von Diego Giachetti*
In den vergangenen Monaten hat Italien die massivste und längste Wahlkampagne in der Geschichte der Republik erlebt, höchstpersönlich angeführt vom Chef der Regierung, "unserem" Matteo Renzi, ein echter Scharlatan der Politik im Dienst der Interessen der Bourgeoisie. Aufgrund seines egozentrischen Charakters, fortgerissen vom Rausch des Erfolgs, hat er sich entschlossen, mit dem Referendum alles auf eine Karte zu setzen. Und hat verloren. Die Änderung verschiedener Artikel der Verfassung sollte den dreijährigen Zyklus der Gegenreformen abrunden. Diese Gegenreformen waren von der Regierung eingeführt worden entsprechend den Weisungen des Finanzunternehmens JP Morgan Chase & Co, das 2013 die Staaten Südeuropas aufgefordert hatte, an die Sparpolitik angepasste Strukturreformen, einschließlich einschneidender Verfassungsänderungen, einzuführen. Dies bezog sich auf jene Verfassungen, die von sozialistischen Ideen beeinflusst sind, den Arbeitenden exzessive Rechte gewähren und bei denen die Macht der Regierung zu sehr durch die Souveränität des Parlaments beschränkt ist. Die Regierung Renzi nahm diese Einladung wörtlich und setzte sie mit einer Reihe von "Reformen" um. Im März 2014 verabschiedete sie die Reform des Wahlsystems (Italicum), die der Partei, die 40% der Stimmen erhält, die Mehrheit der Deputierten in der Kammer (54%) zuweist. Dann wurde das Jobs Act eingeführt, dazu bestimmt, alle die Arbeit betreffenden Schutzbestimmungen abzuschaffen. Dann kam die Schulreform etc. etc. bis zur Verabschiedung wesentlicher Änderungen der Verfassung von 1948, in der Absicht, das Parlament seiner gesetzgebenden Macht zugunsten einer stärkeren Exekutive zu berauben. Der gewählte Senat sollte abgeschafft und durch einen von politischen Cliquen ernannten Organismus ersetzt werden, der der Regierung kein Misstrauen mehr aussprechen konnte und somit in seiner legislativen Macht beschränkt war. Derartige Reformvorschläge waren Gegenstand des Referendums vom 4. Dezember.
Das italienische Wahlvolk hat die Vorschläge Renzis im Referendum mit einem klaren Nein abgelehnt – und dies trotz der einmütigen und einhämmernden Unterstützung für das Ja seitens der Massenmedien – des Fernsehens wie der Presse –, aller Unternehmerverbände, der Finanzwelt, fast aller Meinungsmacher. Die italienische Bevölkerung hat in ihrer großen Mehrheit die Rezepte und die Politik der Angst, das Gespenst des "Sprungs ins Ungewisse", an die Absender zurückgeschickt. In dem Maße wie die Meinungsumfragen einen möglichen Sieg des Nein ergaben, wurde das Geschrei lauter: Gefahren für die italienische Wirtschaft, enorme soziale Dramen; die Mächtigen der Welt (Obama an vorderster Front) und Europas mit ihren Journalen, alle beschwörten den Sieg des Ja. Doch stattdessen das Nein. Diesmal hatten die Umfragen die Zeichen richtig erfasst, aber nicht das Ausmaß der Gegenstimmen und der Beteiligung am Referendum. Millionen Italiener sind an die Urnen gegangen (fast 70%), so viel wie seit Jahren nicht mehr bei einem Referendum. Das Verfassungsgesetz, mit dem die Regierung Renzi 47 Verfassungsartikel verändern wollte, angestiftet u.a. vom ehemaligen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano, ist krachend durchgefallen. Das Nein erhielt 60% der Stimmen, d.h. fast 20 Millionen – 20 Prozentpunkte mehr als das Ja mit seinen 6 Millionen Stimmen: ein ganz schöner Unterschied.
Nachdem die öffentliche Fürsorge geschlagen, die Rechte der Arbeit zerstört, die Schule für alle erledigt und das Gesundheitssystem massakriert wurde, wollten die Unternehmer den Kreis nun auch auf der Ebene der Institutionen schließen, denn die verallgemeinerte Austerität kann nur bei Einschränkungen der Demokratie und der Rechte voranschreiten. In den Motivationen für das Nein zu der Verfassungsänderung sind verschiedene Gründe zusammengefasst: das Misstrauen gegenüber der Regierungspolitik und auch ein persönlicher Faktor: die Art und Weise wie die Wahlkampagne von Renzi geführt wurde. Das Nein war auch ein Nein gegen diese Person, denn Renzi hatte die extreme Personalisierung des Referendums so gewollt. Seine Dreistigkeit, seine Art, sich als einzige Person, die das Sagen hat, zu präsentieren, hat vielen Italienern nicht gefallen. Die übermäßige Medienpräsenz des Ministerpräsidenten, der jederzeit auf allen TV-Kanälen anwesend war, hat sich nicht nur nicht ausgezahlt, sie hat vielmehr eine Gegenreaktion hervorgerufen, die gewiss auch zum Ausmaß seiner Niederlage beigetragen hat.
Um das Referendum hat sich eine Protestbewegung verdichtet, die bereits bei den jüngsten Kommunalwahlen zum Ausdruck gekommen ist und jetzt im Land die Mehrheit geworden ist. Einen solchen Ausdruck der kollektiven Unzufriedenheit auf die Unterstützung dieser oder jener politischen Kraft zu reduzieren wäre zu einfach. Mit Nein gestimmt haben viele der unteren Schichten und ein Teil der durch die Wirtschaftskrise verarmten Mittelschicht, der die Aussicht auf Wohlstand und soziale Sicherheit für sich, seine Kinder und seine Enkel schwinden sieht. Das Abstimmungsergebnis repräsentiert eine soziologische Analyse nach Klasse, Geschlecht und Alter sowie eine räumliche Verteilung, die Zentrum und Peripherie einander entgegenstellt. Die Zerlegung des Wahlresultats nach Geschlecht, Altersklassen, Beschäftigung, Wohnort ist bezeichnend. Das Nein siegt unter der weiblichen Bevölkerung (60,7%), bei den 18- bis 34jährigen (über 70%), das Ja hat nur eine Mehrheit bei den über 60jährigen, bei allen anderen Altersklassen erhält das Nein zwischen 57% und 67%.
Innerhalb der aktiven Bevölkerung erhält das Nein 66% bei den Arbeitern und 62% bei den Angestellten, den Technikern, Lehrenden und Beamten, 62% bei den freiberuflich Tätigen und 76% bei den prekär Selbständigen. Das Ja siegt dagegen bei den leitenden Angestellten (50%). Unter der nichtaktiven Bevölkerung siegt das Nein mit über 60% bei den Studierenden, den Hausfrauen und den Erwerbslosen (76%), das Ja dagegen bei den Rentnern (55%).
Geografisch siegt das Ja nur in drei Regionen: Trentino, Toskana und Emilia Romagna. Das Nein ist am stärksten in den von der Krise am meisten betroffenen südlichen Regionen. In allen großen Städten des Südens setzt sich das Nein mit großer Mehrheit durch: in Neapel mit 70%, in Palermo mit 73%. In den großen Städten konzentriert sich das Ja in den Vierteln, in denen die große und mittlere Bourgeoisie lebt.
Das Nein hat gesiegt trotz der Unfähigkeit – oft von dem an den Tag gelegt, was sich noch als links definiert –, zusammen mit dem Kampf für die Demokratie eine soziale Mobilisierung zu entwickeln, die die wirklichen Entscheidungen Renzis und der Confindustria offenlegt. Während der Wahlkampagne war es tatsächlich notwendig, den Kampf für die Verteidigung der durch die Verfassung festgelegten demokratischen Rechte mit dem sozialen Kampf für die Verteidigung der Interessen der arbeitenden Klassen zu vereinigen. Nicht immer hat die Kampagne für das Nein diese beiden Elemente miteinander kombiniert. Dies haben jedoch die Wähler getan. Es ist nicht nur die Attraktivität der vom Referendum gestellten Frage, die die Leute an die Urnen trieb. Wut und Unzufriedenheit haben in verschiedenen sozialen Schichten und Bereichen überhand genommen.
Im Laufe dieser Kampagne ist es der Linken nicht gelungen, ihre Stimme ausreichend vernehmbar zu machen. Sie hat die Politik der Regierung nicht in das Zentrum ihrer Opposition gestellt. In den letzten Wochen vor dem Referendum haben sich die Spitzen von CGIL und FIOM, wenngleich sie sich für das Nein aussprachen, nicht nur nicht durch Einsatz in der Kampagne gegen die Regierung ausgezeichnet, sie haben am Vorabend der Abstimmung auch eilig zuerst den Tarifvertrag für die Metallindustrie und einen Vorvertrag für den Öffentlichen Dienst unterzeichnet und so alle Vorgaben der Regierung akzeptiert, während sie lächerliche Erhöhungen für die Beschäftigten herausholten, die im Verhältnis zum Kaufkraftverlust der Löhne lächerlich waren. Ebenso schwach und kritikwürdig ist die Haltung derjenigen gewesen, die in die eigene Plattform für die Herbstmobilisierung nicht die Ablehnung der Verfassungsreform einschlossen und sich stattdessen auf die sozialen Fragen beschränkten.
Während der Kampagne gab es Kräfte, die sich grundsätzlich für die Ablehnung der Verfassungsreform einsetzten, aber die Notwendigkeit der sozialen Mobilisierung für das Nein nicht verstanden und sich auf die Verteidigung einer mythischen Vision der Verfassung beschränkten. Dabei sahen sie nicht, dass diese die Frucht bestimmter Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen während des antifaschistischen Widerstands 1943–1945 war und ist. Dies war und ist sicher eine demokratische, doch immer noch bürgerliche Verfassung, die aber bedeutende Elemente demokratischer Garantien bezüglich des Gleichgewichts der Macht des Staates und der Wahlmechanismen enthält sowie Prinzipien von Gleichheit, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, die für ihre Verwirklichung vom Kräfteverhältnis zwischen den Klassen abhängen. Nicht zufällig haben solche Prinzipien ihre Verwirklichung in den Reformen gefunden, die durch die Kämpfe der Arbeitenden und Studierenden der 60er und 70er Jahre durchgesetzt werden konnten, um dann nach und nach durch den Niedergang des Klassenkampfs und das Aufkommen der neoliberalen Politik der Bourgeoisie aufgefressen zu werden. (Siehe dazu ausführlicher den Beitrag von Franco Turigliatto in SoZ 1/2017.)
Der demokratische Sieg im Referendum und der Rücktritt der Regierung muss zur Gelegenheit werden für eine Wideraufnahme der sozialen Mobilisierung und der Kämpfe am Arbeitsplatz, in den Schulen und Universitäten, in den Regionen, für die Verteidigung der Rechte, der Umwelt, für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Nur so wird der Wiederaufbau einer Linken möglich sein, die diesen Namen verdient, um zu vermeiden, dass das Resultat dieses mühsamen Kampfes nur ein Wahlkampf sein wird zwischen einer Fünfsternebewegung (M5S), die ihre eigenen Grenzen zu überwinden unfähig ist, und den alten Parteien, die das Land in den letzten Jahrzehnten schlecht regiert haben.
Die "Front des Nein" hat einen Erfolg geerntet, der aus vielen Gründen nicht in der Lage ist, politisch vrwaltet zu werden. Die Rechte bleibt gespalten und ist einer klaren Führung beraubt. Die M5S scheint über keinerlei klare Strategie und kein Programm zu verfügen, außer ihrer Bestätigung durch Wahlen. Die "Linke" der PD wird sich in einem langen und auszehrenden Kampf innerhalb der Partei verlieren. Die "radikale" Linke ist zur Stunde schwach, desorganisiert und aus dem Spiel. Renzi hat die Auszählung gewollt und hat alles verloren. Mit seinem Sturz hat er die Regierung mitgerissen und mit der Regierung die Stabilität, die so viele Male als höchstes Gut von der herrschenden Klasse und der Meute der ihr sekundierenden Massenmedien beschworen wurde. Das Votum vom 4. Dezember hat nicht nur Renzi eine Niederlage beigebracht, sondern auch der Politik der italienischen Bourgeoisie, die ihre Karten auf diesen aufstrebenden und vielversprechenden "Jungen" gesetzt hat. Die Verfassungsänderungen waren keine Schrulle des Ministerpräsidenten. Sie waren die Antwort auf präsize Erfordernisse des Kapitalismus und der Weltfinanz. Die Bourgeoisie, die ihn unterstützt hat, hat mit dieser Abstimmung eine Niederlage erlitten. Es wird kein Zufall sein, wenn am Tag nach dem Votum der Direktor von "La Repubblica" seinen Leitartikel mit "Ein Sprung ins Ungewisse" überschreibt, mit dem er den Rücktritt Renzis und die mögliche Regierungskrise kommentiert. Doch ist keine andere Partei momentan in der Lage, der herrschenden Klasse ein sicheres Ufer zu bieten. Derzeit gibt es keine Möglichkeit für eine Regierung der Rechten. Sie sind zu schwach und gespalten, um eine Alternative darzustellen, und die herrschende Klasse selbst scheint nicht allzu interessiert an einer derartigen Alternative. Die herrschende Klasse weiß sehr wohl, was sie will, und hat es sofort nach der Abstimmung auf den Seiten von "Il Sole 24 ore" gesagt: "Die Märkte werden sich beruhigen, wenn nach dem angekündigten Rücktritt von Matteo Renzi rasch die Bildung einer Regierung folgt, die regiert und verspricht, das zu tun, was zu tun ist: ein neues Wahlgesetz, die Lösung der Probleme einiger Banken ohne Aufschub und ohne Intransparenz, ein Bilanzgesetz, die Bestätigung der vorbereiteten Strukturreformen, die Konsolidierung des Haushalts." Sie wollen das Programm von Renzi nach Renzi, trotz der 60%, die zu all dem Nein gesagt haben.
Geschlagen beim Referendum, hat die Regierung noch die Mehrheit im Parlament und das politische Spiel ruht in den Händen der PD.
Nach dieser Abstimmung und ausgehend von der Realität, die sie offenbart hat – wird der Aufbau jener Linken, deren Fehlen heute spürbar ist, beginnen können? Das ist eine gute Frage und wir hoffen darauf eine gute Antwort zu finden.
* Quelle: Diego Giachetti: Sì o No? Decisamente No! L’esito del referendum costituzionale in Italia. In: Solidarietà (Bellinzona), Nr.10, 16.12.2016.
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