Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2017

Brief an einen „Genossen“, der darauf besteht, das nicht zu Rechtfertigende zu rechtfertigen*

von Julien Salingue

 Genosse”,

Seit ein paar Wochen nehme ich mir vor, Dir zu schreiben. Die tragischen Ereignisse von Aleppo und Deine Reaktion oder manchmal auch Nicht-Reaktion darauf haben mich überzeugt, dass es so weit ist: Ich muss mich an Dich wenden; nicht unbedingt, um Dich zu überzeugen, denn ich fürchte, dafür ist es leider schon zu spät. Aber um die Dinge wenigstens ausgesprochen zu haben, so dass du später nicht sagen kannst, Du habest es nicht gewusst.

Im Namen des Anti-Imperialismus?

Die Stadt Aleppo ist Opfer eines Massakers, eines regelrechten Gemetzels. Es bleibt nicht aus, dass man sich erinnert fühlt an andere Städte, die einem solchen Matryrium ausgesetzt wurden: Srebrenica, Grosny, Falludscha, aber auch Warschau und Guernica oder aber die palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Chatila. Was an direkten Zeugenaussagen aus der Stadt zu uns dringt, Zeugnisse „normaler“ Syrerinnen und Syrer und nicht nur von Mitgliedern irgendwelcher bewaffneter Gruppierungen, spricht Bände, besonders da sie durch Fotos oder Videos untermauert werden. Worte und Bilder, die vom Elend erzählen, von der Ohnmacht, vom Entsetzen.

Doch Du, “Genosse”, hast in den letzten Tagen keine Mühe gescheut – falls es irgendwie angemessen ist, diesen Aufwand Deinerseits als solche zu bezeichnen – um zu erklären, dass man sich nicht für die Bewohnerinnen und Bewohner Aleppos einsetzen solle, und dass man die Bombardements, denen sie zum Opfer fallen, nicht anprangern solle, genauso wenig, wie man dies mit den Verbrechen tun solle, die die Bodentruppen bei der „Befreiung“ der Stadt begehen. Mit anderen Worten, Du hast alles daran gesetzt, um uns klarzumachen, dass man sich nicht eindeutig und entschieden gegen ein Massaker aussprechen solle, das vom Regime des Diktators Baschar al-Assad und seinen Alliierten, allen voran Russland und Iran, geplant und verübt wird.

Wenn ich Dich als “Genossen” anspreche, dann, weil wir in der Vergangenheit gemeinsam an einer Reihe von Kämpfen beteiligt waren, vor allem, aber nicht nur, dem Kampf für die Rechte der Palästinenserrinnen und Palästinenser. Weil ich dachte, es gäbe trotz unserer Divergenzen, gemeinsame Prinzipien, die uns verbinden - anders als rechte und rechtsextreme Unterstützerinnen und Unterstützer Putins oder Assads, denen ich nichts mitzuteilen habe. Sie haben bei ihrer Befürwortung autoritärer Regimes im Namen gemeinsamer „Werte“ nie auch nur so getan, als gehe es ihnen um die Entwicklung einer wirklichen Solidarität mit unterdrückten Bevölkerungen.

Du dagegen, “Genosse”, schmückst Dich mit “progressiven”, „anti-imperialistischen”, ja „sozialistischen“, „kommunistischen“ oder sogar „revolutionären“ Tugenden. Und ausgerechnet im Namen all dessen versuchst Du, uns heute davon zu überzeugen, dass es nicht angeht, ganz entschieden auf der Seite der Bevölkerung Aleppos zu sein, die belagert und abgeschlachtet wird, und dass wir morgen, wenn in anderen syrischen Städten, die bereits unter Belagerung sind, die Bewohnerinnen und Bewohner massakriert werden, nicht zu ihnen stehen sollen.

Ce qui n’est pas, tu l’avoueras, le moindre des paradoxes.

Das, so wirst Du zugeben, ist kein ganz geringfügiger Widerspruch.

Die Schlimmsten sind nicht unbedingt die, von denen man es annimmt.”

Ich hatte tatsächlich angenommen, ich wüsste worin das quasi „genetische“ gemeinsame Erbe der anti-imperialistischen Linken besteht: an der Seite derjenigen zu sein, die von den imperialistischen Staaten und ihren Alliierten ausgelöscht werden. Ich hatte angenommen, dass im Rahmen dieser „Gene“, die wir, wie es schien, teilten, die internationale Solidarität nicht verhandelbar sei. Und ich hatte gehofft, dass das Martyrium Aleppos Dich trotz Deiner manchmal fragwürdig schlingernden Stellungnahmen angesichts der syrischen Tragödie zur Vernunft bringen und zu den gemeinsamen Grundlagen zurückführen würde.

Aber nein. Du bleibst dabei. Du bleibst dabei und versuchst uns zu erzählen, dass man nicht für die Bevölkerung Aleppos, während sie abgeschlachtet wird, Partei ergreifen soll. Du bleibst dabei und willst uns weismachen, dass „die Dinge nicht so einfach sind“. Du bleibst dabei und erklärst uns, in diesem „Krieg“ gebe es nicht „auf der einen Seite die Guten und auf der anderen die Bösen“, und so müsse man einen kühlen Kopf bewahren und dürfe es sich nicht zu einfach machen.

Denn Du, „Genosse“, machst es Dir selbstverständlich nicht zu einfach. Auf keinen Fall. Du legst uns vielmehr Deine komplexe Analyse vor, auf höchstem Niveau und nuancenreich, und sie lautet in etwa: „Nein, Assad ist kein Demokrat und die Staaten, die ihn unterstützen, sind, ehrlich gesagt, auch nicht gerade vorbildlich. Doch Vorsicht: Der sogenannte syrische Aufstand wird mehrheitlich von islamischen Fundamentalisten, also Jihadisten getragen, die wiederum durch reaktionäre Regimes wie Saudi-Arabien, Katar und die Türkei ferngesteuert und bewaffnet werden, mit anderen Worten von deren westlichen Paten, vor allem den Vereinigten Staaten und Frankreich.“  

Also: “Vorsicht, die Schlimmsten sind nicht unbedingt die, die man dafür hält.”

Und die syrische Bevölkerung? 

Das erste Problem an Deiner Analyse, “Genosse”, besteht darin, dass sie einen wesentlichen Akteur “vergisst”: die syrische Bevölkerung. Du scheinst tatsächlich zu vergessen, dass der Ausgangspunkt der „Ereignisse“ in Syrien keine saudische, US-amerikanische, katarische oder türkische Intervention ist. Nicht mal eine russische. Der Ausgangspunkt von allem besteht darin, dass sich im März 2011 hundertausende Syrerinnen und Syrer gegen eine räuberische Diktatur erhoben haben, genau wie in Tunesien, wie in Ägypten, wie in Libyen. Und wenn Assad und seine Schergen sich nicht dafür entschieden hätten, den Aufstand blutig niederzuschlagen, was bereits 2011 fünftausend Menschen das Leben kostete und zur Verhaftung von Zehntausenden führte, dann wären auch dieser Diktator und seine Clique durch den Druck der Bevölkerung gestürzt worden.

Und wir sprechen hier vom Jahr 2011, dem Jahr, erinnere Dich, “Genosse”, in dem Du Dich für die anderen Aufstände in der Region begeistert hast. „Das Volk will den Sturz des Regimes“, erinnerst Du Dich? Vielleicht hast Du das sogar in einer französischen Stadt gerufen, Du, der sich so sehr für Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Demokratie einsetzt. Auch in Syrien ist dieser Ruf erklungen und man verband ihn mit denselben wirtschaftlichen, sozialen und politischen Forderungen wie in den anderen Ländern der Region, die sich erhoben, und Riad, Doha, Paris oder Washington hatten nichts damit zu tun. Wenn Du Dich so genau für die Situation in Syrien interessierst, dann solltest Du vor allem wissen, dass jedes Mal, kaum gab es einen Waffenstillstand, erneut demonstriert wurde. Dass ohne das Eingreifen des Iran, dann Russlands das Regime gefallen wäre – unter dem Druck der syrischen Bevölkerung, nicht dem von ein paar tausend „ausländischen Kämpfern“, die, das nur nebenbei, erst kamen, als das Regime bereits tausende unbewaffnete Syrerinnen und Syrer umgebracht und aus den Gefängnissen an die hundert, wenn nicht hunderte „Jihadisten“ entlassen hatte. Hast Du Dich schon mal gefragt, warum? In der Tat, Du solltest wissen: Die syrische „Krise“ wurzelt letztendlich darin, dass die Menschen einen Klan herausgeforderten haben, der so darauf reagiert hat, wie er reagiert hat: lieber alles zerstören als seine Macht und seine Pfründe abgeben.

Es sei denn, Du willst allen Ernstes behaupten, dass die Syrerinnen und Syrer von Anfang an von den westlichen Ländern manipuliert wurden, dass es bei all dem um nichts anderes als Rohstoffinteressen geht, und dass der syrische Aufstand von außen durch Mächte ferngesteuert wurde, die nur auf einen Knopf zu drücken brauchen, damit sich die Bevölkerung erhebt. Aber das wage ich nicht einmal anzunehmen: Du wirst doch nicht zu denen gehören, die der Auffassung sind, Araberinnen und Araber seien grundsätzlich unfähig, selbständig zu denken, und wenn sie in dem Glauben auf die Straße gehen, dass es um „soziale Gerechtigkeit“ geht, dabei sogar ihr Leben aufs Spiel setzen – dann nur weil sie vom Westen manipuliert werden, dem es um nichts anderes als ums „Öl“ geht.

Das ist es nicht, oder, “Genosse”?

Raketenwerfer gegen Flugzeuge

Das zweite Problem an Deiner Analyse, “Genosse”, ist der Umstand, dass Du die „Unterstützung“ auf der einen Seite durch Russland und den Iran für Assad auf dieselbe Ebene stellst wie die durch die Vereinigten Staaten, Frankreich, die Türkei und die Golfmonarchien für syrische Oppositionskräfte auf der anderen Seite. Du versuchst, es so erscheinen zu lassen, als gäbe es nicht eine überwältigende militärische Überlegenheit des Assad-Regimes und seiner Alliierten. Und Du suggerierst, um eine Formel nur leicht modifiziert zu zitieren, die in einem an Syrien angrenzenden Staat gerne verwendet wird, dass Assad schließlich „das Recht hat, sich zu verteidigen“.

Aber gehst Du tatsächlich so weit, auf der einen Seite die tausenden iranischen “Militärberater” und Waffen, die tausenden Kämpfer der Hezbollah und vor allem, die russische Luftwaffe (sowie auch die schweren Fahrzeuge und Waffen, die Russland, die zweite Militärmacht der Welt, beisteuert) – willst Du tatsächlich all das, was ein Staat und eine reguläre Arme an Unterstützung bekommt, mit den leichten Waffen, den Raketenwerfern und den veralteten Abschussrampen vergleichen, die auf der anderen Seite von den Golfmonarchien oder der Türkei zur Verfügung gestellt oder finanziert werden, oder auch mit den leichten Waffen, den Raketenwerfern, den wenigen Anti-Panzer-Waffen, Kommunikationssystemen und Nachtsichtgeräten die tröpfchenweise von den Vereinigten Staaten und Frankreich geliefert wurden?

Weißt Du, worum die syrischen Oppositionskräfte von Anfang an gebeten haben? – um Anti-Flugzeug-Raketen, die es ihnen ermöglicht hätten, sich gegen die tödlichen Bomber von Putin und Assad zu verteidigen. Und weißt Du auch, dass es die Vereinigten Staaten sind, die systematisch ihr Veto gegen die Lieferung solcher Waffen eingelegt haben? Weißt Du dass die Saudis zu Anfang des Jahres 2014, nachdem die Konferenz „Genf 2“ gescheitert war, erstmals vorgeschlagen haben, den syrischen Oppositionskräften Raketenwerfer zu liefern, und dass sich die Vereinigten Staaten dagegen wandten und bis heute ihre Einstellung nicht geändert haben? Die Vereinigten Staaten, die vermeiden wollten und wollen, dass die Waffen „in die falschen Hände fallen“, und die vor allem nicht wollen, dass der syrische Staatsapparat zerfällt, denn sie haben, anders als andere, ihre Schlüsse aus ihrer grandiosen Irak-Intervention gezogen.

Frag Dich Folgendes: Wo sind sie, die furchtbaren Waffen der Oppositionskräfte? Glaubst Du allen Ernstes, Assad hätte ganze Stadtviertel durch Beschuss aus niedrig fliegenden Hubschraubern bombardieren können, wenn die syrische Opposition tatsächlich wirksam bewaffnet wäre?

Und erinnerst Du Dich, wie im Mai 2015 die russische Botschaft in Großbritannien, um „nachzuweisen“, dass die syrische Opposition Chemiewaffen empfangen habe, als „Beweis“ nicht mehr zu bieten hatte als ge-tweetete Bilder aus einem Video-Spiel (!), obwohl Russland zweifellos über gute geheimdienstliche Möglichkeiten verfügt, um, falls vorhanden, Beweise für die Bewaffnung der Opposition gegen Assad zu liefern?

Also im Ernst. Ich bitte Dich.

Wer zerstört Syrien?

Das dritte Problem an Deiner Analyse, “Genosse”, besteht darin, dass Du etwas Grundlegendes schlicht vernachlässigst: die Tatsachen. Du wirst mir immer noch entgegenhalten, dass ich das, was ich hier geschrieben habe, nicht beweisen kann. Selbst wenn es tatsächlich die wichtigsten Akteure dieser „Nicht-Unterstützung“ und die „Nicht-Unterstützten“ sind, deren Aussagen ich wiedergebe und die weiterhin nichts anderes bezeugen werden – Du kannst behaupten, dass sie letztendlich ausgemachte Lügner sind.

Wenn Du also unbedingt Beweise haben willst, dann mach wenigstens mal die Augen auf und stell Dir eine einfache Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass Syrien zerstört wurde? Wenn Du angesichts der Bilder von vollständig verwüsteten Städten sagst, dass es sich um „Gewalt auf beiden Seiten“ handle, übersiehst Du ein Detail: Wer besitzt die Waffen, um diese umfassende Zerstörung zu bewerkstelligen? Um es anders auszudrücken: Wer kann bombardieren? Wo sind die Flugzeuge der syrischen Opposition? Wo sind die Hubschrauber der syrischen Opposition? Wo sind ihre Panzer? Irgendwo in unterirdischen Verstecken, wie einst die übermächtige Armee Saddam Husseins, die die ganze Welt bedrohte? Wie oft haben syrische bewaffnete Oppositionskräfte Flugzeuge zerstört? Weißt Du, dass es ihnen 2013 einmal gelungen ist, zwei Hubschrauber vom Himmel zu holen, und das eine absolute Ausnahme war? Grund genug für die Oppositionskräfte, ihren grandiosen „Erfolg“ zu feiern und die Bilder, die ihn dokumentierten, überall rumzuschicken. Zwei Hubschrauber! Damals musste ich an die Leute in Gaza denken, wie sie den versehentlichen Abschuss einer israelischen Drohne großartig feierten …

Die “Koalition” unter Führung der USA interveniert militärisch, wendest Du ein. Aber kannst Du mir eine Liste der Bombardierungen zusammenstellen, mit denen diese „Koalition“ die Armee des Assad-Regimes oder seiner Alliierten getroffen hätte? Nein, lass nur, verliere keine Zeit mit Recherchen. Ich informiere mich täglich selber, und zwar bei sicheren Quellen: Laut dem Regime in Damaskus und den Medien, die dessen Verlautbarungen verbreiten, Quellen die man keineswegs verdächtigen kann, solche Bombardements verheimlichen zu wollen, ist es … ganze zwei Mal dazu gekommen. Das erste Mal trug sich im Dezember 2015 in der Region Deir ez-Zor (4 Todesopfer) zu, wobei die „Koalition“ dementierte, die syrische Armee ins Visier genommen zu haben und vielmehr behauptete, Daech bombardiert zu haben. Das zweite Mal, im Dezember 2016 (zwischen 50 und 80 Toten), ereignete sich in der Nähe des Flughafens von Deir ez-Zor; die „Koalition“ räumte ein, diesmal tatsächlich Positionen des Regimes getroffen zu haben und entschuldigte sich offiziell bei Bachar al-Assad und Vladimir Putin.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, wenn ich mich nicht täusche (niemand ist unfehlbar), dass die “Koalition”, die von sich behauptet, in Syrien 5000 Luftschläge verübt zu haben, seit Beginn ihrer Bombardierungen 2014 zwei Mal Kräfte des Regimes getroffen hat, wobei sie sich in einem Fall dafür entschuldigte. Du solltest also in Deiner Buchführung festhalten: Die echten militärischen Operationen seitens der „Koalition“ haben sich gegen Daech und andere „jihadistische“ Gruppen und nicht gegen Assad gerichtet.

Abschließend ein paar “präventive” Anmerkungen

Es gibt noch sehr viel mehr Problematisches an Deiner Analyse, „Genosse“, aber ich möchte Deine Zeit nicht weiter beanspruchen. Im Übrigen, nachdem ich mehr als einmal Gelegenheit hatte, mit Dir höchst angeregt über diese „Probleme der Analyse“ zu diskutieren, wobei ich Deiner „Geopolitik“ und Deinem „Anti-Imperialismus“ die Fakten und die tatsächliche Chronologie der Ereignisse entgegenhielt, weiß ich, dass Du sie nicht besonders magst, die Fakten. Sie sind nun mal verdammt hartnäckig.

Denn es ist viel einfacher via Facebook-posts oder –Kommentaren oder in Diskussionsforen zu provozieren oder Ärger zu machen, als sich die Zeit für einen etwas genaueren Austausch von Argumenten zu nehmen.

Falls Du aber trotzdem versucht sein solltest, es Dir einfach zu machen und Dich auf das Spielchen einzulassen, unterbreite ich Dir ein paar „präventive“ Bemerkungen.

  • Ehe Du mir vorwirfst, dass ich dieselben Positionen wie die Vereinigten Staaten, Frankreich, Saudi-Arabien, Katar, BHL (Bernard-Henry Lévy) oder andere „unerfreuliche Zeitgenossen“ einnehme, denk daran, dass Deine Argumentation in dem Fall darauf hinausläuft, dass Du Deinerseits dieselben Positionen wie Russland, Iran, der Marschall Sissi, Francois Fillon oder Marine Le Pen vertrittst. Und dann frag Dich, ob das ein Argument ist.
  • Ehe Du mir vorhältst, dass Israel seit 2011 zehn Mal oder öfter Positionen des Assad-Regimes bombardiert hat, und dass die, die gegen Assad sind, somit gegen Israel sind, erinnere Dich, dass im vergangenen Juni Putin nach einem Treffen mit Netanyahu, mit dem er mehrere Handelsabkommen unterzeichnet hatte, erklärte: „Wir haben die Notwendigkeit gemeinsamer Anstrengungen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus besprochen. Auf diesem Gebiet sind wir Verbündete. Unsere beiden Länder haben viel Erfahrung im Kampf gegen den Extremismus. Wir werden also unsere Kontakte auf diesem Gebiet zu unseren israelischen Partnern intensivieren.“ Und frage Dich, ob Dein Einwand ein Argument ist.
  • Ehe Du mir sagst, die syrischen Aufständischen hätten sich an die westliche Länder gewandt und um Waffen und eine wirksame militärische Unterstützung gebeten, insbesondere aus der Luft, und dass sich dahinter ganz sicher etwas verberge, erinnere Dich bitte, dass die kurdischen Kräfte, die Du – zu Recht – so sehr bewunderst, als sie Daesh in Kobane zurückdrängten, genau das getan haben, und dass sie sehr wohl diese Hilfe bekommen und den Vereinigten Staaten öffentlich dafür gedankt haben. Und frage Dich, ob das ein Argument ist.
  • Ehe Du mir erzählst, die syrische Rebellion, für die man zu Anfang gewisse Sympathien habe hegen können, sei inzwischen durch reaktionäre Kräfte des politischen Islam übernommen worden, unter denen einige seien, die nicht zögerten, sich gewaltsam an Zivilistinnen und Zivilisten zu vergehen, oder – eine weitere Variante dieses Themas – dass es zwar wirklich tragisch sei, wenn die Bombardements Zivilisten träfen, aber dass das so sei, weil sich die Terroristen unter ihnen versteckten, wenn sie sie nicht sogar als menschliche Schutzschilde benutzten – dann denk daran, dass genau das die Argumentation derer ist, die die mörderischen Bombardierungen Gazas rechtfertigen wollen, und frage Dich, ob das ein Argument ist.
  • Ehe Du mir sagst, die syrischen Aufständischen seien “objektive Verbündete” von Daesh, erinnere Dich, dass Daesh zu Beginn des Jahres 2014 von denen, die derzeit von Assad abgeschlachtet werden, aus Aleppo verjagt wurde, denk dann auch über den Begriff des „objektiven Verbündeten“ nach und frage Dich, ob das ein Argument ist. Du kannst auch noch einmal darüber nachdenken, falls Du noch nicht überzeugt bist, worauf oben bereits hingewiesen wurde, nämlich welches tatsächlich die Ziele der Bombardierungen seitens der Alliierten gewesen sind, und Du kannst Dich abermals fragen, ob der „objektive Alliierte“ ein Argument ist.
  • Ehe Du mich schließlich darauf hinweist, dass diejenigen, die Assad und Putin anklagen, “vergessen”, die Massaker anzuprangern, die von den westlichen Großmächten und ihren Alliierten verübt wurden, sollst Du wissen, dass unter uns, die sich für Aleppo einsetzen, viele sind, die sich für Gaza einsetzen, gegen die militärischen Interventionen in Afghanistan, im Irak, in Libyen und anderswo, und dass wir unsere politische Kohärenz, anders als Du, der Du es vorgezogen hast, gestern nicht auf die Straße zu gehen, um das Abschlachten, das gerade stattfindet, anzuklagen – dass wir unsere politische Kohärenz, unsere Ideale und unseren Anti-Imperialismus nicht aufgegeben haben. Und frage Dich, ob das ein Argument ist.

***

Das ist es also, “Genosse”, was ich Dir sagen wollte. Stimmt, der Ton ist nicht gerade angenehm. Aber das wiegt nicht schwer im Vergleich zur Gleichgültigkeit, manchmal sogar der Verächtlichkeit, die Du angesichts der Tragödie von Aleppo an den Tag legst.

Mach mit diesem Brief, was Du willst, und selbstverständlich kannst Du Dich weiterhin an Deiner kurzsichtigen “geopolitischen” Vision und an Deinem Pawlow’schen „Antiimperialismus“ hochziehen, während die Syrierinnen und Syrer unter den Bomben von Putin und Assad und unter Deinen Augen krepieren.

Hier geht es nicht um eine rhetorische Übung auf Facebook mit einem Schlagabtausch von Kommentaren. Es geht um tausende, zehntausende Menschenleben. Wir reden hier nicht über unterschiedliche Einschätzungen, die wir untereinander über dieses oder jenes Ereignis haben mögen, sondern wir reden über Dein Schweigen eines Komplizen oder Deine jämmerlichen Verrenkungen angesichts einer der größten Tragödien unserer Zeit. Es geht hier nicht einfach um einen politischen Dissenz – es geht um einen Bruch, eine Unvereinbarkeit.

Ich weiß nicht, wann wir uns wieder einmal begegnen und sprechen werden, „Genosse“. Was ich aber weiß: falls Du, was ich leider befürchte, Dich nicht bewegst, dann wird es nicht mal mehr die Anführungsstriche geben, weil es keinen Genossen mehr gibt.

Ich entlasse Dich mit einem Wort des Che, der Dir etwas zu sagen hat:

Vor allem sei immer in der Lage, aus tiefstem Herzen jedes Unrecht zu empfinden, egal wem es geschieht, oder wo auch immer auf der Welt es begangen wird. Das ist die schönste Eigenschaft eines Revolutionärs.“

PS.: Auf Anmerkungen habe ich diesmal verzichtet. Normalerweise ist es nicht meine Art, keine Quellen anzugeben, aber Du hast wahrscheinlich verstanden, dass es in diesem Fall Absicht war. Denn weil es Dir sehr liegt, im Internet (und darüber hinaus?) zu recherchieren, wissen wir beide, Du und ich, dass Du jederzeit alle Quellen finden kannst, auf die ich hier zurückgreife.

* 15.12.2016, Übersetzung von Sophia Deeg

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