von Leo Gabriel*
Mit 35000 Teilnehmenden und mehr als 1250 Veranstaltungen war das Weltsozialforum im kanadischen Montréal zwar nicht das größte, aber vielleicht das außergewöhnlichste seiner Art. Die Tatsache, dass es zum ersten Mal in seiner 15jährigen Geschichte in einem Land des globalen Nordens stattgefunden hat, tat zwar der inhaltlichen Qualität keinen Abbruch, hatte aber dennoch seinen Preis.?
Wider Erwarten war etwa 200 von insgesamt 1000 Antragstellern aus dem globalen Süden von den kanadischen Botschaften und Konsulaten das Visum verweigert worden – unter ihnen auch der bekannten Schriftstellerin und Feministin Aminata Traoré aus Mali und dem ägyptischen Politikwissenschaftler Samir Amin.
Auch die für die Bewohner der Dritten Welt überaus teure Anreise hatte im Vorfeld des Weltsozialforums einen «Kahlschlag des Südens und fernen Ostens» befürchten lassen. Dass es dazu nicht gekommen ist, war vor allem den etwa 200 kanadischen Assoziationen zu verdanken, die Intellektuelle und Vertreter von Basisorganisationen aus Lateinamerika, Afrika und dem Mittleren Osten eingeladen hatten. ?Dabei war es verblüffend festzustellen, dass die Problemstellungen aus der Sicht des Nordens sich gar nicht so sehr von den Themen des Südens unterschieden, wie ursprünglich angenommen wurde. Der um sich greifende Krieg im Mittleren Osten und in Nordafrika sowie der Klimawandel und die mit beiden Phänomenen verbundene Migrationswelle standen ebenso im Mittelpunkt wie die Suche nach ökosystemischen und friedlichen Lösungen, um diese Probleme zu bewältigen.
So waren es schließlich etwa 100 Gruppierungen, Netzwerke und Allianzen von Basisorganisationen, die am letzten Tag ihre Lösungsvorschläge unterbreiteten, von denen die meisten mit der Forderung nach weltweiten Mobilisierungen verbunden waren. Ganz besonders erwähnenswert ist die Forderung nach einem Stopp des Extraktivismus, der in den letzten Jahren weltweit überhand genommen hat – nicht zuletzt durch kanadische Unternehmungen, den aber die linken Regierungen in Lateinamerika ebenso akzeptiert hatten wie die Rechten in Afrika oder Asien.
Interessant zu beobachten waren auch die Diskussionen über die sogenannten Commons, das bedingungslose Grundeinkommen und die Grundsätze einer solidarischen Ökonomie, die seit dem ersten WSF in Porto Alegre 2001 derart große Fortschritte gemacht haben, dass sie die Möglichkeit eines weltwirtschaftlichen Strukturwandels durchaus glaubhaft erscheinen lassen.
Natürlich wurde in Kanada auch den indigenen Völkern und ihrer Forderung nach Selbstbestimmung ein besonderer Platz eingeräumt, wobei weniger auf ihre spirituellen Grundlagen als auf die von diesen Völkern seit Jahrhunderten erhobenen Forderungen nach einem rigorosen Stopp der transnationalen Unternehmen eingegangen wurde, diee als die neuen Kolonisatoren angesehen werden.
Das alles überragende Thema neben dem Klimawandel waren aber die Auswirkungen der Kriege in Syrien, Afghanistan und den Ländern Nordafrikas auf die größte Migrationswelle in der Geschichte der Menschheit, für deren katastrophale Ausmaße vor allem die neoliberale und kriegerische Politik der Länder des Nordens verantwortlich gemacht wurden.
Angesichts dieser angespannten Weltlage forderte die überwiegende Mehrzahl der Mitglieder des Internationalen Rats eine eindeutigere Positionierung in bezug auf die Kampagnen der Palästinenser (BDS) und den Putsch in Brasilien, einige Vertreter christlicher Organisationen wollten sich der Forderung jedoch nicht anschließen, weshalb der Rat aufgrund des in diesem Gremium herrschenden Konsensprinzips ihr nicht nachgekommen konnte.
Die nächste Sitzung des Internationalen Rats wurde für Ende Januar 2017 (zeitgleich mit dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos) in Porto Alegre, Brasilien, anberaumt, die auch darüber entscheiden soll, wann und wo das nächste Weltsozialforum stattfinden soll.
* Leo Gabriel ist Journalist und Anthropologe, Mitglied des Internationalen Rats des Weltsozialforums.
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