von Emir Sader*
Argentiniens Wirtschaftsminister Alfonso Prat-Gay hat den politischen Umsturz in Brasilien als «gute Gelegenheit für die Neugründung des Mercosur» bezeichnet. Das Zusammentreffen zweier Regierungen [Argentinien und Brasilien], die mit der Öffnung der Märkte und der Wiederannäherung an den Norden, insbesondere an die USA, das neoliberale Modell wiederherstellen wollen, ermögliche es, die regionalen Integrationsprozesse wieder abzubauen.
Eine für diese Prozesse entscheidende Weichenstellung erfolgte 2005. Die USA und Brasilien standen damals kurz vor der Einigung über das Projekt einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) unter Führung der US-Wirtschaft. Was 1994 mit dem Nordamerikanischen Freihandelsvertrag NAFTA gegenüber Mexiko praktiziert worden war (mit einer für Mexiko höchst negativen Bilanz), sollte auf den ganzen Doppelkontinent ausgedehnt werden.
Lulas Wahlsieg 2002 machte es möglich, dass Brasilien, mit Celso Amorim als Außenminister, mit diesem Projekt brach und den Weg für die Stärkung der bestehenden und die Initiierung neuer regionaler Integrationsprozesse öffnete. Von der Stärkung des Mercosur ging es weiter zur Unasur – mit ihrem Südamerikanischen Verteidigungsrat, der Bank des Südens und anderen Organen – und mündete in der CELAC (Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten). Sie bedeutete das Ende der Monroe-Doktrin; Lateinamerika und die Karibik hatten damit endlich einen eigenen Integrationsmechanismus, getrennt von der OAS, der die USA und Kanada durch ihre Präsenz ihren Stempel aufdrückten.
Die Vorteile der regionalen Integration
Nie zuvor waren die USA auf dem Kontinent isolierter gewesen als in dieser Zeit. Vor allem jene Länder Lateinamerikas, die sich vom neoliberalen Modell zu lösen begannen, änderten auch ihre außenpolitische Position. Ihre Priorität lag jetzt auf der regionalen Integration und dem Süd-Süd-Handel, nicht mehr auf den Freihandelsverträgen mit den USA.
Diese neue Form der internationalen Eingliederung ermöglichte eine stärkere Verzahnung unserer Wirtschaften und hat uns zugleich geholfen, mit den Auswirkungen der anhaltenden und tiefen globalen Rezession besser fertig zu werden. Wesentlich für diese gute Bewältigung der Krise waren der verstärkte Austausch innerhalb der Region, die Intensivierung des Handels mit China und die Ausweitung des Binnenmarkts für die breite Bevölkerung.
Der Regierungswechsel in Argentinien und jetzt auch in Brasilien gibt den USA die lang erwartete Möglichkeit, ihre Isolierung in Lateinamerika aufzubrechen. Obamas Reise nach Argentinien und seine Unterstützung für das neoliberale Projekt der Regierung Macri verdeutlichen die zentralen Ziele der USA in der Region. Macris komplizenhaftes Schweigen zum Putsch in Brasilien wiederum hat Washingtons Freude über diese Entwicklung noch verstärkt.
Was heißt Neugründung?
Die oben zitierte Erklärung des argentinischen Wirtschaftsministers deckt sich mit den Positionen von José Serra, Brasiliens neuem Außenminister, der sich als Kritiker der bisherigen brasilianischen Außenpolitik hervorgetan hat. Getrieben von dem Wunsch, das brasilianische Erdöl den großen internationalen Ölkonzernen zur Ausbeutung zu überlassen, veranstaltete er – den Präsidentschaftskandidat von 2010 – ein ursprünglich als geheim geplantes Treffen mit Vertretern dieser Konzerne in Foz de Iguazú, wo er ihnen den Zugriff auf die als Pre-sal bekannten Ölvorkommen vor der brasilianischen Küste versprach.
Was würde es bedeuten, den Mercosur «neu zu gründen»? Der Rechten war es immer ein Anliegen, bilaterale Freihandelsabkommen mit den USA zu schließen, ohne deshalb den Mercosur aufzugeben. Das ist auch bei dieser «Neugründung» das wichtigste Ziel. Fürs erste wurde die Beschleunigung der Verhandlungen mit der EU angekündigt sowie verstärkte Handelsbeziehungen mit der Pazifischen Allianz [eine lateinamerikanische Freihandelszone, zu der Chile, Kolumbien, Mexiko und Peru gehören].
Das Hauptziel der sogenannten Neugründung bleiben jedoch bilaterale Abkommen mit den USA. Das würde den Beginn der Zerschlagung der regionalen Integrationsprozesse bedeuten, die Schwächung von Mercosur, Unasur und Celac. Das enge Bündnis zwischen den Regierungen Brasiliens und Argentiniens, eingeleitet von Lula und Nestor Kirchner und fortgesetzt von Dilma und Cristina Kirchner, war die Achse, von der aus diese Integrationsprozesse entwickelt wurden.
Jetzt geht es, ausgehend vom Regierungswechsel in beiden Ländern, darum, diesen Prozess umzukehren und einen neuen Prozess der Unterwerfung der Region unter die Interessen der USA einzuleiten und dadurch Länder wie Venezuela, Bolivien und Ecuador mehr und mehr einzuschnüren.
Der Erfolg dieser konservativen Kehrtwende hängt von der Schlagkraft der brasilianischen Putsch-Regierung ab. Aktuell scheint sie nicht über genügend Stabilität zu verfügen, um lange an der Macht zu bleiben und große Veränderungen durchsetzen zu können. Deshalb ist in erster Linie der Widerstand der brasilianischen Bevölkerung wichtig. Es geht darum, Neuwahlen zu erreichen, damit die Regierung Temer endgültig jede Legitimität verliert und die brasilianische Bevölkerung wieder auf demokratischem Weg über ihre Zukunft bestimmen kann.
Für Brasiliens Rolle auf internationaler Ebene heißt das: Regionale Integration und Süd-Süd-Kooperation oder das alte Schicksal als «Hinterhof» des US-Imperiums andererseits.
* Der Autor ist brasilianischer Soziologe und Politikwissenschaftler an der Staatsuniversität von Rio de Janeiro (UERJ). Nachdruck aus Lateinamerika anders, Nr.3, 2016, mit freundlicher Genehmigung (www.lateinamerika-anders.org).
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