Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2016
Die Welle der Gewalt gegen Kurden ebnet den Weg in ein autoritäres Regime
von Francis O’Connor

Die politische Situation in der Türkei verschlechtert sich zunehmend seit dem Putschversuch im Sommer dieses Jahres, der vorgeblich von der sog. Gülen-Bewegung ausgegangen ist, der ehemals Verbündeten der regierenden AKP. Dieser Putsch hat zu einem Gegenputsch geführt, der kontinuierlich fortschreitet und im Verlaufe dessen Erdogan und seine Verbündeten Oppositionelle aller Richtungen, vor allem aber Kurden, mundtot macht, ausgrenzt und verhaftet.

 

Der fehlgeschlagene Putsch hat Erdogan den Vorwand geliefert, 80000 angeblich Verdächtige zu verhaften (von denen 40000 immer noch in Haft sind), 150 Medien zu schließen, mehr als 100000 Beamte zu feuern und die oberen Ränge der Armee mit Erdogan-Loyalen zu besetzen. Darüber hinaus hat er Erdogan eine Handhabe geliefert, seine Hauptgegnerin, die prokurdische linke Volkspartei HDP, auszulöschen, weil sie verhindert hat, dass er eine Präsidialregierung installiert. Im Gefolge seiner Kampagne gegen die Kurden wurden zwölf HDP-Abgeordnete verhaftet, unter ihnen die beiden Vorsitzenden der HDP, Selabattin Demirtas und Figen Yüksedag.

Die HDP spielte keine Rolle beim Putschversuch, die Partei hat sich sogar sofort gegen ihn gestellt und wurde dafür von Erdogans Premierminister Binali Yildrim sogar gelobt. Obwohl Erdogan im Jahr 2015 den Friedensprozess, der den Konflikt zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und dem türkischen Staat beilegen sollte, kalkuliert sabotiert hat, haben die kurdischen Organisationen den Putschversuch 2016 nicht unterstützt. Viele hochrangige Militärs, die als Anstifter des Putschversuchs entlarvt wurden, waren in jüngster Vergangenheit direkt für die brutale Bekämpfung der Unruhen in Kurdistan verantwortlich.

Dennoch hat Erdogan seit Juli den von ihm verhängten Ausnahmezustand dazu genutzt, hemmungslos gegen alle Vertreter des prokurdischen politischen Spektrums vorzugehen. Einer Reihe von städtisch finanzierten Graswurzelkooperativen wurde die finanzielle Unterstützung gestrichen, Sprachschulen wurden geschlossen und tausend kurdische Lehrer entlassen. Sogar Zarok-TV, ein kurdischsprachiger Fernsehsender für Kinder, wurde geschlossen.

Im September verabschiedete die Regierung ein Dekret, mit Hilfe dessen 28 Stadtregierungen entlassen und neue Verwalter eingesetzt wurden. 24 der 28 Lokalregierungen lagen in Kurdistan und wurden von der DBP, der Schwesterpartei der HDP, regiert. Zur Zeit befinden sich rund dreißig gewählte kurdische Bürgermeister im Gefängnis, weitere 70 wurden entlassen. Mit dieser drastischen Einmischung in lokale Verwaltungen hat sich die türkische Regierung über den demokratischen Willen von Millionen von Kurden und anderen ethnischen und religiösen Minderheiten in Kurdistan, die ihre örtlichen Vertretungen gewählt haben, einfach hinweggesetzt.

Im Oktober wurden die stellvertretenden Bürgermeister von Diyarbak?r, Gultan Kisanak und Firat Anli, unter dem Vorwand vielfach aufgeblähter Vorwürfe verhaftet – unter anderem weil sie die Rückführung gefallener kurdischer Kämpfer unterstützt hatten, damit diese beerdigt werden konnten.

Die Verhaftung der hochrangigen und international anerkannten Führungsriege der HDP stellt jedoch eine Eskalation durch die türkische Regierung dar. Sie reiht sich ein in die berüchtigte Tradition des legalen wie außerlegalen Vorgehens gegen die kurdische Parlamentspartei seit den 90er Jahren.

 

Systemwechsel

Die Gewalt gegen die HDP und deren Unterstützer erreichten einen Höhepunkt im Sommer 2015, als die Partei erstmals die 10%-Hürde nahm und ins türkische Parlament einzog. Dadurch verfehlte Erdogan die absolute Mehrheit, die er brauchte, um die Verfassung so zu ändern, dass er auf Kosten des Parlaments neue Machtmittel in die Hand bekommt und die Türkei in ein präsidiales Regime verwandeln kann.

Ein Bericht der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD bestätigte, vor den Wahlen im Juni 2015 habe es 114 Angriffe gegen die HDP gegeben, dabei gab es 47 Verletzte. Es gab sogar einen Bombenanschlag des IS auf eine Versammlung der HDP in Diyarbakir, bei dem drei Parteianhänger getötet und Hunderte verletzt wurden. Die Gewalt nahm nach den Wahlen zu, es gab eine Reihe von Bombenangriffen des IS gegen die HDP in Suruc und Ankara, bei denen es viele Opfer gab.

Es ist zwar noch nicht bestätigt, aber es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass Elemente in den Reihen der türkischen Sicherheitskräfte mit dem sog. Islamischen Staat kooperiert haben oder zumindest von den Angriffen wussten. Darüber hinaus haben die türkischen Sicherheitskräfte eine riesige Militär­operation lanciert, um der PKK nahestehende kurdische Jugendliche aus den Zentren kurdischer Städte zu entfernen. Historisch und kulturell bedeutende kurdische Stadtzentren wurden dabei zerstört und Hunderte Zivilisten getötet.

Die jüngsten Verhaftungen von HDP-Abgeordneten sind eine Fortsetzung von Erdogans antikurdischen Maßnahmen – ziemlich sicher werden sie zum Verbot der Partei führen. Angesichts der Wahlverhältnisse in Kurdistan ist offenkundig, dass die frei gewordenen Parlamentssitze der HDP von der AKP besetzt werden, womöglich mit Hilfe der rechtsextremen Partei MHP. Damit kann Erdogan seine Vision eines politischen Systemwechsels verwirklichen, das ihn zum Führer machen wird.

 

Präventivschläge

Abgesehen von den internen politischen Entwicklungen gibt es auch einen regionalen Aspekt in Erdogans Strategie. Die Türkei hat vor kurzem in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen: Vorgeblich wurde der Islamische Staat attackiert, in Wirklichkeit wurden jedoch die Verteidigungskräfte bekämpft, die der syrischen Schwesterpartei der PKK, der PYD, nahe steht.

Türkische Kräfte haben kurdische Stellungen in Syrien bombardiert und wollen um jeden Preis den Jarablus-Korridor offenhalten, der eine unmittelbare Nachbarschaft der drei Kantone verhindert, die von der kurdischen Bewegung und ihren lokalen Verbündeten in Rojava regiert werden.

Die zunehmend kriegerische Haltung der Türkei ist einer Änderung ihrer politischen Taktik geschuldet: Nunmehr bevorzugt sie Präventivaktionen außerhalb der türkischen Grenzen, um eigene Interessen zu verteidigen. So lancierte sie den sog. Euphrat-Schild: Damit sollen Sunniten und Turkmenen in Mossul geschützt und die Kurden geschwächt werden. Die Kampagne gegen die Kurden jenseits der türkischen Grenzen muss man als Teil der regionalen Anti-Kurden-Strategie der Türkei sehen, die nicht nur die bewaffnete PKK und die PYD ins Visier nimmt, sondern auch die kurdischen Parlamentsangehörigen.

Es bleibt abzuwarten, wie die kurdische Bewegung auf diese jüngsten Entwicklungen reagieren wird. Am 4.November gab es einen Selbstmordangriff auf ein Polizeigebäude, in dem viele HDP-Abgeordnete festgehalten waren. Zwei von ihnen, Figen Yüksekdag und der Abgeordnete aus Ankara, Süreyya Önder, befanden sich zu dem Zeitpunkt im Gebäude, der örtliche DPB-Politiker Recai Altay wurde tödlich verwundet. Für den  Bombenanschlag hat der Islamische Staat verantwortlich gezeichnet, was interessant ist, denn bislang hat der IS keine Angriffe innerhalb der Türkei für sich reklamiert.

Die HDP hat sofort verlangt, dass die Polizei alle Informationen im Zusammenhang mit dem Attentat offenlegt. Es scheint ein bemerkenswerter Zufall, dass ein IS-Bomber genau dieses Gebäude angegriffen hat, nachdem kurz zuvor einige der prominentesten HDP-Politiker dort inhaftiert wurden. Zur Verwirrung trug auch der Umstand bei, dass eine PKK-Splittergruppe namens TAK den Angriff ebenfalls für sich reklamierte und sich für den Tod von Altay entschuldigte.

 

Zunahme von Gewalt ist absehbar

Abgesehen von diesem Bombenanschlag hat es bislang keine nennenswerte Zunahme von Gewalttaten gegeben. Mit der Verriegelung jedweder institutionellen politischen Möglichkeiten der Opposition ist es aber nur eine Frage der Zeit, bis sich der politische Frust der Kurden gegen die PKK und ihre bewaffneten Verbündeten richtet.

Yüksedag hat durch ihren Anwalt die folgende Stellungnahme veröffentlicht: «Trotz allem können sie uns die Hoffnung nicht wegnehmen und unseren Widerstand nicht brechen. Ob im Gefängnis oder nicht, die HDP und wir sind immer noch die einzige Option der Türkei für Freiheit und Demokratie. Das ist der Grund, warum sie solche Angst haben vor uns. Niemand, kein einziger von euch, darf sich demoralisieren lassen, in seiner Wachsamkeit und im Widerstand nachlassen. Vergesst nicht, dass dieser Hass und diese Aggression auf Angst beruhen. Liebe und Mut werden in jedem Fall gewinnen.»

Ihren Mut und ihre Hoffnung kann man nur bewundern, aber ohne Aussicht auf eine friedliche Austragung des Konflikts wäre es unrealistisch, zu diesem Zeitpunkt von der Möglichkeit einer Lösung zu sprechen. Wie hat es der angesehene türkische Intellektuelle Cengiz Candar ausgedrückt? «Mit dem, was in der letzten Woche passiert ist, bewegt sich die Türkei unaufhaltsam auf den Faschismus zu.» Es scheint, dass ein Verbündeter der EU und NATO-Mitglied sich zu einer ausgewachsenen Diktatur mausert, bei weitgehender Gleichgültigkeit von seiten der EU. Wenn der vereinte internationale Druck auf die Türkei fehlt, Erdogans megalomanen Autoritarismus zu bekämpfen, ist das einzige, was uns – bei Lichte betrachtet – bevorsteht, die Gewalt.

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