dokumentiert
Hat sich da jemand über den Brexit und die britische Feindseligkeit gegenüber Unionsbürgern empört? Die Bundesregierung steht dem, rein bürokratisch gesehen, in Nichts nach. Das neue Gesetz aus dem Hause Nahles (SPD) über Leistungsansprüche von Unionsbürgern ist gegenüber dem bisherigen Zustand ein Rauswurfgesetz.
Das Wortungetüm heißt «Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch» (kurz: Unionsbürgerausschlussgesetz) und wird derzeit im Bundestag verhandelt. Die Bundesregierung will die Kriterien, mit denen wirtschaftlich nicht verwertbare Unionsbürger von Leistungen der Existenzsicherung – Hartz IV und Sozialhilfe – ausgeschlossen werden können, gegenüber der jetzigen Rechtslage deutlich ausweiten.
Bisher hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass jede Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, einen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hat. Das sei ein Menschenrecht, welches deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht. Im September 2015 hatte der EuGH einen Ausschluss jedoch für zulässig erachtet. Zwei Monate später entschied sich das Bundessozialgericht für das deutsche Verfassungsrecht und ermöglichte EU-Bürgern unter bestimmten Voraussetzungen einen Leistungsanspruch nach SGB II bzw. SGB XII.
Arbeitsministerin Nahles reagierte wie schon des öfteren, wenn ihr ein Urteil des Bundessozialgerichts nicht passt: Sie legte einen Gesetzesentwurf vor, der EU-Bürger in den ersten fünf Jahren ihres Aufenthalts in Deutschland von einem Leistunsanspruch nach SGB II oder SGB XII ausschließt. In dieser Zeit bekämen sie lediglich eine «Überbrückungsleistung» in Höhe von etwa 180 Euro für maximal vier Wochen, und das auch nur einmal innerhalb von zwei Jahren.
Der Arbeitgeberverband begrüßte diesen Schritt natürlich, meinte aber, der Entwurf müsse an verschiedenen Stellen noch verschärft werden, um «Missbrauchsmöglichkeiten von vornherein einen Riegel vorzuschieben». Zudem solle nicht nur auf nationaler Ebene gesetzlich vorgegangen werden, sondern: «Parallel zu der Klarstellung im SGB II und SGB XII muss ein völkerrechtlicher Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen erklärt werden, damit die geplanten Leistungsausschlüsse nicht über diesen Weg umgangen werden können» (arbeitgeber.de).
Abschiebung auf kaltem Weg
Die Reaktionen von Sozialverbänden und Juristen sehen hingegen ganz anders aus. Die Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (GGUA) etwa kritisiert, dass der Gesetzentwurf für eine bestimmte, rechtmäßig in Deutschland lebende Bevölkerungsgruppe ein Leben in Elend und Schutzlosigkeit zur Folge haben wird, da sich der Staat seiner grundlegendsten Fürsorgepflicht entledigt und stattdessen auf das Instrument des «Aushungerns» setzt. Damit würden unter anderem Grenzkontrollen ins Sozialrecht ausgelagert und die europäische Freizügigkeit ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt (http://ggua.de).
Auch die Neue Richtervereinigung lehnt den Gesetzesentwurf mit deutlichen Worten ab und spricht dabei auch ihre langfristigen Auswirkungen an:
«1. Die geplanten Regelungen verstoßen gegen Unionsrecht und gegen das Grundgesetz.
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH haben Kinder und Eltern ein aus dem Unionsrecht fließendes Aufenthaltsrecht, solange das Kind eine Ausbildung absolviert, die während der Beschäftigung der Eltern begonnen wurde. Wegen dieses Aufenthaltsrechts können sie unionsrechtliche Gleichbehandlung mit Inländern beanspruchen.
- Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts ist die Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich solange für die Sicherung des Existenzminimums zuständig, solange der Aufenthalt von der Ausländerbehörde faktisch geduldet wird. Das Sozialrecht darf nach der klaren Aussage des Bundesverfassungsgerichts nicht benutzt werden, um eine aufenthaltsrechtlich nicht durchsetzbare Abschiebung auf buchstäblich kaltem Wege zu ersetzen.
Der Leistungsausschluss von Personen mit einem tatsächlichen Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche verstößt in seiner Undifferenziertheit gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Betroffen sind viele Personen, die schon viele Jahre im Arbeitsmarkt integriert waren und – wegen der Voraussetzungen, die sie für ihr Aufenthaltsrecht erfüllen müssen – fast immer eine gute weitere Integrationsperspektive aufweisen.
Soweit im Gesetzentwurf ‹Überbrückungsleistungen› nach dem SGB XII vorgesehen sind, verstößt deren Bemessung gegen die Ausführungen zur Bedarfsermittlung in den bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu den SGBII-Regelsätzen. Es ist zudem evident, dass der Bedarfsfall für derartige Leistungen mehrfach innerhalb von zwei Jahren auftreten kann und auch dann zu decken ist.
- Schwerer als dieser verfassungs- und unionsrechtliche Befund wiegen die zu prognostizierenden Auswirkungen auf unsere Verfassungsrealität. Die Entscheidung, unerwünschten UnionsbürgerInnen für eine sehr lange Zeit das soziale Existenzminimum zu verweigern, widerspricht den Geboten der Mitmenschlichkeit.
Über diese subjektiv-rechtliche Perspektive hinaus wird das Gesetz nutzlos sein, und dies zu einem sehr hohen Preis.»
Im Visier: Rumänen und Bulgaren
Die Neue Richtervereinigung spezifiziert die Folgen:
«a. Das Gesetz wird seine – ohnehin zweifelhaften – Ziele nicht erreichen.
Das Gesetz schafft neue Rechtsunsicherheit, nachdem das Bundessozialgericht einen gangbaren Weg gefunden hatte, die aktuelle Rechtslage mit den verfassungs- und menschenrechtlichen Vorgaben in Einklang zu bringen. Es ist nicht zu erwarten, dass die zuständigen Kollegen des 4., 8. und 14.Senats des Bundessozialgerichts und die ihnen folgende Mehrheit der Richter der Instanzgerichte ihre Überzeugung aufgeben werden, dass die Gewährung minimaler Sozialleistungen an alle längerfristig hier lebenden Menschen nicht nur moralisch, sondern auch verfassungsrechtlich geboten ist. Entsprechend werden viele Sozial- und Landessozialgerichte im Rahmen von Eilverfahren wie bisher Leistungen gewähren, bis eine erneute Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und eine erstmalige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage vorliegen.
Die vollständige Verweigerung von Sozialleistungen – abgesehen von einem ‹Heimkehrpaket› – will ‹wirtschaftlich inaktive› Unionsbürger davon abhalten, zu uns zu kommen oder sie dazu bewegen, Deutschland wieder zu verlassen. Das Gesetz wendet sich vorwiegend gegen Sinti und Roma aus Rumänien und Bulgarien, deren Anwesenheit in unreflektierter Tradition als besonders unerwünscht gilt. Die Situation dieser Menschen in ihren Herkunftsländern ist vielfach von einem so krassen Elend geprägt, dass es nicht gelingen wird, ihre Lage in Deutschland im Vergleich dazu schlechter zu gestalten.
Auch wird die Regelung nicht zur Entlastung der kommunalen Finanzen führen. Sie produziert Elend, dessen unvermeidliche Einhegung mindestens so viel kosten wird wie die eingesparten Sozialleistungen.
- Die Abschaffung von Sozialleistungen an besonders schwache Mitmenschen untergräbt die deutsche Rechts- und Verfassungsordnung.
Schwerer Schaden droht dem Arbeits- und Sozialrecht. Die Regelung schafft eine Gruppe moderner Sklaven, die alle Arbeitsbedingungen und jedes Lohnniveau akzeptieren müssen, um hier zu überleben. Dies erhöht den Druck auf diejenigen, die zur Zeit regulären Beschäftigungen im untersten Qualifikations- und Einkommensbereich nachgehen.
Die Regelung legt Axt an das Fundament unserer Verfassungs- und Gesellschaftsordnung. Nach dem einleuchtenden Verständnis des Bundesverfassungsgerichts wurzeln existenzsichernde Leistungen unmittelbar in der Menschenwürde. Bisher galt, dass jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft dasselbe Recht auf ein Leben in Würde in sich trägt. Die Neuregelung ersetzt dieses tragende Prinzip durch sozialrechtliche Apartheid. Die Folgen für die deutsche Gesellschaft sind unabsehbar.»
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