von Angela Klein
Schade, dass diese Nachricht für den SPD-Konvent vier Tage zu spät kam: «CETA kostet 200000 Arbeitsplätze in Europa und 30000 in Kanada.» Zu diesem Ergebnis kam eine aktuelle Studie der Tufts University in Boston, Massachusetts, die am 22.September in Deutschland bekannt wurde. Sie basiert auf Modellen der Vereinten Nationen, dem United Nations Global Police Model.
Der Studie zufolge wird das Abkommen auch die Ungleichheit bei den Einkommen verstärken: Während der Anteil der Kapitalgewinne am Bruttoinlandsprodukt steigen würde, ist ein Sinken der Lohnquote zu erwarten. In Kanada würden die jährlichen Lohneinkommen bis 2023 durchschnittlich um 1776 Euro schrumpfen, in Europa je nach Land um 316 bis 1331 Euro. Vor allem in europäischen Ländern mit einer noch relativ hohen Lohnquote wie Italien oder Frankreich wären die Lohnverluste am stärksten. Mit den Löhnen würden auch Steuereinnahmen und Bruttoinlandsprodukte sinken.
Bisherige CETA-Studien im Auftrag der EU errechnen einmalige Wachstumseffekte von gerade einmal 0,003% bis 0,08% des europäischen Bruttoinlandsprodukts. All diese Studien basieren jedoch auf der völlig unrealistischen Annahme, dass Vollbeschäftigung herrscht und das Abkommen keine Auswirkung auf die Einkommensverteilung hat. Sie gehen davon aus, dass «wettbewerbsfähige» Wirtschaftssektoren, die von einer Marktöffnung profitieren, alle entstanden Verluste in den schrumpfenden Sektoren kompensieren. Dies gilt angeblich auch für verlorene Arbeitsplätze: Solange die Löhne niedrig genug sind, würde alle Arbeitnehmer in einem andern Sektor eine neue Stelle finden.
Und selbst unter diesen unrealistisch positiven Voraussetzungen ergäbe sich durch CETA ein Wachstumseffekt von nicht einmal 0,1%! Hinzu kommt, dass Wirtschaftssektoren, die einem plötzlich verschärften internationalen Wettbewerb mit ungleichen Bedingungen ausgesetzt sind, weitaus schneller schrumpfen, als das von anderen Sektoren aufgefangen werden kann. Steigende Löhne im Exportsektor können den Verlust an Binnennachfrage nicht ausgleichen. Und ein weiterer Druck auf die Löhne wird die Rezession in Europa vertiefen.
320000 Menschen demonstrierten am 17.September in sieben deutschen Städten gegen CETA, 25000 waren es am gleichen Tag in Österreich. Das Treffen der EU-Handelsminister in Bratislava am 23.9. war von Protesten begleitet. Im Oktober werden Protestwochen in Spanien und Frankreich folgen, am 22.10. eine Demonstration in den Niederlanden, zeitgleich zu den Präsidentschaftswahlen eine in Bulgarien. Ende Oktober will die Judas Abkommen mit Kanada ja unterzeichnen.
Der SPD-Vorstand zeigt sich unbeeindruckt und fängt die Kritiker in den eigenen Reihen mit dem Versprechen auf Zusatzvereinbarungen ein, deren Zustandekommen hoch in den Sternen steht. Schließlich müssten sich 28 Mitgliedstaaten darauf einigen, und wenn das Europaparlament zum Abkommen einmal Ja gesagt hat, kann der Teil, der ausschließlich in der Kompetenz der EU steht, ungeniert in Kraft treten (siehe dazu das Gespräch auf S.5).
Es sind aber nicht nur die aktiv Protestierenden, denen die SPD (und Teile der Gewerkschaften!) die kalte Schulter zeigen. Es ist die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung, die souverän übergangen wird. Eine repräsentative Umfrage des Ipsos-Instituts für die Wirtschaftswoche (16.9.) hat ergeben, dass nur 18% der Bevölkerung CETA für eine gute Sache halten, 38% unterstützen das Projekt nicht. Ein Viertel der Befragten hat von CETA noch nie gehört. Das macht aber nichts, denn laut Umfrage herrscht in Deutschland inzwischen große Skepsis gegenüber dem Freihandel. 28% der Menschen glauben nicht, dass dieser überwiegend Vorteile bringen soll. Über die Hälfte der Bundesbürger fürchtet, dass Freihandel zur Aufweichung von Standards führt und die Einfuhr schadhafter Produkte ermöglicht.
Die Umfrageergebnisse müssten die Regierenden eigentlich alarmieren. Belegen sie doch, dass die Zustimmung zur Politik der grenzenlosen Marktöffnung insgesamt abnimmt, nicht mehr nur einzelne Folgen wie die zunehmende soziale Ungleichheit und zunehmend abgehobenen, weil nicht mehr rein nationalen Entscheidungen der Regierungen auf Kritik stoßen. Da hat sich etwas grundlegend verändert: Freihandel ist nicht mehr positiv besetzt, Freihandel macht Angst. Freihandel wird heute mit Chlorhühnchen assoziiert, und das Bild geht nicht aus dem Kopf raus, es ist ja auch viel einprägsamer als die Aushöhlung der Arbeitsrechte oder die Beseitigung des Rechtsstaats durch Einführung von privaten Schiedsgerichten.
Endlich, möchte man sagen. Ist doch die gesellschaftliche Zustimmung zum Freihandel für eine exportorientierte Nation quasi der lebensnotwendige Kitt, um dieses Geschäftsmodell weiter zu betreiben. Wer den Freihandel ablehnt, möchte man meinen, steht auch der eigenen Exportdominanz kritisch gegenüber. Nicht ausgeschlossen, dass das Griechenlanddebakel tatsächlich einige zum Grübeln gebracht hat. Laut der zitierten Umfrage liegt eine andere Reaktion aber offenbar zunächst einmal näher: 47% finden nämlich, die Regierung soll mehr dafür tun, um die deutsche Industrie vor internationalem Wettbewerb zu schützen. Und das bedeutet nichts anderes als: Vor den Unbillen der Importe und internationaler Vereinbarungen möchten wir verschont werden, welchen Unbill andere durch unsere Exporte und die von uns diktierten Freihandelsabkommen erleiden, das kümmert uns nicht.
Die Logik selbst sagt, dass das nicht funktioniert. Logik hilft an dieser Stelle aber nicht, nur die eigene Erfahrung und wie sie, flankiert von einer Massenbewegung, interpretiert wird. Bislang wurden die Massenaktionen gegen TTIP und CETA von fortschrittlichen Kräften getragen, von einer Antiglobalisierungsbewegung, deren Hauptträger zu Anfang dieses Jahrhunderts Ablehnung von Freihandel noch in einem Atemzug mit gerechter Weltordnung und internationaler Solidarität nannten. Nun zeigen die Umfragen, dass auf dem Boden der Freihandelskritik auch eine egoistische, nationalistische, abwehrend-protektionistische, letztlich aggressive Grundhaltung wachsen kann – vor allem bei denen natürlich, die am 17.September zu Hause geblieben sind.
Darauf wird die Bewegung gegen CETA und TTIP reagieren müssen. Und das heißt, dass Floskeln wie «für eine gerechte Weltordnung», die die Anti-CETA-Demos angeführt haben, nicht reichen. Die Parole «Gerechte Weltordnung gibt es nur im Kommunismus», die kurzzeitig die Fassade des Hauses der Jugend in Frankfurt zierte, war schon besser, aber zu abstrakt. Irgendwas dazwischen müsste es sein.
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