von europe-solidaire.org und Mailinglisten*
Der Ausgang des britischen Referendums über die EU ist in Kreisen der antikapitalistischen Linken sehr unterschiedlich interpretiert worden. Dabei kreist die Debatte hauptsächlich um zwei Fragen:
- War das JA zum Austritt ein Klassenvotum oder war es ein Punktsieg für die extreme Rechte? Hat sich das Kräfteverhältnis für die Linke dadurch verbessert oder verschlechtert?
- Welche Antwort gibt die Linke auf Globalisierung und De-Industrialisierung?
Wir veröffentlichen dazu einige Argumente (jeweils in Auszügen), die aufzeigen, an welchen Stellen alle Seiten gemeinsamen Diskussionsbedarf haben. Die Organisationsnamen hinter den Autorennamen dienen dabei lediglich der Kennzeichnung; die Meinungsverschiedenheiten gehen oft quer durch die Organisationen.
Aufstand der Klasse oder rassistisches Votum?
Hannah Sell (Socialist Workers Party – SWP/Großbritannien)
Es ist völlig falsch zu meinen, die Stimme für den Austritt habe hauptsächlich einen rechten oder rassistischen Charakter gehabt. Natürlich haben einige, die für den Austritt gestimmt haben, dies aus rassistischen oder nationalistischen Gründen getan, aber der Grundcharakter der Stimme für den Austritt war eine Revolte der Arbeiterklasse. Keine Bewegung der Arbeiterklasse ist völlig frei von reaktionären Elementen oder unterschwelligen Strömungen. Sozialisten müssen urteilen, was vorwiegt – in diesem Fall vorwiegend ein Aufstand der Arbeiterklasse an der Urne gegen das Establishment.
Erklärung der SWP nach dem Ausgang des Referendums
Es ist eine Lüge, dass die Millionen Wähler, die für den Austritt gestimmt haben, alles Rassisten wären. Die Hauptkampagne für den Austritt wurde von Rassisten und schrecklichen Kräfte der Rechten geführt, aber ein großer Teil der Stimmen für den Austritt war sehr anders. Eine Meinungsumfrage kurz vor der Wahl ergab, dass die Mehrheit der Austrittsbefürworter meinte, Einwanderung habe eine positive oder gar keine Auswirkung auf die Region, in der sie leben. Ein Fünftel meinte, Einwanderung wirke sich für Großbritannien insgesamt positiv aus.
Erklärung der AKL (Antkapitalistische Linke in der LINKEN)
Die Bevölkerung in Großbritannien wurde in einer einfachen Ja-Nein-Frage befragt, ob sie beim Thema EU noch auf der Seite der Regierungen in London und Brüssel stehe. Und sie hat Nein gesagt. Sie wurde nicht zum nationalistischen Geschrei der UKIP befragt, nicht zu Obergrenzen der Immigration und nicht zur Frisur von Boris Johnson. Das Nein ist hier die einzig angemessene Antwort…
Es ist gut, wenn die Politik und die Strukturen der EU ins Stocken kommen und am weiteren üblen Geschäft gehindert werden. Selbst wenn … die nationalistischen Krakeeler nicht zum Verstummen gebracht werden konnten, so ist die praktische Wirkung eines «Leave» beim britischen Referendum nützlich für eine antimilitaristische und antiimperialistische Politik überall in Europa…
In Spanien kann am Wochenende die Linke zum entscheidenden Faktor im Land werden. Wir begrüßen dies nicht nur für die Menschen in diesen Ländern, sondern auch als eine notwendige Ergänzung zur Blockade der EU auf den britischen Inseln.
Fred Leplat (Socialist Resistance/britische Sektion der IV.Internationale)
Die Basis der Labour Party hat für den Brexit gestimmt, weil sie den Mehrheitsdiskurs übernommen hat, dass die Einwanderer schuld an ihrer prekäre Lage, der Dürftigkeit der öffentlichen Dienstleistungen und dem Niedergang ihrer Kaufkraft sind.
Phil Hearse (Socialist Resistance)
Es sei daran erinnert, dass über 16 Millionen Menschen für den Verbleib gestimmt haben, darunter große Teile der Arbeiterschaft und von Labour-Unterstützern. Alle Großstädte mit Ausnahme von Birmingham haben für den Verbleib gestimmt. Es ist falsch zu sagen, dass sei deswegen, weil die Zentren dieser Städte von einer Masse an Wohlhabenden und Kleinbürgern bevölkert seien. Auch Innenstadtbezirke von London, die mehrheitlich von Arbeitern und multikulturell geprägt sind, stimmten für den Verbleib. Multikulturalismus ist dabei oft ein Schlüsselfaktor. Anders in Sunderland z.B., wo nur wenige Migranten leben, hier stimmten 60% für den Brexit. Die einzigen Londoner Arbeiterbezirke, die für den Brexit gestimmt haben, waren Barking, Dagenham und Havering. In Barking und Havering lebt vor allem die weiße Arbeiterklasse, die stark unter dem wirtschaftlichen Niedergang und der Verarmung gelitten hat. In beiden erzielt die extreme Rechte seit langem bedeutende Erfolge.
In Haringey aber mit seinen heruntergekommenen Gegenden stimmten 79% für den Verbleib. Das ist deshalb, weil Haringey stark multiethnisch und multikulturell geprägt ist. Viele junge Arbeiter haben heutzutage einen Uniabschluss und arbeiten (in der Regel schlecht bezahlt) am Schreibtisch. Sie stimmten vorwiegend für den Verbleib…
Armut und Entfremdung sind nicht der einzige Grund für das Stimmverhalten, andere kulturelle und politische Faktoren kommen hinzu. Zuvörderst das Alter. Die 18- bis 25jährigen haben massiv für den Verbleib gestimmt, die über 60jährigen für den Brexit. Viele junge Leute wurden auch nicht ins Wahlregister aufgenommen, weil sie eine prekäre Wohnsituation haben, die Alten gehen eher zur Wahl und das begünstigt immer konservative Haltungen.
Das Stimmverhalten bildete auch die Regionen ab, wo die UKIP eine bedeutende Wählerbasis hat oder die Rechte traditionell stark ist. Diese Basis hat sich in der letzten Zeit ausgeweitet, etwa in Südwales. Die De-Industrialisierung und der Niedergang der Arbeiterbewegung, manchmal in Verbindung mit einem demografischen Niedergang, weil die jungen Leute abgewandert sind, haben Labour und die Linke stark geschwächt. Das ist alles andere als neu.
Wie halten wir es mit der Personenfreizügigkeit?
Neil Davidson (SWP)
Frühere Angestellte der Fischereiindustrie in Schottland oder England können auf die Gemeinsame EU-Fischereipolitik mit ihren Fangquoten und Regulierungen verweisen, die zu ihrem Niedergang beigetragen hat. Das sind reale Sorgen, die nichts mit Rassismus zu tun haben, obgleich die UKIP und die Tories natürlich versuchen, das Wasser auf ihre Mühlen zu lenken.
Aus einer Mailingliste von Organisationen der IV.Internationale:
Ein polnischer Genosse
Der Sieg des Brexit wird ein Desaster für die große Mehrheit von fast einer Million EU-Arbeitern in Großbritannien und ihre Familien zu Hause und einen scharfen Aufschwung des Nationalismus in den osteuropäischen Ländern zur Folge haben.
Ein dänischer Genosse
Sollen wir den osteuropäischen Arbeitern zuliebe eine starke EU aufbauen? Sollen wir es den Kapitalisten in Nordeuropa noch leichter machen, billige Arbeitskräfte zu importieren? Die Entscheidung für den Brexit wird die Macht der EU schwächen. Sie kann sogar zu ihrem Zerfall führen. Jedenfalls fürchten das die herrschenden Klassen in Europa. Das wird es der EU viel schwerer machen, Spanien und Portugal zu drangsalieren, wenn sie nach einer Alternative zum Neoliberalismus und Austeritätspolitik suchen. In diesem Sinne ist der Brexit ein großer Sieg für die Arbeiter in Griechenland, Spanien und Portugal und auch für die Arbeiter in den restlichen europäischen Ländern, einschließlich Osteuropa.
Der polnische Genosse
Für polnische Arbeiter in Großbritannien wie in Polen ist der Brexit ein Desaster. Die 120000–140000 Arbeiter, die nach 2012 ins Vereinigte Königreich ausgewandert sind, werden nun ein Visum brauchen und das UK verlassen müssen, wenn sie es nicht erhalten. Die früher gekommen sind, können theoretisch dauerhaft bleiben, aber wir wissen, wie das in der Praxis läuft. Sie sind dann auch nicht mehr durch EU-Gesetze geschützt. Durch ihre Rückkehr wird auch der immer noch bedeutende Geldtransfer abnehmen, was einige Regionen in Polen besonders hart treffen wird. Es gibt im Königreich 6000 polnische Studierende, deren Studiengebühren werden drastisch steigen (derzeit fallen sie unter dieselben Regeln wie die Briten). Sie werden plötzlich massiv an Rechten verlieren. Sieht so ein großer Sieg der polnischen Arbeiterklasse aus?
Wenn ihre Arbeitskraft im Vereinigten Königreich zu billig ist, muss man für höhere Löhne für sie kämpfen, dabei helfen, sie zu organisieren usw.
Eine britische Genossin
Es erfüllt mit großer Sorge, dass die Lexit-Kampagne den Auswirkungen eines Brexit auf die Stellung der EU-Bürger in Großbritannien so wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Die SWP schreibt dazu: «Fast zwei Drittel der Ausländer in Großbritannien kommen von außerhalb der EU und bleiben [vom Brexit] unberührt.» Tatsächlich kommt die Mehrheit der Nicht-UK-Bürger im Königreich aus EU-Ländern (2,57 Millionen gegenüber 2,42 Millionen Nicht-EU-Bürgern); die meisten sind Polen (736000). Die Vorstellung, ein Brexit werde in eine Corbyn-geführte Labourregierung münden, ist reines Wunschdenken. Wann hat ein Sieg der Rechten jemals zu Fortschritten für die Linke geführt? Wenn es nach der Entscheidung für den Brexit Neuwahlen gibt, wird Corbyn verlieren. Ein linker Ausstieg aus der EU ist nicht im Angebot.
Eine Genossin aus Frankreich
Da ist nichts von einem «Sieg» für die Linke – und konnte nichts sein –, weder im Brexit noch im «Verbleib». Eine radikal linke Kampagne gegen die antisoziale und antigewerkschaftliche Linie der «Austerität» und ihr «TINA» hatte keine Chance, bei dieser Abstimmung zum Ausdruck zu kommen. Diese Linie wurde von Margret Thatcher durchgesetzt, alle Filme von Ken Loach beschreiben das. Die EU als Hauptursache für die soziale Misere verantwortlich zu machen ist nur ein Manöver, um zu verhindern, dass die Arbeiter sich gegen die herrschende Klasse in Großbritannien und in der EU wenden. Mit einem solchen Argument wird der «polnische Arbeiter» zum Sündenbock gestempelt.
Catherine Samary (NPA, Frankreich)
Eine linke Brexit-Kampagne hätte sein können: Wir brechen mit der EU, den europäischen Verträgen und unterstützen den Widerstand aller Völker in Europa gegen Austerität. Wir verbünden uns mit ihnen (Griechenland, Spanien, Portugal…), um andere Regeln und Grundsätze für eine andere Union zu erarbeiten und schlagen sie allen Völkern vor, die sich unserer Union anschließen wollen. Wir schlagen eine europäische Konferenz über die Staatsschulden dieser Länder vor und unterstützen Maßnahmen gegen die «illegalen» Schulden sowie ihre Weigerung, ohne eine öffentliche Anhörung weiter ihre Schulden zu bedienen. So etwas gab es in der Brexit-Kampagne nicht.
* Quellen: www.europe-solidaire.org; Mailinglisten.
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