Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2016

Eindrücke von der ersten Konferenz der Fluchthelferbewegung
von Karl-Ludwig Ostermann

«Ein kleines Stück Brot in der Heimat
ist besser als ein großes in Europa
– nur, Zuhause war kein Brot»

Plakat in Leipzig


Die Aktionskonferenz «welcome2stay» am zweiten Juniwochenende in Leipzig wird wohl von allen Beteiligten als außerordentlich großer Erfolg bewertet. Diese Einschätzung speist sich aus drei Faktoren: einmal der Beteiligung – sie lag mit etwa 800 Menschen weit über der Erwartung lag; sodann der Breite der beteiligten Initiativen und nicht zuletzt der Qualität der Arbeit in den Workshops. Es wurde aber auch Kritik geübt an einer zu beliebigen politischen Orientierung und zu geringen politischen Zuspitzung.

«welcome2stay» hatte den Anspruch, eine «Zusammenkunft der Bewegungen des Willkommens, der Solidarität, der Migration und des Antirassismus» zu sein. Die Organisatoren schrieben in der Einleitung: «Die wenigen Monate seit dem ‹summer of migration› haben unsere Gesellschaft verändert. Die Kraft der Migration hat Grenzen überwunden. Nun werden die Mauern um die Festung Europa wieder geschlossen, das Sterben an den Außengrenzen geht weiter. Rassistische Gewalt und rechte Wahlerfolge erreichen erschreckende Ausmaße. Aber gleichzeitig gibt es unzählige Erfahrungen der Begegnung, der Solidarität und des gemeinsamen Widerstands.»

Ob und inwieweit dieser erste Schritt des Zusammenkommens für eine stetige zukünftige Zusammenarbeit tragfähig ist, wird sich zeigen. Weitere gemeinsame Aktivitäten wurden verabredet, nun kommt es darauf an, den Faden nicht abreißen zu lassen.

Wege der Politisierung
Solche gemeinsamen Aktivitäten fallen nicht vom Himmel, sie haben immer eine konkrete Vorgeschichte. Für viele Beobachter tauchte «welcome2stay» jedoch erst im späten Frühjahr 2016 auf, ohne dass transparent gewesen wäre, wer die dahinterstehenden Akteure sind und wie die Idee zustande kam.

Der Bedarf, die Menschen zusammenzubringen, die im Sommer 2015, oft sehr spontan, für Flüchtlinge konkret aktiv geworden waren – «politische Arbeit mit der Suppenkelle in der Hand» – lag in der Luft, das war einhellige Ansicht aller befragten Akteure – gerade weil die Aktiven dann erleben durften, wie die Wünsche der Geflüchteten in den Mühlen der Bürokratie zur stumpfen Realität einer erneuten Abhängigkeit zermahlen, die Grenzen wieder zugemacht wurden und wie den soeben noch Geholfenen nun die Aussortierung in «nicht Asylberechtigte» und Abzuschiebende droht. Das Erleben dieses rasanten Umbruchs, die Wahrnehmung der nationalistisch-völkischen Fremdenabwehr und faschistischer Gewalttaten muss, so der Gedanke, bei den engagierten Flüchtlingshelfern zur Suche nach den politischen Hintergründen und darüber zum politischen Engagement führen.

So wurde auf dem «Bewegungsratschlag» der Linkspartei im November 2015 die Idee geboren, die Helferinnen und Helfer auf einem Kongress zusammenzuführen. Personen, die sich bereits aus bewährten Zusammenhängen und Bündnissen wie «Blockupy» kannten, diskutierten den Umbruch in der Solibewegung für Geflüchtete außerhalb des eigentlichen Programms des Bewegungsratschlages sozusagen am Pausentisch und kamen zu dem gemeinsamen Ergebnis, das Notwendige in dieser Form anzuschieben.

Die Vorbereitung des Kongresses wurde dann von einem kleinem Kreis getragen, der aus Vertretern der Linkspartei/Rosa-Luxemburg-Stiftung, von Attac, der Interventionistischen Linken, des Blockupy-Bündnisses und einzelner Initiativen bestand.

Die organisatorische Leistung war beeindruckend, vor allem was den Übersetzungsdienst in deutsch, englisch, französisch, arabisch und persisch betrifft. Selbst an einen Rückzugsraum und eine Betreuung für Menschen unter Stress wurde gedacht.

Das gemeinsame Essen auf dem Platz gegenüber dem Tagungsgebäude in der Abenddämmerung, auch als Ramadan-Fastenbrechen terminiert, hatte hohen kommunikativen Wert und strahlte soziale Zusammengehörigkeit aus.

Die Beteiligung
Die große Beteiligung überwiegend junger Leute entspricht dem Trend aktueller sozialer Bewegungen. Die Bandbreite der Initiativen war groß, sie reichte von sich selbst als militant verstehenden Gruppen, die versuchen, Abschiebungen durch Stadtteilaktionen oder Telefonketten zu verhindern (etwa in Dresden oder Göttingen), bis hin zu sehr bürgerlichen Initiativen wie «Moabit hilft» und kirchlichen Gruppen wie «Kirchenasyl Hanau». Gewerkschaftliche Initiativen vertrat «union4Refugees ver.di (Stuttgart); für Netzwerke zur Stadt- und Mietenproblematik waren «Recht-auf-Stadt»-Gruppen aus Hamburg oder Leipzig anwesend; selbstverwaltete, auf Flüchtlinge ausgerichtete Sozialzentren kamen aus Lübeck oder Göttingen. Internationale Initiativen waren «Hotel City Plaza» (Athen), «Watch the Med», «Refugee-support»-Gruppen mit Bezug auf Calais oder auf die Balkanroute, «Züge der Hoffnung», «Solidarity for all» aus Griechenland oder das «Refugee protest camp Vienna». Hinzu kamen eine Vielzahl örtlicher und kleinerer Initiativen.

Als größere Einrichtungen waren Medico international, Attac und das Institut für solidarische Moderne vertreten, auch das Münchener Institut isw. Nicht deutlich vertreten waren «Pro Asyl» und die Landesflüchtlingsräte, zu beiden Strukturen hatte der Vorbereitungskreis jedoch einen positiven Kontakt.

Sehr präsent war die Linkspartei mit Bundes-, Landes- und Leipziger Kräften sowie die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Deren Podien und Workshopangebote waren im Programmheft gesondert als «Veranstaltungen Die LINKE» ausgewiesen, sodass sich der Eindruck einer Rolle als Zweitveranstalter aufdrängte.

Die Teilnahme betroffener Flüchtlinge blieb hinter den Erwartungen zurück, sie lag geschätzt bei 15–20%. Dies wurde in vielen Diskussionsbeiträgen beklagt, insbesondere auch, dass geflüchtete Frauen kaum beteiligt waren. Einige wenige politisch erfahrene Männer, vor allem aus Syrien, Afghanistan oder Afrika repräsentierten die Refugees und brachten ihre Sichtweisen und Erfahrungen ein.

Arbeitsweise und Inhalte
Die Zusammenkunft gliederte sich in drei Plena, genannt «Panels», drei Workshophasen mit insgesamt etwa 40 Workshops und ein Abschlussplenum. Die Panels behandelten folgende Fragen:

  1. Das Jahrhundert der Migration – Flucht, Grenzen der «Willkommenskultur» und der Rechtsruck in Europa: Wie kann eine gesellschaftliche Kraft entstehen, die in der Lage ist, sowohl der neoliberalen sozialen Kälte als auch der rechten Angstkampagne entgegenzutreten – bei radikaler Infragestellung von westlich-nationalen Lebensweisen und Selbstverständnis?
  2. Refugees welcome – Autonomie der Migration und Bewegung des Willkommens: Kämpfe auf dem Weg und bem Ankommen. Der Kampf um das eigene Leben, um Würde und Rechte kann nicht entlang von Außengrenzen gedacht werden.
  3. In welcher Gesellschaft wollen wir leben? – Vom Willkommen zum Bleiben. Das Verhältnis von Solidarität, Hilfe und Politik.

Konfliktlinien und Schwerpunkte
Zwei Konfliktlinien durchzogen die Debatten: zum einen die Frage, ob Flüchtlingshelfer eine stabilisierende politische Rolle einnehmen, zum anderen die Frage nach der Rolle der Linkspartei, die als potenzielle und reale Regierungspartei agiert.

Die erste Konfliktlinie kam auf dem Podium von Panel 2 zur Sprache, als die Sprecherin von «Moabit hilft» gefragt wurde, wie angesichts der Öffnung staatlicher Strukturen gegenüber den Willkommeninitiativen verhindert werden könne, dass diese vereinnahmt werden und solidarisches Handeln zu einem Anhängsel einer gescheiterten Migrationspolitik verkommt. «Moabit hilft», angereist mit einem nagelneuen Kleintransporter mit Sponsoraufschrift von Springers Morgenpost, betonte in der Antwort, man dürfe sich an diesem Punkt nicht spalten lassen, räumte aber ein, dass die Initiative die staatlichen Regeln anerkennen müsse, es komme darauf an, hier Qualitätsstandards durchzusetzen. Dieses Problem durchzog viele Diskussionen in den AGs.

Die Linkspartei hatte in Person von Katja Kipping in ihrem Beitrag in Panel 3 versucht, die Politik ihrer Partei als ein Teil einer Mosaiklinken darzustellen, also einer Strategie, die mit unterschiedlichen Politikformen und -inhalten, aber dennoch aufeinander Bezug nehmend versucht, gesellschaftliche Transformationen herbeizuführen. Sie betonte die Rolle der Parlamentarier, die für diesen Prozess Öffentlichkeit herstellen und Ressourcen wie Gelder, offene Büros und Ansprechpartner bereithlten. Diese Darstellung entspricht der derzeitigen Öffnung der Partei zu außerparlamentarischen Bewegungen. Dem Problem, dass die Partei derzeit in den Parlamenten hilflos und einflusslos den Verschärfungen in der Flüchtlingspolitik ausgeliefert ist, wich sie ebenso aus wie dem Hinweis, dass «linke» Landesregierungen wie in Thüringen diese Politik umzusetzen haben und sie höchstens leicht abmildern können, Stichwort: «Winterabschiebestopp».

Ein dritter Schwerpunkt war ein Problem, das in Panel 3 am Beispiel Syriens so beschrieben wurde: Die Menschen sind in dem Konflikt mit dem Assad-Regime hochpolitisch geworden und haben gelernt, intensiv über die neuen Medien zu kommunizieren und Handeln zu koordinieren. Das war auch auf der Flucht so. Der «way of hope», der Marsch über die Autobahn von Budapest zur österreichischen Grenze wäre ohne die Entwicklung dieser autonomen und hochpolitischen Fähigkeiten nicht denkbar gewesen. Nun werden diese Menschen mit einer Bürokratie konfrontiert, die absolute Unterordnung fordert, die selektiert in Erwünschte und Unerwünschte und für die Unterbringung ein «Lagersystem» bereithält. Wie lässt sich in solchen Brüchen Solidarität buchstabieren? Wie sollte sich die Arbeit der Initiativen entwickeln, welche Forderungen sind vordringlich?: Aufhebung der Lager, Unterbringung in Wohnungen, Aussetzung der «Dublin-Regeln» und vieles andere mehr.

Perspektive
Über die weitere Perspektive wurde im Abschlussplenum diskutiert: «Die Zusammenkunft soll der Beginn eines offenen Prozesses werden. Wir wollen weitermachen, uns kennenlernen und erweitern, unsere Netzwerke und Zusammenarbeit stärken. Termin und Ort für unser nächstes Treffen am 4.September in Berlin haben wir bewusst geplant: Viele von uns werden sich an den antirassistischen Protesten gegen die AfD am Vortag beteiligen. Da kommt zusammen, was zusammen gehört … Trotz aller Vielfalt und Unterschiede: Wir wissen, was uns eint und uns verbindet. Gemeinsam wollen wir kämpfen: für das Recht zu kommen, zu gehen und zu bleiben – unabhängig von Pass und Herkunft. Für gleiche soziale und politische Rechte für alle. Das bedeutet auch, dass wir nicht der verlängerte Arm der Bundesregierung sind und nicht bereit sind, die mörderische EU-Außenpolitik hinzunehmen.»

http://welcome2stay.org/de/startseite

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