von Ulla Jelpke*
Nach dem Anschlag eines IS-Anhängers auf einen Berliner Weihnachtsmarkt überbieten sich Politiker der Regierungsparteien förmlich darin, schärfere Gesetze, umfassendere Überwachung und mehr Härte gegenüber Flüchtlingen zu fordern. Die Tathintergründe und offenkundige Versäumnisse der Sicherheitsbehörden im Umgang mit dem Attentäter lassen die Rufe nach einem starken Staat allerdings als absichtlichen Missbrauch von Ängsten in der Bevölkerung erscheinen.
Bei dem drei Tage nach seinem Anschlag von der italienischen Polizei erschossenen Attentäter Anis Amri handelte es sich um einen gebürtigen Tunesier, der sich erst nach seiner Flucht als Minderjähriger aus dem nordafrikanischen Land in Italien, wo er für vier Jahre inhaftiert wurde, einem jihadistischen Islam zuwandte und dann in Deutschland Kontakte zum Islamischen Staat knüpfte.
Den deutschen Sicherheitskräften war Amri, der im Juli 2015 nach Deutschland kam, gut bekannt. Bereits kurz nach seiner Einreise erhielt die Polizei in Nordrhein-Westfalen über einen V-Mann einen Hinweis, Amri habe Kontakt zum IS. Nach der Sicherstellung seines Mobiltelefons wurde eine Kommunikation Amris mit IS-Mitgliedern entdeckt, in der dieser sich als Selbstmordattentäter anbot und erklärte, «er wolle in Deutschland etwas unternehmen». Eine «Vertrauensperson» des Verfassungsschutzes fuhr Amri von Dortmund nach Berlin.
Sie wussten alles
Im Zuge eines Ermittlungsverfahrens gegen den mutmaßlichen IS-Anwerber Abu Walaa wurde Amri von der Generalbundesanwaltschaft als Nachrichtenübermittler zwischen dem Salafistenprediger und dessen Anhängern eingestuft. Das Bundesamt für Verfassungsschutz vermerkte Anfang 2016, Amri reise unter verschiedenen Identitäten (insgesamt waren es mindestens 9) durch Deutschland und werbe bei Islamisten für Anschläge. Das Landeskriminalamt (LKA) NRW stufte Amri nun als «Gefährder» ein, der «seine Anschlagsplanungen ausdauernd und langfristig verfolgen wird».
Ganze siebenmal befasste sich das aus Dutzenden Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern gebildete Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) mit Amri. Im Juli 2016 kam es zum Ergebnis, dass «eine akute Gefährdungslage derzeit nicht in gerichtsverwertbarer Form vorliegt», es also nur nicht gerichtlich verwertbare Geheimdienstinformationen gebe, die gleichwohl auf seine Gefährlichkeit hindeuteten.
Im Oktober 2016 lagen dem GTAZ aktuelle Warnungen des marokkanischen Geheimdienstes vor, wonach Amri Anhänger des IS sei, der sich dem Jihad anschließen und im «Land des Unglaubens» ein «Projekt» durchführen wolle. Der marokkanische Dienst nannte sogar die konkreten marokkanischen und russischen IS-Kontaktleute Amris sowie dessen aktuellen Aufenthaltsort in Berlin und dessen Handynummer. Doch das GTAZ kommt am 2.November 2016 – wenige Wochen vor Amris Anschlag – zu der Erkenntnis: «Auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse kein konkreter Gefährdungssachverhalt erkennbar.» Das Bundeskriminalamt hatte die Observation Amris im Rahmen eines von der Berliner Generalstaatsanwaltschaft seit März betriebenen Verfahrens gegen den «Gefährder» bereits im September 2016 eingestellt.
Da Amri sich als Kleindealer finanzierte, sich mit anderen Dealern prügelte und auch selber Drogen nahm, aber das Morgengebet zum islamischen Opferfest ausließ, verlor das BKA das Interesse an der Person des Tunesiers. Dass ein Islamist Drogen konsumiert, erschien den Ermittlern offenbar schwer vorstellbar – obwohl bei zahlreichen im Kampf getöteten IS-Kämpfern in Syrien Aufputschmittel gefunden wurden.
Pleiten, Pech und Pannen
Amris Asylantrag in Deutschland war abgelehnt worden. Doch die für eine Abschiebung notwendigen Papiere lieferte die tunesische Botschaft erst zwei Tage nach Amris Tod. Nach bestehenden Gesetzen wäre es allerdings ein Leichtes gewesen, Amri in Untersuchungshaft zu nehmen – nicht wegen der bloßen Einstufung als Gefährder, sondern wegen verschiedener anderer Straftaten, wegen derer gegen Amri ermittelt wurde.
Trotz einer Fahndungsausschreibung der Bundespolizei vom 5.Februar 2016 wurde Amri bei einer Polizeikontrolle knapp zwei Wochen später in Berlin nicht festgenommen, es folgte lediglich eine Observation. Die Duisburger Staatsanwaltschaft stellte ein im April 2016 eingeleitetes Verfahren wegen Leistungsmissbrauch nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gegen Amri im November 2016 ein, weil ihr dessen Aufenthaltsort nicht bekannt war. Doch unbekannt war sein Aufenthalt den Behörden keineswegs. Denn am 30.Juli war Amri in Friedrichshafen festgenommen worden und in Ravensburg in Abschiebehaft gekommen. Aufgrund fehlender tunesischer Papiere kam er wieder frei und sprach am 12.August bei der Ausländerbehörde in Kleve vor. Diese stellte ihm eine Duldungsbescheinigung auf den falschen Namen Ahmed Almasri aus. Die Behörden wollten ihn laut Spiegel-Recherchen in dem Glauben lassen, sie würden seine wahre Identität nicht kennen. Zu fragen ist, welche höhere Behörde die kleine Ausländerbehörde zu diesem Vorgehen autorisierte.
Es stellt sich auch die Frage, warum die Generalbundesanwaltschaft im Februar 2016 keine Zuständigkeit für Amri sah, obwohl dieser offen erklärte, einen Anschlag zu planen und Waffen besorgen zu wollen. Ungeklärt ist weiterhin, warum die Generalstaatsanwaltschaft Berlin kein Verfahren wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat oder anderer Delikte wie Sozialbetrug und Drogenhandel einleitete.
Insgesamt zeichnet sich rund einen Monat nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt eine solche Kette von offenkundigen Fehleinschätzungen und Pannen der Sicherheitsbehörden im Umgang mit Amri ab, dass Innenpolitiker der LINKEN und der Grünen nicht mehr an eine unglückliche Kette von Zufällen glauben. Bundesregierung und die NRW-Landesregierung sahen sich genötigt zu versichern, dass der Tunesier weder ein V-Mann des Verfassungsschutzes war noch als solcher angeworben werden sollte. Einmal die Frage beiseite gestellt, wie glaubwürdig ein solches Dementi ist, bleibt immer noch der Verdacht, dass Amri auch ohne eigenes Wissen von den Sicherheitsbehörden als Köder benutzt und abgeschöpft wurde, um an große Fische in der Islamistenszene wie den am 8.November 2016 verhafteten mutmaßlichen IS-Anwerber Abu Walaa heranzukommen.
Eine unselige Tradition wird fortgesetzt
Ungeachtet des offenkundigen Behördenversagens, dessen Ursachen und Verantwortliche noch gefunden werden müssen, nutzten Innenpolitiker von Union und SPD den Berliner Anschlag, um ihre schon lange in der Schublade liegenden Wunschzettel für zum Teil drastische Gesetzesverschärfungen zu präsentieren.
Den Auftakt machte die CSU in der Vorbereitung ihrer Klausur in den bayerischen Bergen mit der Forderung nach dem bekannten Law-and-Order-Instrumentarium – von weiterer Verschärfung der Abschiebepraxis über die Ausweitung der Befugnisse von Polizei und Verfassungsschutz bis zur elektronischen Fußfessel bereits für nicht näher definierte «Extremisten» und der Schaffung eines neuen Haftgrundes «Gefährder». «Pauschal bei jeder Gesetzesverschärfung Datenschutzrechte oder Missbrauchsgefahren in den Fokus zu rücken, ist der falsche Ansatz» – mit diesem Satz in dem Papier bekennt sich die CSU zu ihrem Grundrechtenihilismus.
Doch Bundesinnenminister Thomas de Maizière gelang es, in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 3.Januar unter dem Titel «Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten», die Bayern noch links liegen zu lassen. Schon mit der in der Vorbemerkung der Leitlinien geäußerten Maxime, «Deutschland muss stark bleiben», bemüht der Bundesinnenminister die nationalistische Klaviatur. Deutschlands «Fähigkeiten zur Krisenbewältigung» seien «zukunftsfest» zu machen, der Staat müsse «auf schwierige Zeiten noch besser vorbereitet werden».
Bei den nachfolgend vorgeschlagenen Maßnahmen handelt es sich um nicht weniger als einen Generalangriff auf die sogenannte Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik. Im Kern zielen de Maizières Vorschläge auf die Beseitigung der als Lehre aus dem NS-Regime nach dem Krieg errichteten, föderalen Strukturen der Sicherheitsbehörden. Die Landesverfassungsschutzämter sollen zugunsten eines gestärkten Inlandsgeheimdienstes auf Bundesebene abgeschafft, die Kompetenzen der Bundespolizei zu einer Art deutschem FBI ausgeweitet werden. Es soll eine Zuständigkeit des Bundes für «nationale Katastrophen» geschaffen werden und in diesem Zusammenhang die Bundeswehr zum bewaffneten Objektschutz im Inland eingesetzt werden. Über die Hintertür des Katastrophenschutzes soll hier der Weg zu Inlandseinsätzen der Bundeswehr als Hilfspolizei mit Zwangsmitteln gebahnt werden.
Mehr vom selben, auch wenn es nicht geholfen hat
Dazu kommt ein von de Maizière vorgeschlagener Maßnahmenkatalog für eine Verschärfung der Abschiebepolitik, der zentrale Abschiebelager ebenso vorsieht wie euphemistisch als Bundesausreisezentren bezeichnete Lager für abgelehnte Asylbewerber unter Verantwortung der Bundespolizei. Der grundgesetzliche Richtervorbehalt für den Freiheitsentzug in Abschiebehaft soll durch eine Ausweitung des Abschiebegewahrsams ausgehebelt werden.
Eine zentrale Forderung de Maizières besteht in der Schaffung eines eigenen Haftgrunds für sogenannte Gefährder. Als solcher gilt eine Person, die bislang keine Straftat begangen hat und der selbst das Planen einer Straftat nicht nachgewiesen werden kann, der aber Sicherheitsbehörden das Begehen einer «erheblichen» Straftat zutrauen. Aus einer solchen gerichtlich nicht bestätigten Mutmaßung einen Haftgrund zu konstruieren, öffnet die Tür zur Gesinnungsjustiz. Damit würde die Abschiebehaft, die bislang ein Verwaltungsakt zur Durchsetzung der Ausreisepflicht ist, zu einem fremdenfeindlichen Repressionsinstrument gewandelt.
Das SPD-geführte Justizministerium arbeitet bereits an einem Gesetzentwurf, um «Gefährdern» elektronische Fußfesseln anlegen zu können und ausreisepflichtige Gefährder, deren Herkunftsländer ihnen keine Ausweispapiere ausstellen, zu inhaftieren.
Doch eine so in die normale Lebensführung einschneidende Maßnahme wie die elektronische Fußfessel widerspricht der Unschuldsvermutung, die ja in einem Rechtsstaat für nicht rechtskräftig verurteilte «Gefährder» gelten sollte. Zudem schützt sie kaum vor Terror. Auch einer der islamistischen Attentäter, die im Sommer 2016 einen Anschlag auf einen Priester in Frankreich verübt hatten, trug eine elektronische Fußfessel.
Und die geplanten Maßnahmen würden sich nicht auf vermeintliche oder tatsächliche Islamisten beschränken. Sie könnten auch gegen Linksradikale oder Anhänger der kurdischen Befreiungsbewegung Anwendung finden. Neben rund 550 islamistischen «Gefährdern» werden schon jetzt auch eine Handvoll Linker als solche eingestuft.
De Maizière sieht sich in der «Führungsrolle»
Der Bundesinnenminister denkt in seinem Gastbeitrag für die FAZ – ganz in der Traditionslinie konservativ-reaktionärer Staatspolitik – den Staat vom Notstand her. Souverän ist in dieser an den NS-Staatsrechtler Carl Schmitt anknüpfenden Denktradition nicht das Staatsvolk, sondern derjenige, der über den Notstand befindet. De Maizières Pläne bereiten den Weg für ein Regime des permanenten Notstands.
Da de Maizière seine Überlegungen in der als Zentralorgan des deutschen Bürgertums geltenden konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorstellte, können als deren Adressat getrost die Kreise des deutschen Groß- und Finanzkapitals angenommen werden. Am Schluss des Textes heißt es: «Deutschland kann sich nicht darauf verlassen, dass es andere schon richten werden. In einer Zeit weltweiter Wanderbewegungen, des internationalen Terrorismus, der Auflösung von Staaten, des globalen Datenverkehrs und der Digitalisierung des privaten und öffentlichen Lebens haben wir eine Führungsrolle. Dieser Auftrag beginnt aber mit der Ordnung bei uns, in unserem Land. Nehmen wir diesen Auftrag an. Nüchtern, maßvoll – im Geiste von Einigkeit und Recht und Freiheit.» Die zum bisher eher behäbigen Auftreten de Maizières passenden Vokabeln «maßvoll» und «nüchtern» können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hinter der angemaßten deutschen Führungsrolle der alte imperialistische Gedanke verbirgt, am deutschen Wesen solle die Welt genesen.
Für die zukünftigen weltweiten Verteilungskämpfe um Märkte und Rohstolle will der Bundesinnenminister den deutschen Staat aufrüsten. Denn Repression nach innen war schon immer die andere Seite der Medaille des Kriegs nach außen.
* Ulla Jelpke ist Mitglied des Bundestags und innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE.
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