Gespräch mit Joanna Misnik
«Black Lives Matter», die Bernie-Sanders-Bewegung, der Präsidentschaftswahlkampf mit der ersten Frau als Kandidatin einer der großen Parteien sowie mit einer Figur wie Donald Trump – die politische Situation in den USA trifft auf großes Interesse. Das folgende, hier auszugsweise wiedergegebene Interview führte Anticapitaliste, die Zeitung der französischen NPA (Neue Antikapitalistische Partei) mit Joanna Misnik, einem führenden Mitglied der US-amerikanischen sozialistischen Organisation Solidarity (www.solidarity-us.org).
Worin besteht die Bedeutung der Bewegung «Black Lives Matter» (BLM)?
In nur wenigen Jahren ist BLM zu einer politischen Kraft in den USA geworden. Die Bewegung begann mit einem Aktionsaufruf von drei Frauen, sie hat die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die brutalen Morde an Schwarzen durch die Polizei gelenkt. Eine neue Generation junger Afroamerikaner ist darin aktiv geworden und organisiert sich. Mittlerweile kann BLM überall in den USA, wo Schwarze ermordet werden, militante Proteste organisieren, die oft mit zivilem Ungehorsam einhergehen.
Einige Siege wurden errungen: so der Rücktritt einiger Polizeichefs großer Städte, neue Regeln für das Verhalten der Polizei, vorgeschriebene Körperkameras für Polizisten, rasche und weniger voreingenommene Untersuchungen von Polizeiverhalten.
Die BLM-Bewegung ist zu einer Zeit aufgetaucht, in der sich die gesellschaftliche Stellung der afroamerikanischen Gemeinschaft drastisch geändert hat. Die Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre operierte in einem Klima allgemeiner wirtschaftlicher Prosperität und der Expansion des Wohlfahrtstaats. Sie strebte nach voller Gleichheit und Integration in den amerikanischen Traum.
Der Kapitalismus neoliberaler Prägung hat die schwarze Gemeinschaft in den Innenstädten, insbesondere die Jugend, auf ein überschüssiges Arbeitskräftereservoir reduziert, das nahezu vollständig aus jeder wirtschaftlichen Aktivität verdrängt wurde. Man schätzt, dass eine durchschnittliche schwarze Familie 228 Jahre benötigen würde, den Reichtum zu akkumulieren, über den eine durchschnittlich weiße Familie heute verfügt.
Die Antwort der herrschenden Klasse besteht in der Militarisierung der Polizei und ihrem Ausbau zu einer Besatzungsmacht in den schwarzen Nachbarschaften: Einer von drei männlichen Schwarzen wird wenigstens einmal in seinem Leben im Gefängnis sitzen. Als Obama Präsident wurde, betrugen die Ausgaben für die lokale Polizei etwa 30 Millionen Dollar. In wenigen Jahren hat die Bundesregierung 787 Mio. Dollar ausgegeben, um die lokale Polizei mit schwerer militärischer Ausrüstung wie gepanzerten Fahrzeugen, Granatwerfern, Drohnen usw. auszustatten. Eine jüngste Studie schätzt, dass alle 28 Stunden eine schwarze Person von der Polizei ermordet wird.
Dies ist das System, das BLM bekämpft. Innerhalb der Bewegung gibt es eine Debatte: Fordern wir die Abschaffung der Polizei oder fordern wir die Kontrolle der Polizei durch die Community, zivile Kontrollgremien usw.?
Nach einem Jahr Arbeit haben 40 Organisationen unter dem Dach von BLM eine politische Plattform herausgebracht, die über den spontanen Aufschrei gegen jeden einzelnen Polizeimord hinausgeht. Unter dem Titel A Vision for Black Lives stellt das Programm Forderungen zu allen Aspekten der Unterdrückung und des ökonomischen Niedergangs der schwarzen Bevölkerung auf. Es ist ein gewaltiger Schritt bei der Schaffung einer neuen Befreiungsbewegung der Schwarzen in den USA.
BLM steht außerhalb von Wahlen und des Präsidentschaftswahlkampfs und weigert sich, ein vorgeblich «kleineres Übel» wie Hillary Clinton zu unterstützen.
Welche Auswirkung hat die Kandidatur von Trump auf die Republikanische Partei?
Donald Trumps Sieg bei den republikanischen Vorwahlen ist das Produkt eines jahrelangen Wandels in den Grundeinheiten der Republikanischen Partei. Beginnend mit der Präsidentschaft von George W. Bush, strömten evangelikale Sekten in die Partei, um eine Operationsbasis gegen die moderne Gottlosigkeit zu schaffen. Nach der Depression von 2008 kam die Tea Party dazu, eine Massenbewegung mit über 1000 Gruppen von reaktionären weißen Arbeitern und Angehörigen der Mittelschicht, die sich gegen liberale Ideen der Demokraten wie das Recht auf Abtreibung, die Rechte von Einwanderern und staatliche Wohlfahrtsprogramme wenden.
2010 wurden 87 neue Kongressabgeordnete von den Tea-Party-Republikanern gewählt, was zu einer Lähmung der Bundesregierung führte. Republikaner dieses fundamentalistischen Typs eroberten in 24 Bundesstaaten das Gouverneursamt und die Mehrheit in den Parlamenten. Dies führte zu größeren Einschränkungen des Rechts auf Abtreibung und gewerkschaftlicher Rechte sowie einen mangelnden Schutz des Wahlrechts in diesen Staaten.
Durch Trumps Sieg bei den Vorwahlen brach die Partei in Stücke. Traditionelle Republikaner, für die die Bush-Familie typisch ist, weigerten sich, den Nominierungsparteitag zu besuchen oder Wahlkampf für Trump zu machen. Geld und Unterstützung begannen, Hillary Clinton zugute zu kommen. Clinton ist alles in allem mit ihrer Unterstützung für die Kriegsmaschinerie und die Großbanken ebenso republikanisch. Im Zeitalter des Neoliberalismus ist es zunehmend sinnlos, Unterschiede zwischen Liberalen und Konservativen zu behaupten. Es ist eine Sache, die Vorwahlen der Republikanischen Partei zu gewinnen, und eine ganz andere, die Präsidentschaftswahl zu gewinnen.
Wofür steht Hillary Clintons Wahlkampf?
Alle Meinungsumfragen zeigen, dass die Wähler es mit zwei Präsidentschaftskandidaten zu tun haben, in die sie nicht wirklich Vertrauen haben. Clinton hat eine verbreitete Reputation als eine Person, die nicht die Wahrheit sagt und ihre Position dazu benutzt, sich und ihre Familie zu bereichern. Auch nach ihrer Nominierung versuchen Journalisten weiterhin, Informationen über die Clinton Foundation auszugraben. Was haben die Spender an diese angeblich nicht gewinnorientierte Stiftung im Gegenzug zu ihrer Großzügigkeit von der Außenministerin oder ihrem Ehemann und früheren Präsidenten erhalten? Diese Story muss noch geschrieben werden – sie wird es erst, wenn Hillary Clintons Präsidentschaft längst Geschichte ist. Sie steht unter dem Schutz der herrschenden Klasse. Schließlich ist das die Belohnung für die treuen Dienste, die sie dieser Klasse geleistet hat.
Im allgemeinen gilt Ronald Reagan als der US-Präsident, der, zusammen mit Margaret Thatcher in Großbritannien, die uneingeschränkte Herrschaft des freien Marktes zulasten des Lebensstandards der Arbeiterklasse durchgesetzt hat. Doch der Demokrat Bill Clinton, mit Hillary Clinton als enge Beraterin und mehr als eine traditionelle First Lady an seiner Seite, hat ebenso viel oder noch mehr getan, um die Regierung in ein neoliberales Fahrwasser zu lenken. Charakteristisch für die Clinton-Dynastie ist die Verwischung des liberalen Profils der Demokratischen Partei zugunsten eines Konsenses zwischen beiden großen Parteien zum Vorteil der Konzerne.
Clintons Präsidentschaft brachte die Aufhebung der Bankenregulierung (des Glass-Stegall Act), was zum Crash von 2008 beitrug. Die Clintons waren gegen die Schwulenehe und halfen, ein Gesetz «zur Verteidigung der Ehe» zu verabschieden. Clintons Sozialpolitik stieß Hunderttausende Kinder in tiefe Armut. Sie verteidigten die Todesstrafe und unterstützten eine Strafgesetzgebung, mit der die gewaltige Ausdehnung des Gefängnissystems begann, unter dem Tausende Schwarze lange Strafen für relativ kleine Delikte absitzen müssen.
Die Clintons schafften es nicht, 40 Millionen Amerikanern ohne Krankenversicherung eine Entlastung zu verschaffen – ihre Pläne waren profitabel für die privaten Versicherungsgesellschaften, aber nutzlos für deren Kunden. Allerdings brachte die Dotcom-Blase während ihrer Präsidentschaft eine Zeitlang einen gewissen Wohlstand.
Hillary Clinton ist eine Kriegstreiberin und Verfechterin des «Rechts» der USA zum regime change, um «unsere» Interessen zu schützen. Jeder Schwenk nach links, den sie während des Vorwahlkampfs gemacht hat, um Bernie Sanders den Erfolg streitig zu machen, ist bereits vergessen. Die Plattform der Demokratischen Partei ist nur ein Stück Papier und kein Versprechen.
Überall auf der Welt hat die Bewegung für Bernie Sanders linke Beobachter in Erstaunen versetzt.
Niemand auf der revolutionären Linken hat die Sanders-Bewegung vorausgesehen, Bernie selbst auch nicht. Wie die Occupy-Bewegung zuvor, ist die Bewegung einfach aufgetaucht und hat das ganze Land ergriffen. Schließlich gelang der Sanders-Kampagne das Unmögliche: Sie hat von 2,5 Millionen Spendern 225 Millionen Dollar in kleinen Beträgen gesammelt, erhielt bei den Vorwahlen 43% der Stimmen – über 14 Millionen – und siegte in 23 Bundesstaaten; über 2 Millionen Menschen nahmen an den Veranstaltungen teil. Bernies Kampagne beweist, dass eine Präsidentschaftskandidatur ohne die finanzielle Unterstützung von Konzernen möglich ist.
Die unauslöschliche Lehre der Occupy-Bewegung – 99% stehen gegen das eine Prozent – nahm nun die Gestalt von Legionen junger Menschen an, die entschlossen waren, durch die Wahl von Bernie Sanders den Reichen die Kontrolle über die Gesellschaft zu entreißen. In ihrem Kampf wurden sie von Bernie, dem Sozialisten, angeführt. Schon vor der Sanders-Kampagne hatten Meinungsumfragen enthüllt, dass eine knappe Mehrheit der Jugendlichen in den USA den Sozialismus dem Kapitalismus vorzieht.
Bernies Sozialismus war der der klassischen Nachkriegssozialdemokratie, der soziale Umverteilungsstaat. Er verwies auf Nordeuropa und F.D.Roosevelts New Deal, sprach sich für eine Gesundheitsfürsorge für alle aus, für ein kostenloses Studium, einen Mindestlohn von 15 Dollar die Stunde, bezahlten Elternurlaub, Arbeitsbeschaffungsprogramme, den Aufbau von Infrastruktur, den Kampf gegen den Klimawandel, Steuergerechtigkeit und ein Ende der Kontrolle der Regierung durch die Konzerne. Sanders betonte, kein Präsident könne diese Ziele allein erreichen, die Menschen müssten durch massenhaft mobilisiert werden, damit diese Forderungen verwirklicht werden könnten. Er verwies auf Beispiel wie die Bürgerrechtsbewegung und die Frauenbefreiungsbewegung.
Sanders war jahrzehntelang der einsame Unabhängige im Kongress. Als er seine Kampagne für die Nominierung durch die Demokratische Partei ankündigte, versprach er, am Ende die Person zu unterstützen, die als Siegerin aus den Vorwahlen hervorgehen würde, wer immer das auch sei. Als seine Kampagne Fahrt aufnahm, begannen seine Unterstützer – von denen viele zum ersten Mal politisch aktiv wurden – daran zu zweifeln, ob Sanders am Ende wirklich Hillary Clinton unterstützen und seine «Revolution» damit aufgeben würde. Umso größer war die Enttäuschung unter den 1900 Delegierten der Sanders-Kampagne auf dem Nominierungsparteitag der Demokraten, als Sanders aufstand und per Akklamation die Nominierung Clintons unterstützte und somit seinen «Deal» mit der Partei erfüllte.
Die meisten jungen Sanders-Unterstützer hatten kein Interesse an einer Reform der Demokratischen Partei oder dem Aufbau eines linken Flügels in der Partei. Sie hatten die schmutzigen Tricks gesehen, mit denen die Partei die Wahl gegen Sanders manipuliert hat. Hunderte Delegierte verließen angewidert den Parteitag. Viele werden ihre Stimme und ihre Energie Jill Stein, der Präsidentschaftskandidatin der Green Party, geben [siehe SoZ 9/2016]. Eine bedeutende Bewegung sagt heute: «Jill not Hill!»
Was wird nun aus der Bernie-Rebellion? Wird sie in irgendeiner Form weitergehen oder als organisierte Kraft verschwinden? Bernie bietet Our Revolution an, eine Organisation und Finanzquelle für progressive Kandidaten der Demokratischen Partei im ganzen Land, die, falls sie gewählt würden, das Kräfteverhältnis im Kongress ändern könnten. Es gibt Anzeichen, dass Our Revolution Startschwierigkeiten hat.
Meine Organisation, Solidarity, und andere in der revolutionären Linken wollen stattdessen Koalitionen bilden, um Kandidaten aufzustellen, die auf lokaler Ebene von beiden Parteien unabhängig sind. Wir wollen den Schwung der Bernie-Kampagne dazu nutzen, mit den Demokraten zu brechen und die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse zu entwickeln. Diese Bestrebungen schließen auch die Green Party ein, sind aber nicht auf sie beschränkt.
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