Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2017
Murat Çakir über seine Kandidatur für das Amt des Oberbürgermeisters in Kassel
Gespräch mit Violetta Bock

2017 – Jahr der Wahlen: in Nordrhein-Westfalen, in Frankreich, in Deutschland. In Kassel wird am 5.März der Oberbürgermeister gewählt. Die Kasseler Linke sitzt dort seit Jahren im Stadtparlament und nominierte Murat Çakir als ihren Kandidaten. Er ist bekannt als Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen und für seine Analysen zur Situation in der Türkei. Nun kandidiert er in so bewegten Zeiten auf kommunaler Ebene. Laut Deutschlandfunk haben dort gerade einmal 3% einen Migrationshintergrund.

Violetta Bock sprach mit Murat Çakir über seine Erwartungen, Ziele und den Widerspruch von Reform und Revolution.

 

Wieso nimmst du an der Oberbürgermeisterwahl teil?
Das Bündnis Kasseler Linke konnte bei den Kommunalwahlen 2016 mit 10,6% ein sehr gutes Ergebnis einfahren. Insofern war es für die Glaubwürdigkeit der Kasseler Linken notwendig, einen Kandidaten bzw. eine Kandidatin aufzustellen, um soziale Themen in den Vordergrund zu rücken. Als ich dazu gefragt wurde, fand ich das besonders spannend, weil wir mit dieser Kandidatur dem neoliberalen Politikverständnis in Kassel den Kampf ansagen können. Es geht mir in erster Linie darum, die Stimme derjenigen zu werden, die bisher ignoriert und Opfer der rigiden Sparpolitik der rot-grünen Kasseler Koalition wurden.

Auch wenn die Kräfteverhältnisse wahrscheinlich für einen linken OB wenig Chancen hergeben, so ist meine Kandidatur schon jetzt ein Erfolg, weil die anderen Kandidaten sich zu unseren sozialen Aussagen stellen müssen. Gemeinsam mit der Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung und der Partei DIE LINKE werden wir die Forderungen der sozialen Bewegungen, Erwerbsloseninitiativen und der friedensbewegten Menschen in Kassel in die Diskussionen tragen und für eine sozial-ökologisch-demokratische Stadtentwicklung werben. Kurzum, den etablierten Parteien kräftig den Marsch blasen! Allein das wird ein Riesenspaß.

 

Welche Reaktionen hast du auf deine Kandidatur erhalten?
Insgesamt bin ich sehr positiv überrascht über die Reaktionen, die ich aus unterschiedlichen Kreisen bisher erhalten habe. In Kassel bin ich ja relativ gut vernetzt und in verschiedenen Bereichen verankert, sodass ich aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen viele Menschen kenne. Es macht mich schon etwas stolz, dass nahezu alle mich als Vertreter einer sozialen Politik ansehen. Vielmals höre ich, sogar aus Kreisen der einkommensstarken Gruppen, dass ich als Linker am authentischsten für eine sozialere Politik werben könne. Das ermutigt mich sehr.

Ein weiterer Grund der Ermutigung ist, dass ich vom Bündnis mit 100% Zustimmung nominiert wurde. Für die deutsche Linke ist das keine Selbstverständlichkeit. Meine Kandidatur hat auch innerhalb der SPD-Mitglieder für Furore gesorgt, sodass inzwischen Leute davon sprechen, dass in Kassel eine linke Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung machbar ist. Die gute Arbeit, die unsere Fraktion bisher geleistet hat, hat schon dafür gesorgt, dass die Linken in Kassel ernster genommen werden. Meine Kandidatur könnte jetzt dazu verhelfen, dass wir SPD-Linke stärker motivieren können, sich für die Umsetzung einer sozialen Politik einzusetzen – auch wenn das in Kassel relativ schwer ist.

 

Wie steht die türkischsprachige Bevölkerung zu deiner Kandidatur?
Für die türkischen Nationalisten war und bin ich ein rotes Tuch. Viele von denen kennen mich und mein Einsatz gegen den türkischen Nationalismus, Islamismus und Rechtsextremismus seit Jahrzehnten. Einige der AKP-nahen Gruppen haben längst mit einer Kampagne begonnen und rufen wahlberechtigte Türkeistämmige auf, mich nicht zu wählen. Aber es gibt auch Leute aus diesen Kreisen, die sagen: «Erstmals kandidiert ein Mensch aus der Türkei für ein solches Amt. Das ist für uns alle eine Chance», und rufen zu meiner Wahl auf.

Mir geht es natürlich nicht darum, nationalistische Kader der türkischen Organisationen zu gewinnen. Aber die vielen Menschen, Lohnabhängige, Rentnerinnen und Rentner, Studierenden, die die Infrastruktur der Moscheen oder Gemeinden nutzen, sind nicht per se als «faschistisch» oder «islamistisch». Sie sind Teil der Arbeiterklasse, und darum müssen sie von uns angesprochen werden, um sie aus dem vergiftenden Einfluss des Nationalismus bzw. des Islamismus zu lösen, um sie zu ermutigen, für ihre Rechte aufzustehen und zu kämpfen. Wenn meine Herkunft das erleichtert, dann ist das umso besser.

 

Dein Wahlspruch lautet: «Für ein soziales Kassel – weil die Stadt kein Konzern ist.» Was sind die inhaltlichen Schwerpunkte deines Wahlkampfs?
Wir treten für eine soziale, ökologische und demokratische Stadtentwicklungspolitik ein. Dazu gehören bezahlbarer Wohnraum, ein Sozialpass für den ÖPNV, der Ausbau der kommunalen Dienstleistungen, das Zurückdrängen der Privatisierungen und der Verbleib der Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand. Wir wollen die Ortsbeiräte und anderen beratenden Gremien der Stadt stärken und gleichberechtigte Einflussmöglichkeiten für Initiativen und Vereine durchsetzen. Die Bevölkerung muss an der Entwicklung des städtischen Haushalts und den kommunalpolitischen Entscheidungen beteiligt werden. Wir fordern weiterhin kostenlose Kitaplätze und mehr Kitapersonal, die soziale Durchmischung der Wohnviertel, verstärkten kommunalen Sozialwohnungsbau, die Unterstützung und Stärkung der Wohnungsbaugenossenschaften und der städtischen Wohnungsbaugesellschaft sowie die soziale Verpflichtung der privaten Investoren durch Sozialquote und Konzeptvergabe. Wir fordern Investitionen in die Infrastruktur, in Schulen, Gesundheit und Kultur, eine gemeinwohlorientierte Veränderung der Vergaberichtlinien für Ausschreibungen.

Besonders wichtig sind mir auch die Bekämpfung der Altersarmut und die Förderung der Mobilität von Seniorinnen und Senioren, einkommensschwachen Gruppen und Erwerbslosen, gute, tarifgebundene und möglichst viel Beschäftigung in kommunaler Hand, die Zurückdrängung der Arbeitsverdichtung in der städtischen Verwaltung. Darüber hinaus wollen wir Linken die kontinuierliche finanzielle Förderung der freien Kulturszene und des ehrenamtlichen sozialen Engagements, die Rückführung der ausgelagerten Sozialarbeit sowie der städtischen Tochterbetriebe in die regulären Tarife des TVÖD, den Ausbau und die Erweiterung der Kapazität der ÖPNV mit dem langfristigen Ziel der Einführung eines fahrscheinlosen Nahverkehrs. Wir fordern weiterhin Maßnahmen zur Lärm- und Verkehrsvermeidung, die Einführung einer Umweltzone für die gesamte Stadt zur Minderung der Feinstaubbelastung, den Ausbau von Radwegen und die Nutzung aller möglicher Steuerungsinstrumente für das Ziel einer lebenswerten Stadt. Kurzum, meine Kandidatur steht für eine Kommunalpolitik, die Mensch und Natur in den Mittelpunkt stellt und am Gemeinwohl orientiert ist.

 

Du bist bekannt als Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen und für deine Analysen zur Situation in der Türkei. Spiegelt sich dies in deinem Wahlkampf wieder?
Es dient meinem Bekanntheitsgrad, spielt aber keine wesentliche Rolle in unserem Wahlkampf. Natürlich werde ich auf dieses Thema angesprochen und insbesondere von türkischstämmigen bzw. kurdischen Migrantinnen und Migranten zu türkeispezifischen Themen befragt. Ich meine aber, dass das Türkeithema im Wahlkampf eher kontraproduktiv ist. Wir haben eine klare Aussage: Türkeifragen werden uns spalten, Kassel verbindet – als Einwohnerinnen und Einwohner dieser Stadt, als Lohnabhängige, Studierende, Rentnerinnen und Rentner, Alleinerziehende, Erwerbslose oder Hartz-IV-Opfer haben wir die gleichen Interessen. Wir wollen eine soziale Stadt, die die gleichberechtigte Teilhabe aller am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gewährleisten kann. Wir wollen Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismen jeglicher Art abwehren und eine solidarische Gesellschaft aufbauen. Das gilt auch für Türkeistämmige und andere, die für ihre jeweiligen Herkunftsländer unterschiedliche politische Vorstellungen haben.

 

Gerade auf kommunalpolitischer Ebene ist es oft schwer, nicht in die Falle des rein »Machbaren« zu tappen, sondern den Ausblick auf eine andere Gesellschaft zu eröffnen. Wie versuchst du, die konkreten Themen der kommunalen Ebene mit der großen Vision zu verbinden?
Ich folge dem kategorischen Imperativ, «alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist» und verhehle nicht, für die Überwindung des Kapitalismus zu streiten. Der alltägliche Kampf für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen, der Erwerbslosen, der breiten Bevölkerungsgruppen hier und heute ist eine Verpflichtung für uns Linke. Gerade weil ich eine andere, bessere, von Ausbeutung, Patriarchat und Krieg befreite Gesellschaft für die Zukunft der Menschheit für unabdingbar halte, ist es desto wichtiger, im Kampf um Verbesserungen hier und heute Menschen davon zu überzeugen und für dieses Ziel zu gewinnen. Alle Verbesserungen stellen zugleich Systemfragen: sei es die Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand, ökologisch verantwortliches Wirtschaften, Bekämpfung der Armut, des Rassismus und Faschismus, gute Löhne für gute Arbeit, kostenlose Bildung und Gesundheit, bezahlbarer und menschenwürdiger Wohnraum und vieles mehr. Hier gilt es, die Zusammenhänge herzustellen und zu zeigen, dass der Widerspruch zwischen Reform und Revolution eben nur «scheinbar» ist.

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