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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2016

Der Staatsstreich hinter dem Putsch
von Emre Öngün

Der Putschversuch in der Türkei in der Nacht vom 15. auf den 16.Juli 2016 wirft zahlreiche Fragen auf: über die dahinter stehenden Kräfte, aber auch über die politische Neuordnung, die nach seiner Niederschlagung in Gang gekommen ist.

Am 15.Juli hat nicht die Armee geputscht, sondern eine Minderheit von Offizieren, die schon nach wenigen Stunden gescheitert sind. Ihre Schwäche, ihre Unfähigkeit, die Mitglieder der Regierung zu verhaften, die Absurdität des Vorhabens im Nachhinein, befeuerte die Theorie des «Selbstputsches»: Erdogan, der vor Desinformationen nie zurückgeschreckt ist, habe einen Pseudoputsch inszeniert, um seine Herrschaft über das Land zu stärken. Diese Hypothese stützte sich auch auf die Tatsache, dass innerhalb weniger Tage Zehntausende Beamte suspendiert wurden, was nahelegt, dass es vorbereitete Listen gab.

Doch die Hypothese ist kaum glaubwürdig. Schon vor dem Putschversuch hatte Erdogan alle Hebel in der Hand, um das politische Feld in der Türkei neu zu bestellen, und er war seit den Wahlen vom November 2015 auf diesem Weg ein gutes Stück vorangekommen.

Wo war die Armee?
Die erste mögliche Erklärung lautet: Die Putschisten, vor allem die Gülen-Anhänger in der Armee, hätten alles auf eine Karte gesetzt, da sie fürchteten, dass der Oberste Militärrat – die gemeinsame Instanz von Militärhierarchie und Regierung, die sich einmal im Jahr Anfang August trifft und vor allem die Beförderungen festlegt – es darauf abgesehen hatte, sie hinauszusäubern.

Doch das allein reicht zur Erklärung einiger Ungereimtheiten nicht aus. Wie lässt es sich z.B. erklären, dass etwa hundert Soldaten beginnen konnten, eine wichtige Brücke über den Bosporus zu besetzen und damit «öffentlich» den Beginn des Putsches zu markieren, während sich zeitgleich viele tausend Soldaten der I.Armee in Istanbul aufhielten, deren Kommandeur jedoch als einer der ersten den Putschversuch verurteilt? Wo war das in Ankara stationierte 1.Armeekorps, während dort die Konfrontation stattfand und das «Herz» der Streitkräfte, der Sitz des Generalstabs, von den Putschisten symbolisch besetzt wurde? Wo waren die zahlreichen F-16 der türkischen Armee, während die Putschisten, einige Stunden nach Beginn des Staatsstreichs, als letztes Mittel das Parlament bombardierten, in dem sich etwa hundert Abgeordnete aufhielten?

Die offizielle These der AKP lautet: «Eine kleine Minderheit von Militärs hat dies getan; das Volk hat sich widersetzt und die Demokratie gerettet.» Abgesehen davon, dass die Rolle der Polizei (fortan die Bastion der AKP) dabei unterschlagen wird, erlaubt diese Darstellung nicht zu begreifen, warum die große Mehrheit der Armee nicht gegen die Putschisten eingesetzt wurde. Dies wäre ein deutlich schnellerer und bequemerer Weg gewesen, um den Putschversuch im Keim zu ersticken. Doch die türkische Armee hat beim Widerstand gegen den Putsch keine Rolle gespielt. Sie war in ihrer großen Mehrheit paradoxerweise die große Abwesende dabei.

Es ist unwahrscheinlich, dass wir kurzfristig erhärtete Fakten zu diesem Putschversuch haben werden. Doch sollte man sich zumindest vor der Vorstellung hüten, der Begriff «Kemalist» würde eine präzis umschriebene Denk­richtung (in der Gesellschaft oder in der Armee) oder eine bestimmte Gruppe in der Militärhierarchie bezeichnen.

So konnte man vor dem Putsch eine Annäherung zwischen gewissen – von der Gülen-Bewegung bekämpften – «republikanisch-etatistischen» Sektoren der Armee und der AKP-Regierung beobachten. Der Krieg gegen die Kurden hat diese Annäherung erleichtert, die gemeinsame Basis bildet der Nationalismus, der auch von der Gülen-Bewegung geteilt wird.

Interessante Hinweise für ein Verständnis der Situation liefern die Aussagen des linken türkischen Journalisten Ahmet S?k in einem Interview für die türkische Ausgabe der Deutschen Welle. Laut S?k, einem der besten Kenner der Gülen-Bewegung, waren an den Planungen des Staatsstreichs sowohl Gülen-Anhänger als auch Personen beteiligt, die aus traditionelleren Milieus der türkischen Armee kommen und in gemeinsamer Opposition zu Erdogan stehen. Diese Allianz hätte sich jedoch im Verlauf des Putsches aufgelöst, wobei ein Teil den anderen verriet. Die Fraktion der Gülen-Anhänger, aber nicht nur sie, hätten dann «in der Luft» gehangen, nachdem sie zur Tat geschritten waren. Dies würde erklären, warum die Putschisten sich auf die Sache eingelassen hatten: Sie glaubten, über bedeutendere Reserven zu verfügen.

S?ks These lautet, die Regierung habe erst wenige Stunden vor dem Putsch davon erfahren. Presseberichten zufolge haben die ersten verdächtigen Truppenbewegungen am Nachmittag begonnen, der Generalstabschef wurde schon gegen 17 oder 18 Uhr als Geisel genommen. Die Regierung habe, als der Putsch in vollem Gange war, interveniert, um mit einem Teil der Beteiligten zu verhandeln und den anderen Teil zu isolieren. Sie habe damit den Putsch zum Scheitern gebracht, wonach Erdogan ohne großes Risiko an seine Basis – an die Polizei und die Zivilbevölkerung – appellieren konnte. Unter diesen Bedingungen sei es für einen Teil der Armee, einschließlich der ursprünglich mit den Putschisten verbundenen Kräfte, offensichtlich klüger gewesen, nichts zu unternehmen. Die ersten Verhaftungswellen gegen Individuen, die direkt in den Putschversuch involviert waren, zeigen eine Überrepräsentation von Offizieren der Gendarmerie sowie, in geringerem Maße, der Marine und der Luftwaffe, während das Heer – der bedeutendste Teil der Armee – unterrepräsentiert war.

Der Krieg der Komplizen
Die Nacht vom 15. zum 16.Juli sah somit die Konfrontation zweier Lager, deren Hauptkräfte vor einigen Jahren noch Verbündete gewesen waren. Tat­sächlich kommen die Bewegung von Fetullah Gülen und die von Milli Görüs (Nationale Vision), die Hauptformation des türkischen politischen Islam, aus der Recep Tayyip Erdogan hervorgegangen ist, aus denselben Milieus, wobei sie Konkurrenten waren.

Sie haben ihre Wurzeln im anatolischen Kleinbürgertum und haben in den 60er Jahren im Rahmen des «Kampfes gegen den Kommunismus» ihre Selbständigkeit bewahrt. Nach dem Staatsstreich von 1980 näherten sich die Träger des türkisch-sunnitischen Islam und und Verfechter der freien Marktwirtschaft einander an, die beiden Strömungen wurden dadurch gestärkt, bis sie zu Hauptpartnern des seit 2002 regierenden Blocks an der Macht wurden. Beide Strömungen teilen ein konservatives, kapitalistisches, etatistisches und sogar nationalistisches Konzept vom Islam. Ihre Differenzen beruhen auf den von ihnen angewandten Strategien.

Die Bewegung Milli Görüs hat ihre Tätigkeit stets auf die politische Sphäre konzentriert. Sie entstand nach der Wahl ihres Gründers Necmettin Erbakan zum unabhängigen Abgeordneten von Konya (Anatolien). Erbakan war, bevor er Abgeordneter wurde, Vorsitzender der Union der Handelskammern gewesen, was ihn zu einem autorisierten Sprecher des anatolischen Kleinbürgertums machte. Er gründete 1970 seine erste Partei, die Partei der nationalen Ordnung (MNP) – mit Unterstützung der konservativen Sufi-Brüderschaft. Diese Partei war in der Lage, in den 70er Jahren als Juniorpartner in Koalitionsregierungen einzutreten.

Fetullah Gülen verfolgte einen anderen Weg, er begann als Prediger der Nurculuk-Bewegung im Milieu der Kleinhändler von Izmir.

Das Volk?
Die von der Regierung kommunizierte Lesart: «Eine kleine Minderheit von Militärs hat diese Akte begangen, das Volk hat sich ihnen widersetzt und die Demokratie gerettet», vernebelt zum einen die reale Rolle der Armee. Zum zweiten verklärt sie aber auch das, was sie «das Volk» nennt. Diese offizielle These enthält einen Teil der Wahrheit, aber ist auch Trägerin von zwei Elementen der Pro-AKP-Propaganda.

Unleugbar hat es eine Massenmobilisierung gegen den Putsch gegeben und innerhalb dieser Menge haben einige wirklich ihr Leben riskiert und verloren. Niemand hat auch je geleugnet, dass Erdogan über eine reale Massenbasis verfügt und die Putschisten keinerlei soziale oder politische Basis hatten (schließlich haben alle Parteien im Parlament den Putsch einmütig verurteilt).

Doch es ist nicht «das Volk» auf die Straße gegangen, sondern nur ein Teil der Bevölkerung. «Quantitativ» war diese Massenmobilisierung nichts im Vergleich zu den Massen, die 2002 in Venezuela gegen den Putschversuch der Chávez-Gegner auf die Straßen strömten. Politisch waren es im wesentlichen die Sympathisanten der AKP (auch wenn man auf manchen Bildern Fahnen der CHP erkennen kann, der etatis­tisch-nationalistischen «Mitte-links»-Partei, Hauptkraft der parlamentarischen Opposition).

Unleugbar ist auch, dass die Pu­tschis­ten eine unmittelbare Bedrohung für die demokratischen Rechte darstellten und besiegt werden mussten. Doch eine Abwehrreaktion aus der Bevölkerung gegen einen Putsch beinhaltet nicht an sich schon ein Demokratisierungspotenzial. So ist es nicht gewesen und so konnte es auch nicht sein, wenn man sich den Typ der Kräfte vor Augen hält, die gegen den Putschversuch wirklich mobilisiert wurden.

Diese Mobilisierung war von A bis Z vom Erdogan-Regime geleitet und blieb strikt innerhalb der Grenzen der Verteidigung des Regimes; um dessen Demokratisierung ging es nie. Der den Putschisten entgegengebrachte wilde Hass schwappte in den folgenden Tagen auf alle – realen wie eingebildeten – Gegner des Regimes über.

Diejenigen, die in der Nacht vom 15. zum 16.Juli und in den folgenden Tagen auf den Straßen waren, waren in ihrer Mehrheit gewiss keine «Faschisten», sondern «Männer (Frauen waren fast keine dabei) der Straße», aus den Milieus, die die Wählerbasis der AKP bilden. Jedoch wurden sie eingerahmt, nicht von der Orientierung, die die Regierung – mit Verspätung! – ausgab, sondern auch von wirklich reaktionären Aktivisten, bisweilen IS-Anhängern, die mit dem Regime verbunden waren – das ergaben Untersuchungen und Zeugenaussagen an Ort und Stelle. Diese Kräfte konnten die Kundgebungen in den Tagen nach dem Putsch unschwer gegen die von Minderheiten bewohnten Stadtviertel lenken, etwa in Malatya gegen das Alevitenviertel von Pasaköskü.

Einheitsfront
Der Putschversuch war am Morgen des 16.Juli bereits Geschichte, als die Machthaber zu Massenverhaftungen und Säuberungen übergingen, womit sie den schon vor dem Putschversuch eingeleiteten Umbaus des Regimes weiter beschleunigten.

Dieses Regime ist nicht einmal nach Maßstäben des bürgerlichen Parlamentarismus als demokratisch zu bezeichnen. Das Vorhandensein von Wahlen reicht dazu nicht aus. Die Wahlen schaffen die Illusion einer Ähnlichkeit mit bürgerlich-demokratischen Systemen und verschleiern die willkürlichen Verhaftungen, die Attentate von Pro-IS-Gruppen (die der Staat gewähren lässt) auf Oppositionelle, die Tötung von Demonstranten durch Polizisten, die Zerstörung kurdischer Ortschaften und Ermordung ihrer Bewohner durch staatliche Organe, die koordinierte Welle antikurdischer Pogrome im September 2015, die Inhaftierung zahlreicher kurdischer Kommunalpolitiker usw.

Der 15.Juli war keine Massenmobilisierung gegen einen Militärputsch, um ein parlamentarisches System zu verteidigen, das von einem konservativen Politiker geführt wird. Es war ein im Keim erstickter Militärputsch, ergänzt um einen zivilen Staatsstreich, der Fahrt aufgenommen hat und dessen Ausgang jetzt noch gar nicht absehbar ist. Der Rahmen, in dem er jetzt operiert, ist der Ausnahmezustand.

Die erste dringende Aufgabe der demokratischen oppositionellen Kräfte besteht nun in der Schaffung einer Einheitsfront mit der HDP und allen, die dafür zur Verfügung stehen. Es muss eine Koalition geschaffen werden, die sich auf die demokratischen Rechte und die Wiederaufnahme eines Friedensprozesses konzentriert.

Dabei darf man nicht darauf verzichten, auch die Anhängerschaft der AKP anzusprechen. Das ist eine langfristige  Herausforderung, denn sie wird derzeit vom reaktionären Apparat der AKP in Beschlag genommen, was es sehr schwer macht, an sie heranzukommen. Erfolge bei betrieblichen Konflikten sind dazu notwendig, aber nicht hinreichend; solche Mobilisierungen sind noch lokal beschränkt und führen nicht zu einer Organisierung über den Betrieb hinaus.

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