Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2017
Die autoritäre Wende ging daneben
von Cinzia Arruzza

Ginge es nach dem Medienecho, könnte man meinen, das Ergebnis des italienischen Referendums vom 4. Dezember sei ein weiterer Sieg der Rechtspopulisten über die Demokratie. Tatsächlich ist der Sieg des Nein ein Sieg der Demokratie und muss als Sieg für die Verteidigung der sozialen Rechte gefeiert werden.

Die von Renzis Regierung vorgeschlagene Verfassungsreform war politisch illegitim, denn sie wurde vom Parlament mit einer Mehrheit beschlossen, die auf der Basis eines Wahlgesetzes zustandekam, das vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig beurteilt worden ist. Im Stil des früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi peitschte Renzi diese Reform durch, ohne den Versuch zu unternehmen, einen breiten Konsens zwischen den im Parlament vertretenen Parteien zustande zu bringen. Stattdessen blockierte er parlamentarische Diskussionen mit institutionellen Tricks, bis die Opposition beschloss, sich aus Protest an der Abstimmung über die Reform nicht zu beteiligen.

Ihrem Inhalt nach war diese Reform die letzte in einer langen Reihe von Versuchen, die Verfassung in Richtung einer Stärkung der Exekutive auf Kosten der demokratischen Repräsentation zu revidieren.

Die Regierung Berlusconi hatte schon 2006 versucht, eine Präsidialverfassung zu verabschieden. Das lehnte die italienische Bevölkerung damals ab. Die heute im wesentlichen noch geltende Verfassung von 1948 war das Resultat eines Kompromisses zwischen den drei Hauptkräften des antifaschistischen Widerstands: den Christdemokraten, der Italienischen Kommunistische Partei (PCI) und der liberal-sozialistischen Aktionspartei (Partito d’Azione).

Die italienische Bourgeoisie hat die demokratischen Freiheiten und egalitären Prinzipien der Verfassung von 1948 nie akzeptiert. Die Angriffe auf diese Verfassung haben in den letzten Jahrzehnten zunehmend die Form antidemokratischer Reformen des Wahlrechts angenommen – und zwar mit Unterstützung von Mitte-Links-Kräften.

 

Das Nein kommt von ­allen Seiten

Die Beteiligung an diesem Referendum war mit 67% sehr hoch, das Nein setzte sich mit fast 60% durch. Dieses hohe Ergebnis erklärt sich daher, dass unterschiedliche Kräfte des politischen Spektrums aus unterschiedlichen Gründen gegen die Reform waren. Auf der Linken wurde sie von der CGIL (dem größten Gewerkschaftsbund); vom linken Flügel der PD, einschließlich ihres früheren Sekretärs; vom Verband der italienischen Partisanen (ANPI); von der gesamten radikalen Linken, einschließlich linker Gewerkschaften und verschiedener sozialer Netzwerke sowie von einer Reihe prominenter linker Verfassungsrechtler abgelehnt. Die Argumente reichten von der Verteidigung demokratischer Repräsentation und Volkssouveränität gegenüber dem Prinzip der Regierbarkeit bis hin zur grundsätzlichen Ablehnung von Renzis aggressivem neoliberalen Regierungskurs.

Auf der Rechten wurde die Reform aus opportunistischen Gründen von der fremdenfeindlichen Lega Nord, von der nationalistischen Partei Fratelli d’Italia, von neofaschistischen Kräften wie Casa Pound und Forza Nuova sowie – zögerlich – von Berlusconi abgelehnt. Der Grund für die Opposition der Rechten ist recht klar: Weil Renzi den Ausgang der Abstimmung mit dem Schicksal seiner Regierung verknüpft hatte, sah die derzeit desorganisierte und fragmentierte Rechte darin eine Gelegenheit, die Regierung loszuwerden und einen Prozess in Gang zu setzen, der es ihr erlauben würde, sich zu reorganisieren.

Schließlich opponierte die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), eine populistische Bewegung mit hochgradig widersprüchlichen Positionen, während der gesamten parlamentarischen Debatte gegen die Verfassungsreform, indem sie ständig gegen die Verletzung der elementarsten parlamentarischen Regeln durch die Regierung protestierte. Ihre Motivation war eine Kombination aus einer Verteidigung der Regeln der parlamentarischen Demokratie und dem Bestreben, die PD als Italiens führende Partei abzulösen.

Die Niederlage von Renzis Projekt war beeindruckend und wird wahrscheinlich eine Periode der Konfusion und Instabilität einleiten. Die liberale Kritik am Sieg des Nein geht jedoch völlig an der Sache vorbei. Fünf Jahre lang haben die politischen Kräfte, die den Interessen und Projekten der EU am meisten verbunden sind, die sozialen Rechte massiv unter Beschuss genommen: Die technokratische Regierung Monti führte mit Unterstützung von Mitte-Links entsprechend den EU-Verträgen die Schuldenbremse in die Verfassung ein, wodurch sogar eine moderate keynesianische Politik der öffentlichen Ausgaben verfassungswidrig wurde. Dieselbe Regierung verabschiedete auch eine verheerende Rentenreform, die vom Verfassungsgericht in Teilen für verfassungswidrig erklärt wurde.

Aber am Ende war es die Regierung Renzi, die das schaffte, was selbst Berlusconi verwehrt blieb. Die schlimmsten «Reformen» wurden von seiner Regierung verabschiedet – darunter Maßnahmen wie das Jobs Act, das den Artikel 18 des Arbeitsgesetzbuchs abschaffte, der es den Unternehmern verwehrte, Beschäftigte ungerechtfertigt zu kündigen; eine weitere Deregulierung des Arbeitsmarkts sowie eine Reform des öffentlichen Bildungssystems, die die betriebswirtschaftliche Verwaltung der Schulen beträchtlich stärkt, die Arbeitsbedingungen des Lehrpersonals drastisch verschlechtert und auch Auswirkungen auf die Lehrpläne hat.

Renzi hoffte, seine antidemokratische Verfassungsreform zusammen mit einem neuen Wahlgesetz durchbringen zu können, das in der Abgeordnetenkammer einen Mehrheitsbonus eingeführt hätte: Im Ergebnis hätte die Regierung eine vollständige Kontrolle über das parlamentarische Geschehen gehabt, einschließlich der Kontrolle über die Zeiten für parlamentarische Debatten über Gesetze.

 

Hätte das Ja gewonnen…

Was wäre geschehen, hätte beim Referendum das Ja gewonnen? Wahrscheinlich hätte es einen fortgesetzten Aufstieg der populistischen und extremen Rechten in Italien gegeben, genährt von Mitte-Links. Er hätte Austerität und neoliberale Politik unaufhaltsam vorangebracht und die Lebensbedingungen der Bevölkerung hätten sich weiter verschlechtert haben, vor allem die der jungen Generation, deren Chancen, einen anständigen Job zu bekommen, gleich Null sind. (Nicht zufällig haben 81% der Abstimmenden zwischen 18 und 34 Jahren mit Nein gestimmt, nur unter Personen über 53 Jahren hatte das Ja eine Mehrheit.)

Hätte das Ja gewonnen, würden uns eine Regierung der M5S oder der Rechten drohen, die dann mit noch größeren Exekutivbefugnissen ausgestattet wäre, als die Verfassung sie ihr jetzt schon gewährt. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen des Mehrheitsbonus. Und selbst wenn Renzi bei der nächsten Wahl eine Mehrheit für Mitte-Links geholt hätte, wäre das Ergebnis noch mehr Neoliberalismus mit einer noch stärkeren Regierung und ohne Raum für eine effektive Opposition gewesen.

Das Hauptmotiv für das Nein war die Opposition gegen die Regierung. Ungeachtet der divergierenden Motive hinter dem Nein ist der Ausgang des Referendums ein Votum für Demokratie und Volkssouveränität und destabilisiert das politische System in einer Phase, in der Stabilität nur weitere Attacken auf demokratische Freiheiten und soziale Rechte bedeutet. Es öffnet einen politischen Raum für eine mögliche Wiedergeburt sozialer Bewegungen. Am 26. November demonstrierten 150000 Frauen in Rom gegen Männergewalt mit radikalen Forderungen, am nächsten Tag kamen Tausende zu einer Versammlung und Arbeitsgruppen zusammen und riefen zu einem Frauenstreik am kommenden 8. März auf – sie verbanden dabei den Kampf gegen die Gewalt mit der Opposition gegen die Austerität, gegen Kürzungen im sozialen und Gesundheitssektor und gegen die Prekarisierung der Arbeit.

Zur Vorbereitung der Märzaktion werden gerade Frauenversammlungen im ganzen Land organisiert. Der Kampf, den wir vor uns haben, wird hart sein, weil auch die Rechte vom Ergebnis des Referendums zu profitieren versucht. Aber die Antwort darauf kann nicht Ängstlichkeit oder eine Politik des kleineren Übels sein, das würde nur die Rechte stärken. Die Antwort muss eine Rückkehr zur Politik der Konfrontation sein, angefangen mit einer breiten Beteiligung am Frauenstreik am 8. März als Auftakt zum sozialen Widerstand.

 

* Im Mai 2015 wurde eine umfassende Änderung des Wahlgesetzes verabschiedet, das für Wahlen der Abgeordnetenkammer gilt und am 1.7.2016 in Kraft trat. Es behält die unter Berlusconi eingeführte Mehrheitsprämie in veränderter Form bei. Die wichtigsten Änderungen: Es gibt keine Koalitionen mehr; die stärkste Partei erhält mindestens 340 Sitze, wenn sie mindestens 40% der Stimmen erhält, erhält keine Partei 40%, gibt es eine Stichwahl zwischen den beiden stärksten Parteien und der Sieger der Stichwahl erhält mindestens 340 Sitze; die 1993 abgeschafften Präferenzstimmen werden wieder eingeführt.

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