von Ezgi Basaran*
Nach dem 9. September 2011 wurde Gülen im Westen als Alternative zum aufsteigenden radikalen Islamismus gehandelt, als Verfechter des Friedens und interkulturellen Dialogs. Kenner der Gülen-Bewegung weisen diese Zuschreibung zurück. Die Journalistin Ezgi Basaran schreibt dazu auf hürriyetdailynews.com:
Die Gülen-Bewegung hat zwei Schichten. Die erste besteht aus den zahlreichen Anhängern Fetullah Gülens, die glauben, er sei der neue Mahdi, die islamische Version des Messias. Die zweite Schicht bilden die hochrangigen Vertreter seiner Bewegung, die als geheimes Netzwerk operieren und sich im Sicherheitsapparat und in der Justiz eingenistet haben, um ihre Ziele mit machiavellistischen Methoden zu erreichen. Seine Anhänger in der Verwaltung, der Justiz, der Polizei und der Armee stehen loyaler zu Gülen als zu den Institutionen, für die sie arbeiten.
Fetullah Gülen glaubt an die heimliche und schrittweise Machtübernahme des Staatsapparats von innen. Einer der Anklagepunkte 1999 gegen ihn bezog sich auf eine seiner frühen Predigten, in der er gesagt hatte: «Ihr müsst in die Arterien des Systems eindringen, ohne dass jemand eure Anwesenheit bemerkt, bis ihr alle Zentren der Macht erreicht habt … Ihr müsst auf den Augenblick warten, an dem ihr vollzählig seid und die Bedingungen reif sind und wir die gesamte Welt übernehmen und mitreißen können … Ihr müsst warten, bis ihr die gesamte Staatsmacht errungen, alle Macht der verfassungsmäßigen Institutionen in der Türkei auf eure Seite gebracht habt … Bis dahin wird jeder Schritt zu früh sein, wie wenn man ein Ei öffnet, bevor es ausgebrütet ist.»
Gülens Unterwanderung des türkischen Staatsapparats begann in den späten 80er Jahren. Das Treiben seiner Anhänger wurde stillschweigend von allen Regierungen geduldet, von Bülent Ecevit, Süleyman Demirel wie von Tansu Ciller, obwohl das kemalistische Establishment und die Armee, die sich ja als Wächterin über den säkularen Staat sah, ihn immer als Bedrohung empfanden.
Die Gülen-Bewegung erlebte ihre goldenen Jahre im ersten Jahrzehnt der AKP-Regierung. Ursprünglich hatte die AKP ein Bündnis mit ihr geschlossen, um die Armee von der politischen Macht zu verdrängen. Das Bündnis trat am deutlichsten 2007 zutage, als das Militär ein elektronisches Memorandum veröffentlichte, das sich gegen die Präsidentschaft von Abdullah Gül wandte. 46 Tage später startete der Fall Ergenekon. [Ergenekon bezeichnete eine Verschwörung, die verschiedene Anschläge auf die staatlichen Institutionen vorbereitet haben soll.] 2010 folgte das Vorgehen gegen die «Operation Sledgehammer». In beiden Fällen wurden Militärangehörige, oppositionelle Abgeordnete und Journalisten beschuldigt, einen gewaltsamen Staatsstreich gegen die AKP-Regierung zu planen. Später stellte sich heraus, dass die Anschuldigungen beidesmal auf gefälschten Beweisen basierten, die zumeist von Gülen-Anhängern in der Polizei gefertigt worden waren. Alle Angeklagten wurden 2015 von den Vorwürfen freigesprochen. Präsident Erdogan behauptete später, er sei von Gülens Anhängern im Staatsapparat fehlgeleitet worden.
Der 15.Juli hat nun gezeigt, dass Gülens Anhänger tatsächlich gewaltsame Putschpläne gehegt haben.
Haupttreiber gegen die Kurden
Journalisten, die über die Machenschaften Gülens in diesen Prozessen schrieben, wurden mit Schmutzkampagnen und Haftdrohungen überzogen. Baris Terkoglu, Baris Pehlivan, Soner Yalçin, Nedim Sener und Ahmet Sik mussten dafür ins Gefängnis. Sik schrieb ein Buch über das Treiben von Gülens Bewegung in der Polizei, während Sener der Frage nachging, was die Anhänger Gülens mit dem Mord an dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink 2007 zu tun hatten. Jetzt stehen Offiziere mit Verbindungen zur Gülen-Bewegung vor Gericht wegen Mordes an Dink.
Die Gülen-Bewegung hat zudem mit aller Macht den Friedensprozess mit den Kurden hintertrieben. Ihr erster Coup war die Massenverhaftung 2009 von fast 8000 kurdischen Aktivisten, gewählten Bürgermeistern, Akademikern und Journalisten. Der prominente kurdische Politiker Haiti Dicke sagte damals: «Nachdem wir 2009 bei den Kommunalwahlen hundert Bürgermeisterposten erobert hatten, kamen sie auf die Idee mit diesen Verhaftungen, um uns zu terrorisieren.» Nicht nur die Kurden, auch die AKP-Regierung sprach davon, es habe die Gülen-Bewegung hinter den Massenverhaftungen gesteckt.
Der zweite Coup war das Durchsickern von Aufzeichnungen der geheimen Friedensgespräche in Oslo, die der Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, Haken Fidan, mit der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) führte. Nur die Gülenisten im Sicherheitsapparat hatten die Mittel, an dieses streng geheime Material heranzukommen, und sie waren auch diejenigen, die es am eifrigsten streuten.
Den dritten Coup landete die Bewegung, als sie am 7.2.2012 versuchte, Fidan und andere vormalige Geheimdienstchefs wegen dieser Verhandlungen verhaften zu lassen. Der Versuch wurde von den Gülenisten in der Justiz unterstützt.
Netzwerk in der Armee
Im Jahr 2009 hat der Militärstaatsanwalt Ahmet Zeki Üçok gegen die gülenistischen Umtriebe in den Streitkräften ermittelt. Er entdeckte ein breites Netzwerk in der Armee und konnte viele seiner Mitglieder namentlich erfassen. Er konnte seine Ermittlungen aber nicht zu Ende führen, denn er wurde festgenommen, weil er einige Zeugen gefoltert haben soll, indem er sie «hypnotisierte», und auch am Fall Sledgehammer beteiligt gewesen sei. Es saß fünf Jahre im Gefängnis. Im vergangenen April erzählte er in einem Interview, er kenne die Gülenisten in der Armee alle mit Namen. Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch im vergangenen Juli erklärte er, die Anführer des Putsches passten perfekt zu der Liste, die er habe.
Mit Bezug auf die F-16, die das türkische Parlament bombardiert hat, erinnerte er an die Worte des inzwischen pensionierten Oberst Selçuk Basyigit in den Gerichtsprotokollen: «Wir sind jetzt sehr stark. Wir haben F-16, F-14, die nur auf den Befehl von Fetullah Gülen warten um abzuheben.» Üçoks Aussagen wurden von zahlreichen Soldaten bestätigt, die sich gegen den Putschversuch stemmten, bzw. von solchen, die im Sledgehammer-Prozess Opfer falsch beschuldigt wurden.
Auch alle politischen Parteien im Parlament, bis hin zur HDP, sind sich darin einig, dass der Putschversuch am 15.Juli von Gülen-Anhängern in der Armee angeschoben wurde. Einige Zeugenaussagen von Putschisten bestätigten diese Auffassung. Der Adjutant des Generalstabschefs Hulusi Akar gab zu, Beziehungen zu Gülen zu haben, und beschrieb, wie er den ehemaligen Armeechef Necdet Ozel abgehört habe. Seinem Zeugnis nach war Generalmajor Haken Evrim einer der Köpfe des Putsches, er habe sich in der Nacht des Putsches seiner Beziehungen zu Gülen gerühmt.
28. Juli 2016
* www.hurriyetdailynews.com/thinking-gulen-is-a-peaceful-scholar-is-a-huge-mischaracterization.aspx
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