Gespräch mit Thomas Goes*
Du hast an einer Studie mitgearbeitet, die sich mit gewerkschaftlichen Erfolgen in Ostdeutschland auseinandergesetzt hat. Worum ging es da?
Wir haben 2015 untersucht, weshalb es Gewerkschaften in Ostdeutschland nach langen Jahren des Rückgangs und der Stagnation wieder gelingt, Betriebe zu organisieren. Dabei haben wir uns mit den Entwicklungen der letzten fünf Jahre beschäftigt.
Den Ausgangspunkt bildeten die steigenden Mitgliederzahlen. Das ist ja relativ neu. Denn nach der Wiedervereinigung gab es ja erstmal so etwas wie eine gewerkschaftliche Eiszeit in den neuen Bundesländern. Man könnte sagen: Viele Kollegen sind einen Tauschpakt eingegangen, wenn sie denn das Glück hatten, ihre Arbeit zu behalten. Das ging ja vielen gerade nicht so, Ergebnis der Einführung des Kapitalismus waren ja erstmal nicht die versprochenen blühenden Landschaften, sondern Massenarbeitslosigkeit und Deindustrialisierung. In den Betrieben, die übrig geblieben sind, etablierte sich ein Tauschpakt: Leistungsbereitschaft und Zurückhaltung beim Lohn und in anderen Dingen wurden gegen einen erhofft sicheren Arbeitsplatz eingetauscht.
Und dann gelang es der IG Metall und der Gewerkschaft NGG relativ unverhofft, wieder Leute zu gewinnen, sodass die Mitgliederzahlen per saldo gestiegen sind. Da erhebt sich natürlich die Frage: Warum ist das so gekommen? Dieser Frage sind wir nachgegangen. Wir, das war eine Forschergruppe von vier Leuten an der Universität Jena.
Was habt ihr rausgefunden?
Ganz grundsätzlich hat sich erst einmal bestätigt, dass es tatsächlich eine Trendwende gegeben hat. Ich muss dazu sagen, dass wir eine sog. qualitative Studie gemacht haben. Das bedeutet: Wir haben uns anhand von rund zwanzig Unternehmen beispielhaft angeschaut, wie erfolgreiche, in Einzelfällen aber auch gescheiterte, Organisierungsversuche abgelaufen sind. Vorher haben wir Gespräche mit Hauptamtlichen geführt, um deren Sicht auf die Entwicklung einzufangen. Da deutete sich der wichtigste Befund eigentlich schon an. Der lautet nämlich, dass die Organisierung ganz wesentlich aus den Belegschaften selbst gekommen ist. Also: da wurden keine Betriebe «von außen aufgemacht», wie das manchmal bei Hauptamtlichen heißt, sondern die Leute kommen vermehrt auf die Gewerkschaft zu.
Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt. Und zwar aus zwei Gründen: Erstens, weil das bedeutet, dass die Zeit der Bescheidenheit und der Zurückhaltung bei einer wachsenden Zahl von Kollegen in den ostdeutschen Betrieben vorbei ist. Zweitens, weil diese Bewegungen aus den Betrieben heraus eine andere Art von Gewerkschaftsarbeit notwendig machen.
Was waren denn die Gründe dafür, dass sich die Kollegen vermehrt an die Gewerkschaften gewandt haben?
Wir haben unterschieden zwischen Anlässen und Gründen. Ein sehr häufiger Grund waren die niedrigen Löhne, die in den Unternehmen gezahlt wurden. Da spielt der Ost-West-Vergleich eine wichtige Rolle und m.E. auch die Frustration darüber, dass es einfach nicht besser wird, wenn man nicht aktiv wird. Aber Lohn scheint mir oft auch einfach der größte gemeinsame Nenner gewesen zu sein. Fast nirgends stand so eine Lohnforderung alleine für sich. In der Regel kamen noch andere Themen dazu: Die zwei wichtigsten waren die Arbeitszeit und die Umgangsformen im Betrieb.
Mit Arbeitszeit ist die zugemutete Arbeitszeitflexibilisierung gemeint, also die Normalisierung von Überstunden und Wochenendarbeit, die eine Vereinbarkeit von Arbeit und Familie oder Freundschaften sehr schwer macht.
Mit Umgangsformen meine ich, dass häufig die grundlegende Anerkennung von Leistung und Interessen der Beschäftigten fehlte. Das muss man nicht gleich als «Despotie» bezeichnen. Aber in den Interviews, die wir mit den Aktiven aus den Betrieben geführt haben, wurde oft der Eindruck geschildert, die Geschäftsleitungen behandelten die Arbeiter wie Instrumente oder Maschinen, rein zweckrational und unmenschlich also, so könnte man das übersetzen.
Lohnforderungen waren also das eine, damit hingen aber oft auch Probleme mit der Anerkennung der eigenen Interessen und Leistungen oder auch Probleme mit der Arbeitszeitflexibilität zusammen. Das waren die Gründe.
Die Anlässe für die Organisierung waren dann eher Zufälle im Sinne des Tropfens, der das Fass zum Überlaufen bringt. In einem Unternehmen wurden die Beschäftigten aktiv, als es einen Generationenwechsel in der Geschäftsleitung geben sollte. Unzufriedenheit gab es schon lange. Auch die alte Geschäftsleitung galt als unnachgiebig und unzugänglich. Mit dem Wechsel aber verband sich bei den Kollegen die Angst davor, dass es noch schlimmer werden könnte. Jetzt oder nie war die Devise.
Du hast davon gesprochen, dass sich die Gewerkschaftsarbeit auch verändert oder verändern muss. Was meinst du damit?
Ich sagte schon, dass es in der Regel nicht Gewerkschaftssekretäre waren, die die Betriebe organisiert haben. Es waren strategisch klug agierende Aktivengruppen, die ihre Kollegen oft in zähen Einzelgesprächen überzeugt bzw. ermutigt haben. Nicht selten wurden sie dabei auf die eine oder andere Weise von der Geschäftsleitung angegriffen oder behindert. Ein Bevollmächtigter der IG Metall brachte das so auf den Punkt: Erfolgreiche Organisierung sei einfach nicht möglich, wenn es diese Aktivengruppe nicht gäbe.
Hauptamtliche Gewerkschafter sind in diesen Prozessen wichtig, aber eher als Katalysatoren, als ermächtigende Unterstützer. Und die sind in der Tat wichtig. Weil es natürlich ganz viele Gelegenheiten gibt und gab, wo Beratung oder einfach Dienstleistungen nötig sind. In Keimform ist da die Notwendigkeit «beteiligungsorientierter Gewerkschaftsarbeit» angelegt. Das ist ein etwas seltsam anmutender Ausdruck, soll aber eigentlich heißen: Überall finden Aushandlungen statt, man muss sich gegenseitig mitnehmen. Die Aktiven müssen versuchen, ihre Kollegen zu ermutigen und davon zu überzeugen, dass Gegenwehr hilft – dann geht es darum, welche Art von Gegenwehr und mit welcher Zielsetzung. Das heißt natürlich: zuhören und ernstnehmen.
Dieselbe Aufgabe haben Gewerkschaftssekretäre gegenüber den betrieblichen Aktiven. Hauptamtliche müssen genau hinhören und sollten darauf verzichten, «für ihre Belegschaften» zu handeln. Ein Gewerkschaftssekretär hat das in einem Gespräch ganz plastisch auf den Punkt gebracht. Er meinte, nachdem die IG Metall in einem Betrieb mal – ohne mit der Belegschaft richtig darüber zu reden – einen Tarifvertrag gemacht habe, sei einer der Arbeiter zu ihm gekommen und habe ihm gedroht: «Wenn ihr nochmal was unterschreibt, was mir Geld wegnimmt, dann hau ich dir auf die Schnauze.» Im Kern – das war die Schlussfolgerung des Hauptamtlichen – war das ein Stück Emanzipation und Demokratisierung. Stimmt auch.
Alle Gewerkschaftssekretäre, die wir interviewt haben, waren sich darin einig, dass Gewerkschaftsarbeit Vertrauensarbeit ist. Ohne diese Beziehung, die auf gemeinsamer Arbeit und auf Momenten des Vertrauensaufbaus basieren, geht eigentlich nichts nachhaltig. Auch das hat etwas mit Demokratisierung zu tun, denn Vertrauen ist sehr schnell verspielt.
* Thomas Goes ist Sozialwissenschaftler und arbeitet am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) an der Universität Göttingen. Die Studie kann kostenlos bei der Otto-Brenner-Stiftung heruntergeladen werden: www.otto-brenner-shop.de/publikationen/obs-arbeitshefte/shop/gewerkschaften-im-aufwind-ah83.html. Das Interview wurde am 15.4.2016 geführt und zuerst veröffentlicht unter www.organisieren-gewinnen.de; es kann dort in ungekürzter Länge nachgelesen werden.
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