Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2016

München: C.H.Beck, 2016. 332 S., 21,95 Euro
von Angela Huemer

Die neue Odyssee nennt Kingsley sein Buch, wissend, dass Migration mitnichten ein neues Phänomen ist. Nicht umsonst stellt der äußerst begabte und belesene junge Journalist und Autor ein Zitat aus Homers Odyssee (V.Gesang) voran, das ich hier wiedergeben will, da es trefflicher nicht sein könnte (Kingsley verweist im Buch übrigens auch auf Vergils Aeneis): «Und verfolgt mich ein Gott im dunklen Meere, so will ich’s dulden; mein Herz im Busen ist längst zum Leiden gehärtet! Denn ich habe schon viel erlebt, schon vieles erduldet, Schrecken des Meeres und des Krieges, so mag auch dieses geschehen!»

Ich nahm das Buch ein wenig skeptisch gestimmt in die Hand, aufgrund der Ankündigung, es handle sich um eine überarbeitete Sammlung von Reportagen, die in der englischen Zeitung The Guardian schon erschienen waren. Ich befürchtete also eine Aneinanderreihung einzelner Texte, die mühsam miteinander verstrickt würden.

Mitnichten. Rasch gerät man in den Sog des Buches. Vermutlich nicht umsonst beginnt das Buch mit der Reportage «The Journey», für die Kingsley den British Journalism Award erhielt (noch immer online nachzulesen, in der Guardian-Ausgabe vom 9.Juni 2015). Darin beschreibt er die Flucht des Syrers Hashem übers Meer. Die Geschichte Hashems und seiner Familie erfahren wir über das ganze Buch verteilt, es bildet sozusagen den roten Faden. Zwischen Hashem und dem Autor entstand über die Zeit eine tiefe Freundschaft.

Es berührt und beeindruckt, wie Patrick Kingsley seine Rolle als Reporter immer wieder reflektiert, der Spagat zwischen Dabeisein und sich alles gut einprägen bzw. so viel wie möglich in Erfahrung bringen und dem Drang, in das Geschehen einzugreifen, d.h. zu helfen. Einen eklatanten Moment dieser Art erlebt Kingsley an Bord eines Rettungsschiffs von «Ärzte ohne Grenzen», als er der Bergung von Schiffbrüchigen beiwohnt, die dem Tod gerade entkommen sind.

Anschaulich erzählt er von Amani, einem Eritreer, der mit seiner Frau und drei Kindern in England lebt und vor dreizehn Jahren selber ein Bootsflüchtling war. Zufällig trifft er bei einer Rettungsaktion Lingo, einen Geografielehrer, der etwas grau und verlebt ausschaut. Lingo erkennt Amani sofort, Amani erkennt Lingo erst auf den zweiten Blick. 2002 waren sie gemeinsam auf einer Studentendemonstration und landeten beide im Gefängnis. Eritrea lässt dich altern, meint Lingo. Kingsley gelingt es in knappen Worten, das Chaos zu beschreiben, das bei der Rettungsaktion auf dem von «Ärzte ohne Grenzen» gecharterten Frachtschiff herrscht, und meint irgendwann lapidar, er habe sich zwischendurch sogar wie ein menschliches Wesen verhalten und Stift und Notizblock beiseitegelegt um zu helfen.

Patrick Kingsley ist weit gereist. Bevor er 2013 Migrations-Korrespondent für den Guardian wurde (da war er erst 23 Jahre alt), hat er einige Zeit aus Ägypten berichtet. Er hat die Balkanroute bereist, noch bevor diese medial überhaupt wahrgenommen wurde. Und er war in Libyen.

Das Kapitel «Schiffbruch» las ich besonders aufmerksam, es trägt den Untertitel «Wie Menschen im Meer ertrinken und wie sie gerettet werden». Vor acht Jahren war ich in Sizilien, Tunesien und Malta unterwegs, d.h. auf dem Meer dazwischen, um später darüber zu berichten. Wir waren in der Zentrale der italienischen Küstenwache in Rom, die schon damals fast Unmenschliches leistete, damit nicht noch mehr Menschen ums Leben kommen. «Tod auf hoher See. Warum Flüchtlinge sterben», hieß die Fernsehreportage, die daraus entstand. Das war 2008. Schon damals waren Tote an den Grenzen nichts Neues. Und zwei junge, sehr mutige Autoren und Journalisten schrieben ähnliche Reportagenbücher wie nun Patrick Kingsley: Stefano Liberti veröffentlichte 2007 sein Buch A sud di Lampedusa (Südlich von Lampedusa), das seine ausführlichen Recherchereisen nach Afrika – Marokko, Algerien, Tunesien, Mali, Senegal, Niger und nicht zuletzt Lampedusa – zusammenfasst. Gabriele del Grande war ähnlich jung wie Kingsley jetzt, als er Mamadous Fahrt in den Tod (gefolgt von Das Meer zwischen uns: Flucht und Migration in Zeiten der Abschottung) veröffentlichte und seinen Blog «Fortress Europe» begründete, in dem er versuchte, regelmäßig zu vermelden, wenn wieder jemand auf der Flucht gestorben ist.

Es braucht Mut, Engagement, Flexibilität, Können und viel Energie für ein Buch, wie Kingsley es nun vorgelegt hat. Bei ausreichenden Englischkenntnissen empfehle ich das Original, denn Kingsleys Sprache ist ein großer Genuss. Denjenigen, die vielleicht Angst davor haben, so etwas «Schweres» zu lesen, will ich gut zureden und wärmstens empfehlen, das Buch trotz aller Bedenken zu lesen, denn in ganz vielen Passagen macht es Mut. Das spiegelt meine eigene Erfahrung: Große Herausforderungen holen sehr oft das Allerbeste aus den Menschen heraus, und während sich Kritik und negative Haltung meist verbal äußern (so war das zumindest früher, leider hat sich das in der letzten Zeit geändert), so erfolgt Hilfe meist ohne viel Worte, dafür tatkräftig.

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