Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2016

Eine Aufholjagd macht Geschichte
von Leo Gabriel

Die Würfel sind gefallen: Der ehemalige langjährige Chef der Grünen, Alexander Van der Bellen, hat mit nur 31026 Stimmen (0,3%) Vorsprung die Stichwahl um das Amt des österreichischen Bundespräsidenten gegen Norbert Hofer, den Kandidaten der rechtspopulistischen FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) gewonnen. Doch damit ist das Match, das ganz Österreich in den letzten Monaten Atem gehalten hat und vor kurzem sogar zu einem Kanzlerwechsel an der von der sozialdemokratischen SPÖ dominierten Regierungsspitze geführt hat, keineswegs zu Ende. Folgt nach der historischen Schrecksekunde jetzt der Katzenjammer?

Tatsächlich war nach dem ersten Durchgang am 24.April, an dem die Kandidaten der großkoalitionären Regierungsparteien, der SPÖ und der christdemokratischen ÖVP, zusammen weniger als ein Viertel der Stimmen auf sich vereinigen konnten, so etwas wie ein Ruck durch die von den Turbulenzen der Flüchtlingskrise in Mitleidenschaft gezogene Zivilgesellschaft gegangen. Denn plötzlich waren Papa und Mama SPÖ/ÖVP, die die politische Landschaft Österreichs seit dem Zweiten Weltkrieg beherrscht hatten, abhanden gekommen. Die Bürgerinnen und Bürger konnten oder wollten sich nicht mehr hinter dem breiten Rücken eines Laissez-faire-Regimes verstecken, sondern mussten Farbe bekennen.

Dabei war allen von vorneherein klar, dass der Grundton dieser Farbe angesichts der in den vergangenen sechs Monaten zu einem «Staatsnotstand» hochstilisierten Flüchtlingskrise nur die von dunkelbraunen Streifen durchzogene Parteifarbe der ehemaligen Haider-Partei FPÖ, nämlich blau, sein konnte. Die Falle, die sich Ex-Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) selbst gestellt hatte, indem er zusammen mit der ÖVP-Innenministerin Johanna Mikl Leitner und dem ÖVP-Außenminister Sebastian Kurz einen «Krieg gegen die Flüchtlinge» von den Grenzzäunen brach, war zugeschnappt.

Selbst den Dümmsten in der Regierung war plötzlich klar geworden, dass sie den Rechtspopulisten, die sie eigentlich mit deren eigenen Waffen schlagen wollten, auf den Leim gegangen waren – und zogen die Notbremse. Mit einer für österreichische Verhältnisse atemberaubenden Geschwindigkeit wurde zuerst Mikl Leitner vom Königsmacher der ÖVP, dem niederösterreichischen Landeshauptmann Erwin Pröll, abgezogen und danach sogar Bundeskanzler Werner Faymann auf Betreiben des Wiener Bürgermeisters Michael Häupl zum Rücktritt gezwungen. Letzterer hatte übrigens noch im vergangenen Herbst die Wiener Gemeinderats- und Landtagswahlen dadurch gewonnen, dass er sich auf die Seite der sog. Refugees-welcome-Kultur gestellt hatte. Anstelle von Faymann wurde der Chef der österreichischen Bundesbahnen, Christian Kern, der bis dato nie eine politische Funktion bekleidet hatte, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zum Bundeskanzler bestellt und übte bei seiner vielbeachteten Antrittsrede vor dem Parlament heftige Kritik an der «Machbesessenheit und Zukunftsvergessenheit» jener Regierung, der er nun selbst vorsteht.

All das erfolgte, während der Countdown für den zweiten Durchgang der Bundespräsidentenwahlen in vollem Gange war. Inmitten eines Wahlkampfs, der von allen Analysten bald als Lagerwahlkampf identifiziert wurde, ging es nun darum, dem Rechtspopulisten Norbert Hofer das Wasser abzugraben. Dieser wiederum stellte sich zusehends als Opfer einer Hetzkampagne dar – die sein Parteivorsitzender Hans-Christian Strache sein ganzes politisches Leben lang praktiziert hat.

Auf der anderen Seite bemühte sich der Grüne Alexander Van der Bellen um die Unterstützung jener politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die im ersten Wahlgang für die Kandidaten der SPÖ, der ÖVP oder der parteiunabhängigen Irmgard Griess gestimmt hatten. Die Wählerwanderungsanlysen bestätigen, dass ihm es gelungen ist, die Stimmen der Frauen, der urbanen Mittelschichten und der Menschen mit einem höheren formalen Bildungsgrad für sich zu gewinnen. Dabei kamen ihm zahlreiche Komitees von Künstlern, Ex-Politikern und christlichen Basisorganisationen zu Hilfe, die sich relativ spontan gebildet hatten.

«Nach der Wahl ist vor der Wahl», lautet der Spruch, der auch in diesem Fall Gültigkeit hat. Denn all diese Kräfte, einschließlich Van der Bellen selbst, sind jetzt darum bemüht, «die Gräben zuzuschütten, die der Wahlkampf hinterlassen hat». Und das könnte wiederum dazu führen, dass die heulenden Wölfe bald wieder aus ihren Verstecken kriechen, um sich für die nächsten, viel entscheidenderen Nationalratswahlen 2018 zu rüsten, die auf Betreiben der FPÖ vorgezogen werden könnten.

Um dieser Dynamik entgegenzuwirken, haben sich mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen, unter ihnen ATTAC, linke Gruppierungen, Flüchtlingshelfer und ökosoziale Bewegungen, zusammengeschlossen, um unter dem Namen AUFBRUCH am 3./4.Juni eine so genannte Aktionskonferenz zu veranstalten. Ob sich daraus auch eine politische Partei entwickeln wird, wird die Zukunft zeigen.

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