Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2016
Leseempfehlungen
von Rolf Euler

Es gibt Bücher, die muss man lesen: zur Information, oder um neues Wissen zu erwerben. Und Bücher, die muss man auch lesen: um sich von den anderen zu erholen…

Meine diesjährigen Buchempfehlungen beginnen mit einem «Muss»-Buch der ersten Art:

Wer den Wind sät von Michael Lüders, dem ehemaligen Nahostkorrespondenten der Zeit. Sein Untertitel lautet: «Was die westliche Politik im Orient anrichtet». Da wir täglich die Ergebnisse dieser Politik in den Medien, aber auch vermittelt durch die geflohenen Menschen bei uns erleben, lohnt sich der scharfe Blick auf die Vergangenheit, insbesondere auf die Außen- und Kriegspolitik der USA im Nahen Osten. Vom Putsch gegen den iranischen Präsidenten Mossadegh 1953 durch den CIA bis zum ersten und zweiten Irakkrieg, vom «Kampf gegen den Terror» in Afghanistan bis zum Krieg in Syrien: Kenntnisreich und mit dem nötigen Zorn schreibt Lüders gegen Vorurteile an. Weist nach, wie die unterschiedlichen religiösen Strömungen und Volksgruppen gegeneinander ausgespielt werden, wie Terror gefördert und dann wieder «bekämpft» wird. Woher es kommt, dass Fluchtgründe immer neu entstehen, der Bürgerkrieg immer neu durch die westlichen Interessen angefacht wurde und wird.
Als weiteres Buch zur Kenntnisnahme der Wirklichkeit empfehle ich Im Meer schwimmen Krokodile von Fabio Geda, das zwar schon 2011 erschien, aber so aktuell wie eben geschrieben ist. Die abenteuerliche Flucht eines Zehnjährigen von Afghanistan über mehrere Länder und das Mittelmeer bis nach Italien, von einem italienischen Autor aufgeschrieben, erklärt mir mehr als vieles andere die Welt der Flüchtenden, die Städte und Menschen, mit denen sie konfrontiert sind, und die mitleidlose Politik, die Europa mit ihnen und Tausenden anderer Menschen anstellt.
Ist die Geschichte von Enaiat ein Buch, das für mich auch in die zweite Gruppe gehört, so schreibt Robert Misik in Kaputtalismus sicher eins der ersten Art, erschienen im Aufbau-Verlag. Die vielen Informationen über die Finanzkrise und die griechische Tragödie, die wir in den letzten Jahren sammeln konnten, werden in diesem Buch auf klare Weise zusammengefasst  und bewertet. Im Unterschied zu vielen anderen Büchern erklärt er anhand der wirtschaftlichen Widersprüche, wie wenig es bringt, eine «andere Politik» zu fordern, etwa mehr Keynesianismus statt Neoliberalismus. Er schildert, wie stark die «Demokratie» durch die europäischen Maßnahmen der Finanzkrisenbewältigung abgeschafft wurde. Wie sehr die Finanzinstitutionen von den Steuerzahlern «gerettet» wurden. Wie die inneren Widersprüche noch zunehmen. Und er weist auf die Tatsache hin, dass es den Kapitalismus ohne Schulden nicht gibt, dass seine inneren Widersprüche die Krisen auslösen und nicht eine «falsche» Politik, wie sehr auch bestimmte politische Maßnahmen zur Verstärkung der Krisen beigetragen haben. Am Ende des Buches gibt es einen Ausblick auf Initiativen, die weg vom Markt und vom Finanzkapital wollen – «eine Art ‹Commonismus›» nennt Misik das, «eine Rettungsgasse» – hoffen wir es.
Beim oekom-Verlag tauchen immer mehr Bücher auf, die zwischen Krisenanalyse und Ratgeber für ein bessere Welt eine gar nicht mehr kleine Nische besetzen. Ich empfehle uns «Reiseweltmeistern» (ok, auch den Chinesen und Amerikanern und, und…) von Frank Herrmann das Buch FAIRreisen. Auf 320 Seiten dicht gedrängte Ergebnisse von Studien über Reisen und ihre Folgen in den Urlaubsländern, für die Umwelt, für die sozialen Verhältnisse, Rückwirkungen auf das Bewusstsein und die Politik. Alle Reisemittel werden mit ihren jeweiligen Problemen abgehandelt: vom Fahrrad über Auto, Zug, Flugzeug. Viele (Massen-)Tourismusziele werden beleuchtet.

Hermann berichtet zum Beispiel über Einkommen und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten auf Kreuzfahrtschiffen mit Billigflaggen. Er untersucht, ob und wie eventuell die lokale Bevölkerung vom Tourismus profitiert, und wer nicht. Er bewertet die Klimafolgen der großen Schiffe, der Flugzeuge und beschreibt die (mangelhaften) Kompensationsmaßnahmen. Es werden aber auch Tips gegeben, wie man sich korrekt in den Reiseländern verhält, wie man Umweltschäden möglichst vermeidet, und auf Kontakte achtet, die wirklich zum Kennenlernen von Menschen führen können, was bei der großen Zahl der touristischen Angebote überhaupt nicht mehr der Fall ist. Kriterien für verantwortungsvollen Tourismus runden ein Handbuch ab, das sicher wichtig genug für eine Gesellschaft ist, die immer kürzere Reisen zu immer entfernteren Zielen durchführen soll.

Mein Tip: mit Zug und Rad nach Mecklenburg-Vorpommern und die Seen – Urlaub wie früher «bei Omma».
Eindeutig in die Kategorie «Erholung» gehört Wer, wenn nicht wir! von Bettina von Clausewitz. Die in diesem Buch interviewten «Weltverbesserer und Querdenker» sind eine Quelle des Mutmachens und Staunens über das, was sie sich an Lebensarbeit geleistet haben, um für andere Menschen Verbesserungen, für die Gesellschaft Besseres zu bewirken. Da ist eine Klinikclownin, die Krebspatienten Lebensmut gibt. Oder die Frauenrechtsaktivistin Monika Hauser und deren Eintreten für vergewaltigte Frauen im Jugoslawienkrieg. Die Textilunternehmerin Trinkwalder, die nur lokal, ökologisch und sozial verträglich produziert, vor allem mit Frauen mit Handicaps. Die Gründerin von «digitalcourage» und Bielefelder Künstlerin und Datenschutzaktivistin Rena Tangens. Der Lebensmittelretter Raphael Fellmer, der die Foodsharing-Bewegung gründete. Der Schüler Felix Finkbeiner, der ein Baumpflanzprogramm mit Tausenden Schülern anschob. Der Friedensaktivist Malte Fröhlich aus Sachsen-Anhalt, der sich schon zu DDR-Zeiten nicht anpasste und oftmals vor Gericht stand wegen der Proteste gegen den Truppenübungsplatz Colbitz-Letzlinger Heide. Und weitere Aktive, die für Frieden, Schuldenerlass, Rettung von Flüchtlingen, Schule ohne Rassismus eingetreten sind und ihr Leben schildern. Ein äußerst gelungenes Buch des Peter-Hammer-Verlags, den insgesamt zu loben ich nötig finde angesichts seines herausragenden Engagements z.B. für Afrika-Literatur und gute Kinderbücher.
PS: Noch was «Altes»: Vor zehn Jahren erschien mit Last & Lost ein «Atlas» des verschwindenden Europa, eine Sammlung von 30 Essays europäischer Autoren über die vergehenden Orte ihrer Heimat. Faszinierend die Geschichten vor allem aus Ost- und Zentraleuropa, von Küsten, zerstörten Orten und ihren Geschichten, verbunden mit dem Leben der dortigen Menschen. Von Raabe/Sznaiderman herausgegeben. Wenn noch erhältlich: Wiederlesen!

 

Michael Lüders: Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet. 22., akt.Aufl. München: C.H.Beck, 2016. 176 S., 14,95 Euro.

Fabio Geda: Im Meer schwimmen Krokodile. Eine wahre Geschichte. München: Knaus, 2011. 187 S.

Robert Misik: Kaputtalismus. Berlin: Aufbau, 2016. 224 S., 16,95 Euro.

Frank Herrmann: FAIRreisen. Das Handbuch für alle, die umweltbewusst unterwegs sein wollen. München: oekom, 2016. 328 S., 19,95 Euro.

Bettina von Clausewitz: Wer, wenn nicht wir! Weltverbesserer und Querdenker im Gespräch. Wuppertal: Peter Hammer, 2016. 176 S., 19,90 Euro.

Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas (Hrsg. Katharina Raabe, Monika Sznajderman). Frankfurt /M.: Suhrkamp, 2006. 338 S., 29,80 Euro.

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