von Thies Gleiss
Das Jahr 2017 wird in Deutschland durch eine Reihe von Parlamentswahlen und die Bundespräsidentenwahl geprägt. Bei Umfragewerten von unter 40% für eine «Rot-Rot-Grüne»-Regierungsoption und nur noch 20% für die SPD ist ein schillernd als «R2G» bezeichneter Regierungswechsel seit geraumer Zeit außer Sichtweite.
Doch insbesondere in den Parlamentsfraktionen im Bund und in den Ländern träumt die LINKE unbeirrt weiter davon. Nichts scheint sie zu verunsichern, nicht einmal der skandalöse Umgang mit ihrem Personal in Berlin (siehe S.4). Es gibt allerdings auch so gut wie keine gesellschaftliche Bewegung für «Rot-Rot-Grün». Es ist deshalb an der Zeit, dass die LINKE auch aus Wahlkampfgründen und nicht nur als grundsätzliches Bekenntnis laut und deutlich sagt: Schluss mit diesen R2G-Quatsch, die LINKE ist die Opposition, und das ist gut so. Ein solcher öffentlicher Beschluss würde deutlich mehr Linie und Stimmung in die Wahlkampfvorbereitungen bringen. Vermutlich würde das sogar die wenigen R2G-Fans außerhalb der parlamentarischen Schicht von Berufspolitikern mehr in Wallung bringen als alle bunten Abende im Reichstag zusammen.
Ohne Not hat die LINKE sich zudem einer massiven Erpressung der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch gebeugt und die beiden Oberparlamentarier als «Spitzenkandidaten» berufen. Diese Inthronisierung Anfang Dezember ist ein skandalöser Bruch mit der innerparteilichen Demokratie. Es wurde noch nicht einmal formal abgewartet, bis der zuständige Landesverband NRW Sahra Wagenknecht überhaupt zur Kandidatin gewählt hat. Das ist einer der vielen kleinen Bausteine, die jeder für sich gerne als Lappalie abgetan werden, aber in der Summe mehr zu dem verhängnisvollen Image der LINKEN beitragen, eine stinknormale Partei wie alle anderen zu sein, als programmatische Irrtümer und politische Fehlentscheidungen.
Sahra Wagenknecht hat den Ruf, eine kompromisslose Repräsentantin des linken Programms zu sein. Aber jetzt als «Spitzenkandidatin» hat sie sich ohne Not freiwillig in das Feuer der Mainstreampresse begeben. Jeder kleine Satz von ihr wird zerpflückt, verdreht und diffamiert. Die Leitwerte der Mainstreampresse – Antikommunismus, freie Marktwirtschaft und Deutschlands Rolle als Militärmacht – werden gegen sie in Stellung gebracht, mit dem durchsichtigen Ziel, nicht die Spitzenkandidatin, sondern die linke Partei insgesamt zu treffen. Selbstverständlich muss Sahra Wagenknecht vor diesen Angriffen in Schutz genommen werden, auch wenn solche Solidarität zuweilen schwer fällt.
Aber die Selbstisolierung und freiwillig gewählte Abgehobenheit von Sahra Wagenknecht von der Partei trägt leider viel dazu bei, dass diese Angriffe möglich sind und Spuren hinterlassen. Zu allem Überfluss hat Wagenknecht als private Absicherung ein Projekt gestartet, das eine Ohrfeige für einen wirklichen Aufbau einer linken Partei ist: ihr Lobhudel-Internetformat «Team Sahra». Darin werden die Menschen geradezu entpolitisiert und zu Claqueuren der Kandidatin degradiert. Es ist kein Versehen, sondern war zu erwarten, dass diese Plattform ein Tummelplatz rechter Idioten wurde, der ununterbrochen den Unsinn verbreitet: «Sahra ist toll, aber ihre Partei ist Scheiße» – und noch Schlimmeres.
Unglücklicherweise macht es Sahra Wagenknecht auch in einer inhaltlichen Frage ihren Angreifern sehr leicht. Sie irrt in der Frage der Geflüchteten-Politik. Sie steht damit im Widerspruch zur kollektiven Debatte und politischen Praxis der LINKEN und ihrem beschlossenen Programm. Sie übernimmt in der Geflüchteten-Frage leider grundsätzliche und grundsätzlich falsche Positionen der herrschenden Meinung. Sie spricht von einem Flüchtlingsproblem, weil Hunderttausende Menschen vor Freihandel, Krieg und Umweltzerstörung – also vor Verhältnissen, die der Kapitalismus angerichtet hat – in die reichen Länder Europas fliehen. «Füchtlingsproblem» – was für eine Verdrehung von Ursache und Wirkung! Man stelle sich vor, ein großer Konzern schmeißt Tausende von Beschäftigten raus und eine linke Partei spricht vom «Entlassenen-Problem»!
Wer sich einmal damit abgefunden hat, dass die Geflüchteten das Problem sind, hat kaum noch Chancen, sich den Folgerungen zu entziehen: Es sind «zu viele», ihre Bewegung muss «kontrolliert» und ihr Zugang «begrenzt» werden. Es gibt «Kapazitätsgrenzen». Doch Wagenknecht setzt noch einen drauf: Die Ängste der Menschen vor zu vielen Flüchtlingen, vor Stadtteilen, in denen nicht mehr Deutsch gesprochen wird, vor der Zunahme der Kriminalität durch die Geflüchteten seien berechtigt. Spätestens hier beginnt der nicht hinnehmbare Wechsel in der politischen Praxis, der Sahra Wagenknecht an die Seite der AfD und der rechten Kräfte bringt, ob sie es will oder nicht. Linke stehen an der Seite der Geflüchteten und nicht bei denen, die sich Hass und Angst einreden lassen. Linke weisen nach – und das ist heute ein Kinderspiel –, dass in Deutschland genügend Geld vorhanden ist, alle Geflüchteten human und ausreichend versorgt aufzunehmen. Linke versuchen, die Geflüchteten in einen gemeinsamen politischen Kampf gegen den Kapitalismus einzubeziehen. So wie es ein gemeinsames Interesse zwischen Entlassenen in einem Konzern und den verbliebenen Beschäftigten gibt, so gibt es auch ein gemeinsames Interesse der Opfer des Kapitalismus in Deutschland und in anderen Teilen der Welt.
Und es ist immer noch nicht zu Ende mit den traurigen Konsequenzen bei Sahra Wagenknecht: Sie hält es für ein Versagen der Regierung Merkel, dass so viele Menschen hierher flüchten. Dabei ist das Gegenteil richtig: Bis auf die kurze Zeitspanne 2015, als Tausende von Geflüchteten die Polizeiketten auf dem Balkan umrannten und das Dublin-Abkommen praktisch außer Kraft setzten – ein Vorgang, über den sich Linke freuen sollten, weil die Alternative das Massensterben im Mittelmeer ist –, hat der bürgerliche Staat viel zu gut und grausam funktioniert. Die Konsequenz von Sahra Wagenknecht, mehr Polizei und mehr Kontrollen durch den Staat zu fordern, ist der Gipfel der falschen politischen Orientierung.
Für diese Irrtümer ist Sahra Wagenknecht leider nicht in Schutz zu nehmen. Sie hat sich als Spitzenkandidatin verselbständigt. Es gibt hier nur den dringenden Appell, dass sie ihre politischen Fehleinschätzungen ganz schnell korrigiern und sich hinter das Programm der LINKEN stellen möge.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.