Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2016
BBC Radio 4, www.bbc.co.uk/programmes/b07wpgjm, Regie: Leah Karibian
von Angela Huemer

Mitunter ist es notwendig, keinen Kinofilm oder Fernsehserie zu empfehlen, sondern etwas ganz anderes, weil man einfach so sehr begeistert davon ist. Dieses andere heißt Moving Pictures und ist eine Reihe von BBC Radio 4, dem wohl besten Radiosender der Welt. Der Begriff Moving Pictures ist ein englisches Synonym für Filme, hier wird er aber im Wortsinn gebraucht, «bewegende Bilder» (bzw. «bewegte Bilder», «bewegend» trifft es aber mehr).

Drei Gemälde haben sich die Macherinnen Cathy FitzGerald und ihre Regisseurin Leah Karibian vorgenommen: Die Kornernte von Pieter Bruegel d.Ä., ein Blumenstillleben von Rachel Ruysch (1664–1750) und eine japanische Stadtlandschaft, Scenes in and around Kyoto aus der Zeit von 1615 bis 1624 – der Maler ist unbekannt. Alle drei Episoden sind online verfügbar, durch das Google Arts Project, im Rahmen dessen man Museen virtuell besuchen kann und einzelne Gemälde so hochauflösend fotografiert wurden, d.h. in so guter Qualität, dass man auf dem Computer zuhause in die kleinsten Details der Bilder hineinzoomen kann.

«Eine jüngste Studie», so die Sprecherin zu Beginn, «besagt, dass die Menschen in einer Kunstgalerie im Schnitt 28 Sekunden vor einem Bild verbringen. Bei Moving Pictures wollen wir uns ein wenig mehr Zeit nehmen für ein Bild, 28 Minuten. Und falls Sie einen Computer, ein Tablet oder Smartphone zur Hand haben, können Sie das auch.» Während man die Sendung über die Internetseite von BBC hört, kann man den Link von Google aufmachen und das Bild sozusagen unter Anleitung betrachten.

Das erste Bild der Reihe ist ein Blumenstillleben von Rachel Ruysch vom Ende des 17.Jahrhunderts. Rachel Ruysch war eine berühmte Malerin ihrer Zeit, ihr Vater Frederik war ein angesehener Professor für Anatomie und Botanik, ihr Großvater der Architekt Pieter Post (gemeinsam mit Jacob van Campen entwarf er das Museum Mauritshuis in Den Haag). Sie wurde sehr alt, zog zehn Kinder groß und wurde 1701 zeitgleich mit ihrem Mann, dem Porträtmaler Juriaan Pool, Mitglied der Malergilde von Den Haag. Ruysch studierte bei Willem van Aelst, einer der bedeutendsten Stilllebenmaler Hollands. Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz machte sie zur Hofmalerin seines Düsseldorfer Hofes – so sicherte er sich die Hälfte ihrer Jahresproduktion von Bildern, sie lebte nie in Düsseldorf, sondern kam nur zweimal.

Neben der reinen Audiofassung gibt es auch einen kleinen Film zu sehen, der nur wenig mehr als zwei Minuten dauert. Dieser konzentriert sich vor allem auf die Schmetterlinge, Spinnen und anderen Insekten, die das Bild so sehr beleben. Erst im 20.Jahrhundert vergaß man Rachel Ruysch (die Kunstgeschichtsschreibung konzentrierte sich auf die Männer). Zeit ihres Lebens war sie sehr bekannt und geachtet, ihre Bilder erzielten hohe Preise (und einmal gewann sie sogar in der Lotterie).

Neben Ruyschs Blumenstillleben tauchen wir in einer anderen Episode der Radioreihe (insgesamt gibt es leider nur drei) in ein Bild von Pieter Bruegel dem Älteren ein, Die Kornernte (1565), das im Metropolitan Museum of Art in New York hängt. «Wenn ich dem Gemälde zuhöre, was kann ich da hören?», fragt eine Stimme und wir hören Geräusche, wir tauchen in das Bild ein. Und wir erfahren, was die ruhenden Arbeiter wahrscheinlich essen, frisches Brot und Milch oder Haferbrei.

Die dritte verfügbare Folge der Radioreihe bezieht sich auf ein zweiteiliges Werk: zwei jeweils rund drei Meter breite und fast zwei Meter hohe Paneele vom Anfang des 17.Jahrhunderts, gefertigt von einem unbekannten Künstler. Die Technik ist einmalig, Tinte auf Goldpapier. Die zwei Paneele zeigen Szenen in und um die Stadt Kyoto – auf wunderbare Weise. Goldene Wolken bedecken die Stadt, an einzelnen Stellen reißt der Himmel auf und gibt den Blick frei auf Alltagsszenen: Ein Mann betrachtet sich im Spiegel beim Barbier, einige Pilger machen Halt beim Tempel, eine wuselige Geschäftsstraße, Musiker, die durch die Stadt ziehen auf prächtigen Wagen. Diese Art von Paneelen gehörte zu dem Genre der «rakuchi rakugai-zu», Szenen in und um Kyoto. Im Lauf der Sendung erfahren wir mehr darüber, wie diese Paneele gemacht wurden und was es mit den Musikern auf sich hat, währenddessen können wir per Mausklick immer genauer in das Bild hineinzoomen.

Wenn man davor stünde, könnte man all die Details, die wir so entdecken – sei es die einzelnen Blumen und Insekten des Blumenstilllebens von Rachel Ruysch, seien es Pieter Bruegels wunderbare Szenen rund um die Kornernte, seien es die unzähligen Aspekte des Alltagslebens in Kyoto im 17.Jahrhundert – bei weitem nicht so gut sehen. Diese Bilder sind zweifelsohne Vorläufer der späteren bewegten Bildern, sprich Film: Nicht umsonst erinnern Rachel Ruyschs Insekten an Tierdarstellungen in Animationsfilmen, Bruegels Gemälde sind wie eine Dokumentation zur Getreideernte und die Paneele aus Kyoto könnten einer Reisereportage entstammen. Die einzelnen Szenen werden lebendig und man ertappt sich dabei, dass man nach Ende der Radiosendung sich noch immer per Mausklick in die jeweiligen Bilder vertieft und immer neue Details entdeckt. Wie schön wäre es, wenn die Reihe fortgesetzt würde, zu gerne würde ich beispielsweise Bruegels Kinderspiele oder den Turmbau zu Babel auf ähnliche Weise betrachten.

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