Stuttgart: Schmetterling, 2015. 228 S., 10 Euro
von Jan Schiffer
Unter Familismus versteht man in der Sozialwissenschaft die Position, die die klassische heterosexuelle, monogame Kleinfamilie zum Dreh- und Angelpunkt der Gesellschaft hochstilisiert und die Politik auf ihre Förderung ausrichtet. In dem Büchlein, das mit 225 Seiten relativ schnell lesbar ist, aber dennoch ausführlich in die Materie einführt, stellt die Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz zunächst den Begriff des Familismus vor und weist auf das Paradox hin, dass dieser immer noch die Leitlinie staatlicher Politik bildet, obwohl nur noch 24% der Haushalte aus Vater-Mutter-Kind-Familien bestehen.
Als Beispiel für die Fetischisierung der Familie zitiert sie Margaret Thatcher: «Es gibt keine Gesellschaft. Es gibt nur Individuen und Familien.» Ausführlich erörtert sie die Relevanz des Familismus für den Thatcherismus und andere sozialstaatsfeindliche Strömungen – wer sollte den Sozialstaatsrückbau denn sonst so stark kompensieren wie die Familie, die in der familistischen Ideologie gleichzeitig Pflegedienst, Erzieherin und Ort der Erholung ist?
Doch ist dies ist nur durch die klassische geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die kostenfreie Übernahme der sog. «Care-Arbeiten» (also Fürsorge-Arbeiten) durch Frauen möglich. In diesem Zusammenhang haben die Feministinnen der 68er-Bewegung den «Lohn für Hausfrauenarbeit» diskutiert: Silvia Federici kritisierte damals, dass klassisch männliche Arbeit als Lohnarbeit entlohnt werde, während klassisch weibliche Hausarbeit nicht entlohnt werde. Sie forderte den Hausfrauenlohn, was jedoch von großen Teilen der Bewegung als Bestätigung der klassischen Arbeitsteilung verstanden und deshalb scharf kritisiert wurde.
Dies ist eine von vielen Debatten, auf die Gisela Notz eingeht. Dabei zeigt sich, dass die Kritik des Familismus nicht neu ist: Schon im Mittelalter haben sich Frauen von der männlichen Gesellschaft abgekapselt; über die Frühsozialistin Flora Tristan (1803–1844) und die Gruppe La femme libre, die sich beide auf den Frühsozialisten Saint-Simon beriefen, diesen aber mit feministischer Gesellschaftskritik ergänzten und so weit gingen, die gesamtgesellschaftliche Dominanz sog. «weiblicher Werte» zu fordern; bis hin zur Sozialdemokratin Lily Braun (1865–1916), die der Kleinfamilie das Konzept eines mitten in einen Garten gebauten Häuserkomplex mit 50–60 Wohnungen und Zentralküche entgegenhielt; und Helene Stöcker, die sich schon 1905 mit ihrem «Bund für Mutterschutz und Sexualreform» gegen Abtreibungsverbot, Stigmatisierung unehelicher Kinder und das Verbot der Homosexualität einsetzte, steht der Familismus schon lange in der Kritik.
Linke bzw. linksradikale Kräfte sind ebenfalls schon lange vorantreibend dabei: Viele prominente frühsozialistische Theoretiker, wie beispielsweise Fourier, lehnten nicht nur das Patriarchat, sondern die klassische Ehefamilie an sich ab. Robert Owen legte in seinem frühsozialistischen Siedlungsprojekt New Harmony großen Wert auf die Bekämpfung patriarchaler Familienstrukturen. Auch der Anarchismus brachte zahlreiche Kritikerinnen des Familismus hervor, exemplarisch sei nur die Kommunengründerin Margarethe Faas Hardegger genannt.
Auch Friedrich Engels kritisierte die klassische Kleinfamilie radikal als «offene und verhüllte Haussklaverei der Frau», ebenso der prominente Marxist August Bebel, der schon früh revolutionäre neue Konzepte für die Haushaltsorganisation und neue Vorstellungen zur Frauenemanzipation entwickelte.
Ins Zentrum des Diskurses rückte die Familismuskritik insbesondere im Zuge der Frauenbewegung der 68er. Nachdem diese aufgrund der Unwilligkeit der Studentenführer, sich mit sexistischem Verhalten auseinanderzusetzen, verstärkt auf Autonomie setzte, entwickelten sich neue Konzepte, wie das der antiautoritären Erziehung in den Kinderläden, die ursprünglich zur Entlastung der Mütter gedacht waren. Diese neue Frauenbewegung wurde unter anderem von Theoretikern wie Wilhelm Reich und Max Horkheimer beeinflusst, eine zentrale Rolle nahm aber vor allem Simone de Beauvoir ein, die mit ihrem epochalen Werk Das andere Geschlecht die Kategorie «Frau» einer grundsätzlichen kritischen Untersuchung unterzog; sie gipfelte in dem berühmt gewordenen Satz: «Man wird nicht als Frau geboren, man wird es», womit sie den Grundstein für den modernen Feminismus legte.
Wichtige Impulse kamen aber auch aus den USA, beispielsweise von Betty Friedan, die mit ihrer National Organization for Women u.a. für die Liberalisierung der Abtreibung kämpfte, und auch von der Radikalfeministin Shulamith Firestone, die eine «doppelte Revolution» gegen Patriarchat und Klassengesellschaft für notwendig erachtete, und in ihrem Werk The Dialectic of Sex Möglichkeiten künstlicher Fortpflanzung forderte.
Neben diesem Abriss über die Geschichte der Kritik des Familismus beschäftigt sich Gisela Notz noch mit dem Verhältnis der staatlichen Politik zum Familismus. Hier geht sie u.a. auf die Rolle des Familismus im Nationalsozialismus ein, der mit Mutterkreuz, Muttertag und Co. die klassische Familie als «Keimzelle des Staates» und Lieferant von menschlichem Nachschub für die Front besonders förderte. Auch auf die Verbindung von Familismus und Nationalismus – etwa auf die Angst vor dem «Aussterben des Volkes» – geht sie ein. Dieser Fokus blieb auch nach dem Ende des Nationalsozialismus erhalten, die Adenauer-Regierung stellte die klassische Kleinfamilie als einzig akzeptable Form des Zusammenlebens dar und richtete zu ihrer Förderung das Familienministerium ein.
In der frühen Bundesrepublik wurde Sexualität nur in der Ehe als legitim angesehen, außereheliche Sexualität war Tabu, Homosexualität bei Männern sogar verboten, berufstätige Mütter wurden als «Rabenmütter» bezeichnet. In der DDR sah es etwas besser aus, hier wurde die Rechtslage früher modernisiert und berufstätige Frauen waren die Norm, die Wende war im Osten Deutschlands aus feministischer Sicht ein Rückschritt.
Zum Schluss geht Notz noch auf den gesellschaftspolitischen Status quo ein und gibt einen Überblick über politische Vertreter des familistischen Konservativismus wie die «Demo für alle». Das Buch ist sehr empfehlenswert, leicht verständlich bietet es einen Überblick über den Themenkomplex «Familismus», und durch die zahlreichen Literatur- und Quellenangaben ist es der perfekte Einstieg in das Thema.