von Leo Gabriel*
Vom 27. bis 30.April fand auf Burg Schlaining in Österreich eine von der internationalen Friedensinitiative www.peaceinsyria.org organisierte Konferenz statt. Sie hatte sich die Aufgabe gestellt, die Grundlagen einer neuen Verfassung für Syrien zu entwerfen.
Drei Tage hindurch erarbeiteten 28 Teilnehmende aus verschiedenen Landesteilen und unterschiedlichen religiösen und politischen Richtungen in Arbeitsgruppen und Plenarsitzungen eine acht Punkte umfassende Erklärung, die ein Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie und zu einer Frauenquote von 30% für alle öffentlichen Ämter enthält.
«Syrien ist ein demokratischer, nichtsektiererischer Staat, der auf den Grundsätzen voller und gleichwertiger Staatsangehörigkeit, auf politischem Pluralismus und Dezentralisierung bei der Gewaltenaufteilung zwischen Zentral- und Regionalregierungen aufgebaut ist und die Einheit des syrischen Staatsgebiets aufrechterhält.»
So selbstverständlich diese Forderungen für in Europa geschulte Verfassungsjuristen auch anmuten mögen; vor dem Hintergrund des derzeit – trotz partiell eingehaltenem Waffenstillstand – noch immer tobenden Krieges in Syrien klingen sie wie Schalmeientöne aus einer anderen Welt. Ihre Formulierungen sind das Ergebnis von stundenlangen, teilweise sehr heftigen Debatten, die in den Räumlichkeiten der mittelalterlichen Burg Schlaining im Südburgenland (120 Kilometer südlich von Wien unweit der Grenze zu Ungarn) stattgefunden haben.
Heikle Themen erfordern vorsichtige Formulierungen
Ganz besonders schwierig waren dabei Themen wie das Verhältnis von Religion und Staat oder die kollektiven Rechte der sogenannten Minderheiten, an denen Syrien ganz besonders reichhaltig ist. So wurde mit Rücksicht auf die islamischen Rebellengruppen, deren Vertreter letztendlich doch nicht kommen konnten, der scharfe Ausdruck «Trennung von Staat und Religion», wie ihn die europäischen Verfassungen enthalten, durch eine weitaus sanftere Formulierung ersetzt:
«Der syrische Staat verpflichtet sich zur absoluten und umfassenden Neutralität gegenüber allen Ethnien und Religionsgemeinschaften, respektiert alle Konfessionen und behandelt alle Menschen gleich, ohne sie wegen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, Ethnie, Konfession, ihres Glaubensbekenntnisses oder ihres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Status zu diskriminieren.»
Gerade diesbezüglich hatte es im Vorfeld der Konferenz heftige Kontroversen zwischen den arabischstämmigen Muslimbrüdern und den Kurden von der PYD (Demokratische Partei Westkurdistans) gegeben, die der türkischen PKK nahe steht. Dieser Konflikt hatte letztendlich dazu geführt, dass sich zwar einige namhafte Scheichs wie Riad Drar aus Der Azzor und der dem islamischen Milieu verhaftete Premierminister des Schattenkabinetts Ahmed Toma Alkheder an der Konferenz beteiligten, nicht aber die Vertreter der syrischen Muslimbrüder. Letzteres war u.a. auf die geopolitische Einflussnahme der Türkei zurückzuführen, die bis heute auch verhindert, dass sich die PYD an den Friedensverhandlungen in Genf beteiligen kann.
Aufgrund dieses Spannungsverhältnisses nahmen sich sowohl die Vertreter der PYD als auch der syrische Repräsentant des länderübergreifenden Nationalen Kurdischen Rats, der der irakischen HDP nahesteht, etwas zurück, als es um die verfassungsmäßige Verankerung des nicht nur für die Kurden wichtigen «Selbstbestimmungsrechts der Völker» ging, indem sie folgende Formulierung akzeptierten:
«Die Verfassung garantiert gleiche nationale Rechte für alle Ethnien des syrischen Volkes, und zwar in Übereinstimmung mit internationalen Abkommen und Konventionen.»
Wachsender Einfluss der Frauen
Weitaus kämpferischer traten hingegen die Vertreterinnen der syrischen Frauenorganisationen auf, die wie Madjoleen Hassan eigens aus Genf angereist waren, um sich an der Diskussion über eine neue syrische Verfassung zu beteiligen. Nach stundenlangen Diskussionen erreichten sie es, dass der folgende Punkt in die gemeinsame Erklärung aufgenommen wurde, der zugleich der längste und der umfangreichste war:
«Die Verfassung garantiert die Rechte der Frauen auf umfassende und gleichwertige Staatsangehörigkeit. Der Staat verpflichtet sich, Frauen zu ermöglichen, am öffentlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben zu partizipieren. Außerdem verpflichtet sich der Staat, Frauen als Entscheidungsträgerinnen zu fördern. Ferner sollen Frauen in allen eingesetzten und gewählten Gremien mit einem Anteil von mindestens 30%, der bis zum Gleichstand angehoben werden kann, vertreten sein. Außerdem garantiert der Staat Frauen das Recht, ihre Staatsbürgerschaft an ihre Ehemänner und Kinder weiterzugeben und die Rechte der Kinder im Einklang mit internationalen Abkommen zu gewährleisten.»
Ein Plan B für den Friedensprozess?
Obwohl derzeit noch nicht abzusehen ist, welchen Einfluss diese Konferenz auf die Friedensverhandlungen in Genf haben wird, wo derzeit über die Zusammensetzung einer Übergangsregierung mit oder ohne Beibehaltung der Präsidentschaft Bashar al-Assads gestritten wird, ist eines sicher: Es ist wesentlich leichter, einen Konsens zwischen den Organisationen der syrischen Zivilgesellschaft über eine zukünftige Verfassung zu erzielen, als über das Powerbroking, das derzeit in Genf unter der Ägide des UN-Chefkommissars Staffan de Mistoura stattfindet.
Mehr noch: Sollten die Verhandlungen über die Zusammensetzung der Übergangsregierung in Genf scheitern, könnte der Verfassungsprozess, der auf Burg Schlaining in Gang gekommen ist, eine Art innersyrischen Plan B darstellen. Denn im Unterschied zu Genf, wo die Vereinten Nationen von den Großmächten und deren Alliierten das Mandat bekommen haben, dafür zu sorgen, dass eine Übergangsregierung gebildet wird, die dann auf der Grundlage der bestehenden, von Bashar al-Assad im März 2012 reformierten Verfassung freie und demokratische Wahlen durchführen soll, hätte ein solcher Verfassungsprozess von unten den Vorteil, dass die so genannten Stakeholders, zu denen ja nicht nur Großmächte wie die USA, Iran und Russland zählen, sondern auch die weitaus weniger friedenswilligen Kräfte in der Türkei, Saudi-Arabien, Qatar, Irak, Libanon usw., diesen innersyrischen Konsensfindungsprozess viel weniger beeinflussen könnten.
Außerdem könnte diese Bottom-up-Strategie das eigentliche Ziel des Friedensprozesses sozusagen vorwegnehmen, indem sie zunächst einmal den Rahmen festsetzt, innerhalb dessen der Staat überhaupt erst funktionsfähig werden kann – oder, wie es der namhafte syrische Nationalökonom Aref Dalila bei der Schlaininger Verfassungskonferenz zum Ausdruck brachte:
«Das Argument, dass Bashar al-Assad bleiben muss, um das Chaos und den Zusammenbruch des syrischen Staates zu verhindern, ist Unsinn. Das Chaos und den Zusammenbruch gibt es bereits. Es liegt jetzt an uns Syrern, eine Ordnung herzustellen und den Staat wieder aufzubauen.»
* Der österreichische Journalist, Lateinamerika-Experte und Sozialanthropologe Leo Gabriel ist Mitglied des Internationalen Rats des Weltsozialforums und seit 2012 Mitbegründer der Internationalen Friedensinitiative www.peaceinsyria.org.
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