von Franco Turigliatto*
In den Wochen der Auseinandersetzungen um die Verfassungsreform der Regierung Renzi nahmen Linke sehr unterschiedliche Haltungen zur italienischen Verfassung ein. Die CUB-Gewerkschaften etwa wollten die Ablehnung dieser Reform gar nicht in ihre Agenda für den Herbst aufnehmen – was sie dann glücklicherweise korrigiert haben. Andere wiederum waren scharfe Gegner von Renzis Reform, bemühten jedoch vorwiegend Rhetorik und Nostalgie, statt den demokratischen Kampf mit sozialen Mobilisierungen zu verbinden, wodurch nicht immer klar wurde, was wir eigentlich zu verteidigen haben. Es sei an dieser Stelle daher ein Rückblick gestattet.
Die italienische Verfassung von 1948 war keine Verfassung für Fabrikräte, Selbstverwaltung und direkte Demokratie, sie war nicht Ausdruck eines revolutionären Sieges der Arbeiterklasse. Sie war immer noch eine bürgerliche Verfassung, garantierte das Privateigentum an den Produktionsmitteln und das kapitalistische System als solches. Die bürgerliche Klasse, Urheberin und Komplizin des Faschismus, blieb auf ihrem Posten als herrschende Klasse. Danach erfuhr der italienische Kapitalismus dank einer Phase des Aufschwungs der Weltwirtschaft eine beispiellose Entwicklung und Italien eine umfassende Industrialisierung.
Diese Verfassung aber war sehr demokratisch, denn – und das ist ein sehr wichtiger Aspekt – sie wurde auf den Erfahrungen mit Faschismus und Krieg, vor allem aber auf dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis errichtet, das der antifaschistische Widerstand und die Kämpfe der Arbeiterklasse und ihrer Parteien am Ende des Krieges geschaffen hatten. Sie sieht deshalb wichtige demokratische Instrumente und Garantien vor.
Sie ist geprägt von einer deutlichen Trennung der staatlichen Gewalten und von einem Gleichgewicht zwischen ihnen, von ausgewogenen Wahlverfahren, die den subalternen Klassen eine breite politische Vertretung garantieren, von einem perfekten Zweikammersystem, das legislative Verzerrungen und handstreichartige Manöver parlamentarischer Mehrheiten verhindert. Sie sieht eine ausführliche Diskussion der Gesetze vor, um zwischen den verschiedenen Sektoren der bürgerlichen Klasse zu Übereinstimmungen und zu Teilkompromissen mit den Vertretern der arbeitenden Klasse zu kommen.
Klassenkompromiss
Den Kräften der Linken, die darauf verzichtet hatten, den antifaschistischen Widerstand in eine soziale Revolution zu verwandeln – wie es in Jugoslawien geschehen war –, gelang es, nicht nur den Schutz von Rechten und Freiheiten in die Verfassung zu schreiben, sondern auch einige Prinzipien von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit in ihr zu verankern.
Diese Prinzipien blieben jedoch auf dem Papier stehen, sodass ein Kommentator zu Recht meinte: «Um die Linke für die ausgebliebene Revolution zu entschädigen, hat sich die Rechte nicht dagegen gesträubt, in die Verfassung das Versprechen einer Revolution aufzunehmen. Nur die Zukunft wird zeigen, welche der beiden Seiten dabei den größeren Weitblick hatte.»
Tatsächlich verhinderte die «auf Arbeit gegründete Republik» nicht, dass die bürgerlichen Kräfte sehr aggressiv vorgingen, nicht die große Ausbeutung der Arbeiterklasse in den 50er und 60er Jahren, die Massenentlassungen und die politischen Repressalien am Arbeitsplatz, die Polizeigewalt gegen Demonstrationen und Streiks, die innerhalb von zwanzig Jahren über 150 Menschen das Leben kostete, ganz zu schweigen von den tödlichen Arbeitsunfällen, die bekanntlich jedes Jahr in die Tausende gehen.
Es vergingen sechs Jahre, bevor das Verfassungsgericht 1954 gegründet wurde, das ein Schlüsselelement im gesamten institutionellen Gefüge darstellt. Und ein von den Christdemokraten vorbereitetes, betrügerisches Wahlgesetz konnte 1953 nur durch eine große Mobilisierung und einen Volksentscheid verhindert werden.
Eine Konkretisierung der demokratisch-sozialen Grundsätze der Verfassung blieb somit lange Jahre aus.
Die Wende von 1968/69
Die Situation änderte sich erst mit den harten und anhaltenden sozialen Kämpfen der 60er und 70er Jahre. Sie bewirkten eine tiefgreifende Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zugunsten der Arbeiterbewegung. Ihr gelang es nun, einige soziale Grundsätze aus der Verfassung nun in Gesetze und damit in gesellschaftliche Realität umzuwandeln.
Dass diese Grundsätze bereits in der Verfassung verankert waren, war dabei von großem Nutzen; für die konkreten Kämpfe der demokratischen und Arbeiterbewegung waren sie eine Stütze und ein Bezugspunkt. Deshalb ist es wichtig, dass ein Recht oder eine im Kampf erzielte Errungenschaft, die ein neues Kräfteverhältnis hervorgebracht hat, auch auf die gesetzliche Ebene übertragen wird (etwa in das Arbeitsgesetzbuch), damit es von allen geltend gemacht und verteidigt werden kann.
Von 1968 bis 1978, also binnen eines Jahrzehnts wurden durch teilweise sehr harte Kämpfe alle wesentlichen Reformen der italienischen Gesellschaft errungen.
Die Regionen – eine tragende Struktur in der Verfassung von 1948 (siehe Art. 114 und 115) – konnten erst 1970 durchgesetzt werden. Die große Rentenreform zur Alterssicherung der Werktätigen stammt von 1968/69 (Art. 38), ebenso die Durchsetzung wirksamer nationaler Tarifverträge (Art. 36). Die gleitende Lohnskala zum Schutz der Löhne vor der Inflation (Art. 36) kam 1975. Das Arbeitsgesetz war ein Meilenstein für die Verwirklichung der Artikel 1, 4 und 39, es ist aus dem Jahr 1970; ebenso das Ehescheidungsgesetz und das Gesetz über die Durchführung von Referenden (Art. 75). Die Steuerreform (Art. 53) und die Gesundheitsreform (Art. 32) kamen 1978. Die Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre trat 1975 in Kraft, im selben Jahr wurde eine Reform des Familienrechts verabschiedet, die für beide Ehepartner gleiche Rechte vorsah (Art. 29). Das Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch und die Abschaffung der Irrenanstalten trat 1978 in Kraft.
Im Schulwesen (Art. 34) wurde Anfang der 60er Jahre mit der Einführung der einheitlichen Mittelschule ein erster Schritt gemacht, aber erst mit den großen Kämpfen von ’68 wurde die Schule wirklich eine Masseneinrichtung, die für alle zugänglich war.
Erst durch die Gesamtheit dieser Reformen erlangte Artikel 3 der Verfassung, auf den die Linke sich häufig berufen hat, einige Konkretheit: «Alle Staatsbürger haben die gleiche gesellschaftliche Würde und sind vor dem Gesetz ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, der Sprache, des Glaubens, der politischen Anschauungen, der persönlichen und sozialen Verhältnisse gleich. Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art zu beseitigen, die durch eine tatsächliche Einschränkung der Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger der vollen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und der wirksamen Teilnahme aller Arbeiter an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes im Wege stehen.»
Der Artikel 4 – «Die Republik erkennt allen Staatsbürgern das Recht auf Arbeit zu und fördert die Bedingungen, durch die dieses Recht verwirklicht werden kann» – wurde allein deshalb nie verwirklicht, weil er mit dem kapitalistischen System nicht vereinbar ist.
Als die Welle des Aufschwungs der Arbeiterbewegung nachließ, begann die Bourgeoisie mit ihren Regierungen große Teile der Errungenschaften wieder in Frage zu stellen. Die gleitende Lohnskala wurde schon Anfang der 80er Jahre aufgebrochen und 1992 endgültig mit einem Abkommen zwischen Regierung, Gewerkschaften und dem Unternehmerverband Confindustria abgeschafft. Die Politik der konzertierten Aktion und die immer deutlichere Unterordnung der Gewerkschaftsbürokratien unter die Unternehmensinteressen entwertete die Arbeitsverträge zusehends.
Die Steuerreform verlor nach und nach ihren fortschrittlichen Charakter, die Kapitalbesteuerung wurde immer mehr reduziert. Das Recht auf eine anständige Rente nach einem Arbeitsleben wurde durch eine Reihe von Änderungen am ursprünglichen Gesetz ausgehöhlt.
Im Jahr 2001 ergriff die Mitte-Links-Regierung (getrieben vom sog. Steuerföderalismus) die Initiative zur Veränderung der föderalen Struktur der Republik. Dies war eine tiefgreifende Veränderung der Verfassung. Ein noch härterer Schlag kam 2012 mit der Einführung der Schuldenbremse (Art. 81), die jede breiter angelegte soziale Aktivität des Staates verhindert.
In den letzten Jahren wurden die Rechte der abhängig Beschäftigten durch die Gegenreformen von Berlusconi, Monti und schließlich durch das Jobs Act von Renzi nach und nach abgeschafft.
Formale und reale Verfassung
Die Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitssystem, bei den Kommunen und in der Sozialversicherung haben für alle den Zugang zu grundlegenden sozialen Rechten deutlich verschlechtert. Neben die formale, ihres Inhalts zunehmend beraubte Verfassung ist eine tatsächliche Verfassung getreten, die auf der Niederlage der Arbeiterbewegung aufbaut und von einem neuen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zugunsten der Unternehmer geprägt ist.
Renzis Trachten – und das der vorausgegangenen Regierungen – hatte zum Ziel, die Bestrebungen und Interessen der herrschenden Klasse in neue Gesetze (die Gegenreformen) umzusetzen – gestützt auf dieses neuen Kräfteverhältnis, aber auch auf die Komplizenschaft und Unterordnung der Gewerkschaftsführungen. Das Ziel der Regierung ist es, die Sache auch auf der Verfassungsebene zu einem Abschluss zu führen, indem der Widerspruch zwischen der formalen und der realen Verfassung überwunden und erstere an die Interessen der Bourgeoisie angepasst wird.
Als 2013 JP Morgan und andere Finanzunternehmen erklärten, die europäischen demokratischen Verfassungen aus der Nachkriegszeit müssten überwunden werden, drückten sie damit den Willen der Bourgeoisie aus, die institutionellen Systeme und juristischen Normen loszuwerden, die dem heutigen Kräfteverhältnis nicht mehr entsprechen, die jedoch, solange sie auf dem Papier stehen, ein Hindernis für ihr Handeln bleiben, weil die Arbeiterklasse sich auf sie berufen kann.
Der Kampf für das Nein ist also entscheidend, um zu verhindern, dass die Bourgeoisie auf institutioneller Ebene alle Hebel für ihren Krieg gegen die Arbeitenden in die Hand bekommt. Und dafür, dass der Kampf für die Verteidigung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und für die Abschaffung der von der liberalen Konterrevolution eingeführten Gesetze offen gehalten wird.
* Franco Turigliatto ist Mitglied von Sinistra Anticapitalista (www.anticapitalista.org).
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