskassen auf europäischer Ebene; Stärkung der Gewerkschaften und eine europäische Arbeitsrichtlinie, die eine Ausweitung der Arbeiterrechte im Betrieb mit gleichen Rechten auf europäischer Ebene vorsieht; Schluss mit dem Lohndumping, für einen europäischen Mindestlohn und eine europaweit geltende Höchstarbeitszeit von 35 Stunden in der Woche.

 

Das ist nur ein Anfang, damit sind bei weitem nicht alle Probleme gelöst – etwa die Überwindung der Folgen der De-Industrialisierung, die Formulierung eines neuen, ökologischen Entwicklungspfads, eine Bekämpfung der Fluchtursachen, die diesen Namen verdient… Aber es böte die Möglichkeit, die Mobilisierung in den Betrieben und auf den Straßen auf andere europäische Länder auszuweiten und der Ungleichzeitigkeit der Kämpfe, die uns so behindert, entgegenzuwirken.

Das ist der Anfang von allem.

Daran sollten wir mit Hochdruck arbeiten. Denn das muss vorbereitet werden. Und es verlangt von uns, dass wir nicht auf den Aufstieg der extremen Rechte starren wie das Kaninchen auf die Schlange, sondern die grundsätzliche Instabilität der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa erkennen und unsere Kräfte darauf lenken, die Chancen zu positiven Wendungen zu nutzen, die sich uns auftun.

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