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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2016
Ausgleich der Institutionen scheitert
von Ingo Schmidt

Angst herrscht in Europa. In den Gläubigerstaaten der Eurozone die Angst, Brüssel würde vom Munde abgesparte Steuergelder zur Subventionierung eines ausschweifenden Lebensstils in Südeuropa verschwenden. In den Schuldnerstaaten die Angst, von Brüssel und Berlin erst an den Bettelstab gebracht zu werden und dann vielleicht doch noch aus dem Euro zu fliegen. Quer durch die EU die Angst vor Flüchtlingen, die es sich in Westeuropas Sozialsystemen bequem machen oder mit osteuropäischen Wanderarbeiten um knappe Jobs im Westen konkurrieren.

So sehr die Institutionen der EU als Ursache dieser teils realen, teils eingebildeten Bedrohungen angesehen und mitunter zum Teufel gewünscht werden, gibt es aber auch verbreitete Ängste, die EU könnte sich in eine Sammlung gescheiterter Staaten verwandeln, ähnlich jenen, aus denen beständig Menschen nach Europa fliehen, weil sie sich dort ein besseres Leben, wenigstens aber Sicherheit vor Krieg und Terror erhoffen.

Blitzableiter EU
Angst und Unsicherheit angesicht zunehmender sozialer Ungleichheit und Unsicherheit äußern sich zum einen im wachsenden Wunsch nach Abschottung und Ausgrenzung, daneben aber auch in der zunehmenden Ablehnung «derer da oben», von denen sich immer mehr Menschen abgehängt und selber ausgegrenzt fühlen. Entsprechend unbeliebt sind Banker, Bosse, Politiker und deren mediale Vertreter. In den letzten Jahren ist die EU immer mehr zum Blitzableiter für die Wut auf «die da oben» geworden. Daran sind die Repräsentanten der EU zu einem guten Teil selbst schuld.

Im Gegensatz zur EZB, die erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung in Europa gewonnen hat, haben die gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments jedoch kaum Entscheidungsbefugnisse, während die Kommission im wesentlichen Entscheidungen umsetzt, die von den im Europäischen Rat versammelten Regierungen getroffen wurden. Um von dieser Ohnmacht abzulenken, drängen Straßburger Parlamentarier und Brüsseler Kommissare beständig ans Licht der Öffentlichkeit.

Dagegen überlassen die Regierungen der Mitgliedstaaten die Verkündung unliebsamer Entscheidungen gern der Kommission, präsentieren sich gegenüber der eigenen Wählerschaft mitunter sogar als Wahrerin nationaler Interessen. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass die Politik der EU im wesentlichen vom Rat, und hier von den tonangebenden Regierungen und den am besten organisierten Kapitalfraktionen bestimmt wird.

Diese Politik hat in den vergangenen Jahrzehnten zwar eine ganze Reihe neuer Institutionen geschaffen, die dem sozialen Ausgleich dienen sollen, aber zugleich den Abbau nationalstaatlicher Sicherungssysteme in einem Maße vorangetrieben, das von europäischen Institutionen auch nicht ansatzweise ausgeglichen werden kann. Die Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der von ihnen repräsentierten Standorte im Blick, nutzen die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten die EU als Hebel zur Umsetzung wettbewerbsfördernder Maßnahmen. Statt die Ungleichheiten zu beschränken, wie es einst die Sozialdemokratie und noch heute die Bannerträger eines europäischen Sozialmodells versprechen, trägt diese Politik zur Vertiefung der Ungleichheit und den damit verbundenen Ängsten bei.

Ungleichheit in und zwischen den Mitgliedstaaten
In allen Mitgliedstaaten der EU steigt der Anteil befristeter Arbeitsplätze an der Gesamtbeschäftigung, nimmt die unfreiwillige Teilzeitarbeit zu, werden Kündigungsschutz, Arbeitslosenunterstützung und Renten gekürzt. Die Folge ist eine zunehmende Einkommensspreizung. Weil die Reallöhne immer weiter hinter der Arbeitsproduktivität hinterherhinken, Gewinne und Vermögen hingegen im Namen von Unternehmerinitiative und Investitionsneigung zunehmend von der Besteuerung ausgenommen werden, steht der zunehmenden Armut ein immer stärker konzentrierter und politisch entsprechend durchsetzungsfähiger Reichtum gegenüber.

Auch zwischen den Mitgliedstaaten hat die Ungleichheit zugenommen. Beträgt die Arbeitslosigkeit in Dänemark 4,2%, so sind es in Spanien 19,9%, in Griechenland 23,3%. In Europas Armenhaus Bulgarien liegt die Arbeitslosigkeit mit 6,8% zwar niedriger als in den reichen Niederlanden mit 7,5%. Das liegt aber daran, dass die Bevölkerung rückläufig und die Auswanderung massiv ist. Seit 1990 ist die Bevölkerung in Bulgarien um über 1,5 Millionen Personen auf nunmehr 7,2 Millionen geschrumpft. Aus Polen, in dem eine höhere Geburtenrate die Bevölkerungszahl bei 38 Millionen Personen halten konnte, sind seit 1990 2 Millionen Menschen auf der Suche nach Arbeit nach Westen abgewandert.

Höchst ungleich sind auch die Einkommen in Europa. Die Mindestlöhne reichen von 1,06 Euro in Bulgarien über 3,35 Euro im krisen- und troikagequälten Griechenland bis zu 11,12 Euro in Luxemburg. Die Ungleichheit der Mindestlöhne und darauf aufbauender Lohnskalen schlägt sich auch in den Pro-Kopf-Einkommen nieder, in deren Berechnung freilich die gesamte Bevölkerung, unabhängig von Art und Höhe ihrer Einkommen eingeht. Wird das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in der EU gleich 100 gesetzt, reicht die Spanne von 18,4 in Bulgarien und 24,2 in Rumänien bis 275,3 in Luxemburg. In Polen liegt der Wert bei 33,5, in Deutschland bei 111,5.

Außenwirtschaftliche Ungleichgewichte
Ein wichtiger Grund für die wachsende Ungleichheit zwischen den Mitgliedstaaten der EU sind die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte, die vor der Krise bestanden, und die Art, wie sie während der Krise politisch verarbeitet wurden. Vor der Krise floss reichlich Kapital nach Ost- und Südeuropa. Ein äußerst geringer Teil dieses Kapitals, das sich zudem auf wenige Länder, insbesondere auf Polen, Tschechien und Ungarn konzentrierte, wurde zum Aufbau produktiver Kapazitäten verwendet. Der größte Teil finanzierte einen Immobilien- und Konsumboom, in dessen Verlauf viele Länder zweistellige Leistungsbilanzdefizite aufhäuften. Den Rekord stellte Bulgarien 2007 mit 26,6% auf.

Eine extrem harte Austeritätspolitik, die in Osteuropa schon vor Ausbruch der Eurokrise in Griechenland, Portugal und Spanien 2010 begann, führte zwar zum Abbau dieser Leistungsbilanzdefizite, gleichzeitig aber zu einem massiven Anstieg von Arbeitslosigkeit und Auswanderung. Die damit korrespondierende Einwanderung in die westeuropäischen EU-Länder blieb von der breiten Öffentlichkeit zunächst ebenso unbemerkt wie die Sparprogramme, die in Osteuropa die neue Auswanderungswelle auslösten.

Erst unter dem Eindruck der Massenflucht aus Syrien und einigen afrikanischen Ländern nahmen auch Westeuropäer, die nicht unmittelbar um Arbeitsplätze mit osteuropäischen Einwanderern konkurrierten, von der Binnenwanderung innerhalb der EU Notiz. In der Brexit-Kampagne wurden Niedriglohnarbeiter aus Polen, Rumänien und Bulgarien als ebenso bedrohlich für Souveränität und Wohlstand Großbritanniens dargestellt wie Flüchtlinge aus Syrien, Algerien oder Marokko.

Export von Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Angst
Den von Leistungsbilanzdefiziten und Sparpolitik hart getroffenen Ländern stehen in der EU jene Länder gegenüber, die mittels beständiger und hoher Leistungsbilanzüberschüsse Arbeitslosigkeit in andere Länder exportieren. Damit, und mit den damit korrespondierenden Kapitalexporten, haben sie zur Verschuldung und Krise in Ost- und Südeuropa beigetragen, freilich mussten sie sich, nachdem die Sparpolitik im Osten und Süden die Aufnahmefähigkeit für Waren und Kapital aus dem Westen drastisch beschränkt hat, stärker als zuvor Märkte außerhalb der EU suchen.

Dies ist den meisten traditionellen Überschussländern auch gelungen. Während sich Dänemark und Schweden mit Leistungsüberschüssen von 6,0 bzw. 5,7% gemessen am Bruttoinlandsprodukt noch recht bescheiden ausnehmen, stehen die Niederlande mit 9,9% an der Spitze dieser Ländergruppe. Aufgrund seiner um ein vielfaches größeren Bevölkerung und Gesamtwirtschaft fallen die 8,1% Deutschlands allerdings sehr viel mehr ins Gewicht. Selbst konservative Ökonomen sehen in diesen Überschüssen mittlerweile weniger den Ausweis überlegener Wettbewerbsfähigkeit als Vorboten künftiger Schulden- und allgemeiner Wirtschaftskrisen in und außerhalb der EU.

Diese Prozesse untergraben die Legitimation der EU, vielleicht sogar des Kapitalismus in Europa, tragen aber keineswegs im Selbstlauf zur Entwicklung und Durchsetzung politischer und ökonomischer Alternativen bei. Dazu mehr in der nächsten Ausgabe.

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