Interview mit Kim Moody
Digitalisierung und Roboterisierung machen die Arbeit überflüssig – diese Vorstellung wird stark von den Medien gepuscht. Der US-amerikanische Arbeitssoziologe und Gewerkschaftsaktivist Kim Moody ist da anderer Meinung, er sieht im Gegenteil neue Chancen auf die Arbeiterbewegung zukommen. Das Interview führte Chris Brooks.
Wie hat sich die Arbeitswelt in den USA in den letzten Jahrzehnten geändert?
Zunächst einmal hat sich die Arbeitsintensität erhöht. Die Arbeit ist in den letzten 30 Jahren sehr viel härter geworden – und wird es noch. Das geschah durch Lean Production (Schlanke Produktion)*, die die Arbeitszeit pro Produkt bzw. Dienstleistung erheblich reduziert hat und an Just-in-time-Produktion gebunden ist. Lean Production begann in den 80er Jahren in der Autoindustrie, inzwischen gibt es sie auch in Krankenhäusern, Schulen, überall.
Ein weiterer Aspekt ist die elektronische Kontrolle, Messung und Überwachung, die es Unternehmern ermöglicht zu erkennen, wie sie mehr Arbeit aus buchstäblich jeder Minute herausholen können. Auch die Pausenzeiten sind seit den 80ern dramatisch gesunken. Von dieser Entwicklung sind alle betroffen.
Die andere Seite ist das Einkommen. Die Reallöhne sind seit den frühen 70er Jahren gesunken. Immer mehr Leute arbeiten für weniger Geld als früher. Auch von dieser Entwicklung sind alle betroffen.
In seinen Prognosen über die am schnellsten wachsenden Branchen geht das Bureau of Labor Statistics davon aus, dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Millionen neuer Jobs entstehen werden, 70% davon in niedrig qualifizierten und schlecht entlohnten Bereichen. Wir sind also nicht auf dem Weg in eine Hightech-Ökonomie, die Reise geht vielmehr in Richtung einer Niedriglohnwirtschaft mit vielen miesen Jobs.
Lean Production hat die Arbeitswelt stark verändert. Kannst du das beschreiben, und was es für gewerkschaftliche Organisierung bedeutet?
Globalisierung ist nicht nur auf niedrige Löhne angewiesen, die Produkte müssen auch von A nach B bewegt werden. Das hat das gesamte Transportsystem auf den Kopf gestellt – die «Logistikrevolution».
Die Zeit, die benötigt wird, um ein Produkt dorthin zu bringen, wo es gekauft wird, ist ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. Genau wie der Produktionsprozess läuft auch der Transport inzwischen «just in time» ab. Waren bewegen sich schneller. Dabei hat sich die Geschwindigkeit der Lkw, Flugzeuge und Züge selbst gar nicht verändert. Verändert hat sich, wie die Dinge organisiert sind. Waren bleiben nicht mehr lange im Lager. Produkte werden mit der Bahn angeliefert und innerhalb von Stunden auf Lkw umgeladen und weitertransportiert.
Dieser Sofortumschlag ist eine Entwicklung des 21.Jahrhunderts. Damit er funktioniert, hat die Industrie Logistikcluster geschaffen: riesige Ansammlungen von Warenlagern – Orte, an denen sich Schienen-, Schiffs-, Luft- und Lkw-Transport treffen und üblicherweise auf elektronischem Weg koordiniert werden.
Nun könnte man denken: «Okay, das klingt alles ziemlich nach High-Tech.» Trotzdem braucht man dafür Zehntausende Arbeiter. In den USA gibt es 60 solcher Cluster, aber drei stechen hervor: der Hafen von New York und New Jersey; die Hafenzone von Los Angeles und Long Beach; und Chicago. Jedes dieser drei Cluster beschäftigt innerhalb eines geografisch ziemlich überschaubaren Gebiets mindestens 100000 Arbeiterinnen und Arbeiter.
Der ganzen Outsourcing-Idee der 80er Jahre lag das Ziel zugrunde, große Arbeiterkonzentrationen in Orten wie Detroit, Pittsburgh oder Gary zu zerschlagen. Jetzt haben die Unternehmen unbeabsichtigt gewaltige Ballungszentren manueller Arbeiter geschaffen. Das könnte sich für sie als Eigentor erweisen – denn hier gibt es plötzlich das Potenzial, schlecht bezahlte Arbeiterinnen und Arbeiter in großer Zahl gewerkschaftlich zu organisieren.
Der andere Punkt ist, dass diese Cluster durch Just-in-time-Systeme miteinander verbunden sind. Es gibt also Hunderte, vielleicht Tausende hochsensibler Punkte im Transportsystem. Wenn die Arbeit an einem Ort stillsteht, kannst du schnell riesige Gebiete lahmlegen.
Viele Kommentatoren machen den globalen Handel und das Outsourcing für den Verlust von Millionen industrieller Arbeitsplätze in den USA verantwortlich. Wie siehst du das?
Outsourcing kann, wenn es innerhalb der USA geschieht – was meistens der Fall ist –, Gewerkschaften das Wasser abgraben. Es kann sehr unangenehme Folgen für diejenigen haben, die ihren Job verlieren. Aber es vernichtet nicht zwangsläufig Arbeitsplätze in den USA. Die Jobs werden lediglich verlagert und von anderen, meist schlechter bezahlten Arbeiterinnen und Arbeitern durchgeführt.
Produktionsverlagerung ins Ausland gibt es natürlich auch, aber sie ist weniger verbreitet, als die meisten Leute denken. Produktionsverlagerungen in andere Länder hatten definitiv Auswirkungen auf Industriezweige wie die Stahlproduktion, die Textil- und Kleidungsindustrie. Aber sind sie nicht überwiegend für den Abbau von Arbeitsplätzen verantwortlich. Ich schätze, dass seit Mitte der 80er Jahre 1–2 Millionen Jobs durch Importe und Produktionsverlagerung ins Ausland verloren gegangen sind.
Tatsächlich hat das Produktionsvolumen in der Industrie von den 60er Jahren bis vor der Großen Rezession 2007 um 131% zugenommen, es hat sich also mehr als verdoppelt. Schon daran sieht man, dass die Industrieproduktion nicht komplett in andere Länder verschoben worden ist. Wie wurde das möglich? Die Antwort: durch Lean Production und neue Technologien, die Produktivität hat sich verdoppelt, aber die Zahl der Industriearbeitsplätze hat sich mehr als halbiert. Die Produktivitätszuwächse sind der Grund für den Jobabbau.
Es gibt viele Horrorszenarien über die Zukunft der Automatisierung. Andy Stern, der ehemalige Präsident der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, tourt durch die Talkshows mit der These von selbstfahrenden Lkw, die Millionen Lkw-Fahrer arbeitslos machen würden.
Mich erinnert das an die großen Automatisierungsängste der 50er Jahre. Damals war es sehr beliebt, das Verschwinden der Fabrikarbeit vorherzusagen. Automatisierung hat die Zahl der Fabrikarbeiter ja auch tatsächlich reduziert. Trotzdem gibt es noch 8 oder 9 Millionen von ihnen allein in den USA. Ich habe ein ganzes Regal voller Bücher, die das «Ende der Arbeit» vorhersagen. Trotzdem haben wir heute Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter mehr. Das Problem ist, dass sie schlechter dran sind als früher – nicht, dass es sie nicht gibt.
Die verschärfte Konkurrenz hat zu zahlreichen, auch großen Unternehmensfusionen geführt. Wie hat sich das auf die Beschäftigung ausgewirkt?
Diese neuen Fusionen und Übernahmen haben so richtig erst in den 90er Jahren eingesetzt. Sie unterscheiden sich fundamental von den Fusionswellen der 60er, 70er und 80er Jahre. Damals ging es vor allem um den Aufbau großer Konglomerate. Die Unternehmen kauften sich in alle möglichen Branchen ein: Produktion, Finanzdienstleistungen – alles, was sie in die Finger kriegen konnten. Seit Mitte der 90er Jahre gehen die Fusionen in die entgegengesetzte Richtung, unabhängige Unternehmensteile wurden abgestoßen. General Electric und General Motors hatten lange Zeit große Finanzsparten, die haben sie verkauft, obwohl sie mit ihnen Gewinne machten.
In allen größeren Industriezweigen gab es Zusammenschlüsse, bei denen Unternehmen entstanden, die mehr Personal beschäftigen als zuvor. In einigen Branchen ist die Konzentration gewaltig. Im Lkw-Transport etwa ist mit UPS in den letzten 20 Jahren ein riesiger Arbeitgeber entstanden, der heute in jedem Logistikbereich aktiv ist. UPS ist nicht mehr bloß ein Lieferant oder auch nur ein Lkw-Transportriese, sondern auch in der Luftfracht ein wichtiger Akteur.
Firmen kaufen also Bereiche auf, die mit ihrer Kernkompetenz zu tun haben. Die Besitzstrukturen wurden neu geordnet, und zwar auf ähnliche Weise wie in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, als Gewerkschaften die Beschäftigten dieser Branchenriesen organisierten.
Wie wirkt sich das auf die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit aus?
Die Konzentration der Eigentumsverhältnisse entlang der industriellen Wertschöpfung bedeutet, dass es jetzt mehr ökonomisch rationale Strukturen gibt, innerhalb derer Gewerkschaften organisieren können. Nimmt man dann noch die «Logistikrevolution» dazu, bekommt man eine Vorstellung davon, was ich mit dem «neuen Terrain des Klassenkampfs» meine.
Sowohl bei Gütern als auch bei Dienstleistungen haben wir es mit Produktionssystemen zu tun, die sehr viel stärker integriert sind als früher, die Unternehmen sind größer, kapitalintensiver und rationaler organisiert. Gewerkschaften sollten sich die verwundbaren Punkte der Just-in-time-Produktion und -Logistik zunutze machen, um unter einigen dieser neuen Giganten aufzuräumen. Die alte Idee der Industriegewerkschaften könnte wieder neuen Auftrieb bekommen, wenn – und das ist ein großes Wenn – die Gewerkschaften diese Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen wissen.
Meiner Ansicht nach muss dieser Schritt von der Basis kommen. Oder von denen, die heute noch gar nicht organisiert sind, wie die Leute in den großen Lagerhäusern. Es gibt heute tatsächlich ein Potenzial wie im letzten halben Jahrhundert nicht mehr.
Normalerweise dauert es eine Generation, bis die Beschäftigten sich ihrer Macht bewusst werden und begreifen, an welchen Punkten sie ansetzen müssen. Das war auch Anfang des 20.Jahrhunderts so, als sich die Massenproduktion durchsetzte. Es dauerte ziemlich genau eine Generation bis zu den großen Streiks und Auseinandersetzungen der 30er Jahre.
Auch die demografische Zusammensetzung der Arbeiterklasse hat sich verändert.
Ja, seit den 80er Jahren, im gleichen Zeitraum, in dem die Industriestruktur umgekrempelt wurde, hat sich auch die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung, vor allem aber der Arbeiterklasse, stark verändert. Schaut man sich die Transportberufe an, waren in den 80er Jahren etwa 15% der Beschäftigten Afroamerikaner bzw. lateinamerikanischer oder asiatischer Abstammung. Heute sind es 40%.
Nichtweiße stellen heute einen viel größeren Anteil an der Arbeiterschaft, vor allem wegen der Einwanderung. Den größten Zuwachs gibt es natürlich bei den Arbeiterinnen und Arbeitern lateinamerikanischer Herkunft. Auch 30–40% der Gewerkschaftsmitglieder sind heute Nichtweiße. Wir haben die Chance, eine phänomenal andere Art von Arbeiterbewegung zu erleben, wie es sie in den USA noch nie gab.
Eine beliebte Unternehmertaktik ist es, Arbeiter gegeneinander auszuspielen, etwa indem Arbeitsplätze in den Süden der USA verlegt werden, in denen die Gewerkschaften schwach sind. Was hat sich da getan?
Der Umfang der industriellen Wertschöpfung im Süden der USA ist bis in die 80er Jahre kontinuierlich gestiegen. Seitdem ist das Wachstum abgeflacht. Die Autozulieferer etwa wurden in den letzten 10–15 Jahren umfassend reorganisiert – es ist der größte Umbau einer Industrie, den ich je erlebt habe. Heute gibt es sehr viel weniger Unternehmen als früher, und die verbliebenen sind viel größer. Der Großteil von ihnen produziert jedoch im Mittleren Westen, nicht im Süden. Sehr viele sitzen in Michigan, und natürlich sind sie gewerkschaftsfrei.
Man wird das verarbeitende Gewerbe nicht wirklich knacken, bevor der Süden gewerkschaftlich organisiert ist. Und ja, die großen Unternehmen spielen die Beschäftigten unterschiedlicher Standorte gegeneinander aus. Doch durch die neue Struktur dieser Industrien und durch die Logistikrevolution haben die Beschäftigten nun ihrerseits die Möglichkeit, die Unternehmen in die Zange zu nehmen.
Sagen wir, du hast eine gewerkschaftliche Organisierungskampagne in einer Fabrik in South Carolina, und du willst die Produktion dort lahmlegen, um das Management zu zwingen, die Gewerkschaft anzuerkennen. Dann gibt es mit ziemlicher Sicherheit Zulieferer, egal ob im Süden oder im Mittleren Westen, die, wenn sie gewerkschaftlich organisiert sind, durch einen Streik die Produktion im Hauptwerk zum Stillstand bringen können.
Dank der neuen, super eng gestrickten Logistiksysteme können Gewerkschaften den Spieß umdrehen, indem sie Zulieferer dichtmachen oder mit einem Streik im Transportbereich die Versorgung kappen und so die Firmen in den südlichen Bundesstaaten zum Einlenken zwingen. Das erfordert allerdings eine Kooperation zwischen den Gewerkschaften. Darüber müssen sie anfangen nachzudenken, wenn sie den Süden organisieren wollen.
*Als «Lean Production» (Schlanke Produktion) wird seit Ende der 80er Jahre eine möglichst genau auf die Nachfrage zugeschnittenen Betriebsorganisation bezeichnet. Dazu gehören die Reduzierung von Transport- und Lagerzeiten (und -kosten), Arbeitsverdichtung und Optimierung der Produktionsabläufe und eine möglichst flexible Personalpolitik.
Quelle: labornotes.org. Erstveröffentlichung auf deutsch in Analyse & Kritik, Nr.620. Wir danken der AK-Redaktion für die freundliche Überlassung. Von der SoZ-Redaktion überarbeitet und leicht gekürzt.
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