von Eric Toussaint*
Griechenland steht nicht mehr im Zentrum der EU-Krise, die heißen Debatten darum, welche Maßnahmen die Regierung SYRIZA ergreifen müsste, um sich gegen die Troika zu behaupten, sind abgeklungen, und selbst die Griechenlandsolidarität ist auf den kleinen Kreis derer geschrumpft, die kontinuierlich an konkreten Projekten arbeiten. Zu den letzteren zählt vor allem die Unterstützung des Kampfes gegen die Wasserprivatisierung in Griechenland.
Griechenland ist aber immer noch der Maßstab, an dem Linke sich abarbeiten müssen, wenn sie sich fragen, wie es gelingen kann, die diktatorische Herrschaft der Kapitalisten, zumal der Finanzindustrie, abzuschütteln und Wege für neue Entwicklungen frei zu machen. Denn seit der portugiesischen Revolution 1975 ist die Linke in Europa der Machtfrage nie wieder so nahe gekommen wie in Griechenland 2015. Die Machtprobe mit der Troika endete mit einer Kapitulation der Regierung SYRIZA. Jede dieser Niederlagen aber ist katastrophal, bekräftigt sie doch eine landläufige Propaganda, wonach eine linke Lösung der kapitalistischen Krise nicht möglich sei. Dass der Aufstieg des Rechtsextremismus in den letzten Jahren einen solchen Drive bekommen konnte, hängt auch mit der Niederlage der Linken in Griechenland zusammen.
Die Frage, die sich stellt, lautet also: War die Kapitulation unvermeidlich? Und wenn nicht, was wäre zu tun gewesen? Eric Toussaint vom Internationalen Netzwerk gegen die Schulden der Dritten Welt (CADTM) unterbreitet nachstehend 10 Vorschläge dazu.
1 Den Gehorsam verweigern
Eine linke Regierung muss von vornherein in öffentlichen Erklärungen deutlich machen, dass sie der Europäischen Kommission den Gehorsam verweigern wird. Die Partei oder die Koalition von Parteien, die eine Regierungsübernahme ansteuert, sollte von Anfang an allen Forderungen nach einer Austeritätspolitik und allen Ansprüchen auf einen ausgeglichenen Haushalt eine Absage erteilen. Sie sollte von Beginn an deutlich machen: Wir werden uns dem Diktat der europäischen Verträge, die einen ausgeglichenen Haushalt verlangen, nicht unterwerfen, denn wir werden die öffentlichen Ausgaben erhöhen, um gegen unsoziale Sparmaßnahmen vorzugehen, und einen Kurs in Richtung ökologischer Transformation einschlagen.
Der erste Punkt ist deshalb, klar und unmissverständlich zu benennen, was die anstehenden Herausforderungen sind. Meiner Meinung nach hat die griechische Kapitulation gezeigt, dass wir uns von der Illusion verabschieden müssen, die Europäischen Kommission und die europäischen Regierungen wären bereit, den Willen eines Volkes zu respektieren. Die Aufrechterhaltung derartiger Illusionen führt uns unweigerlich in die Katastrophe. Wir müssen den Gehorsam verweigern!
2 Die Bevölkerung mobilisieren
Wir müssen klar sagen, dass die Mobilisierung der Bevölkerung für uns oberste Priorität hat, sowohl auf Landesebene als auch auf europäischer Ebene. In Griechenland sind diese Initiativen 2015 gescheitert. Die europäischen sozialen Bewegungen waren mit ihren Mobilisierungen nicht sonderlich erfolgreich. Es gab Solidarität mit dem griechischen Volk, doch nicht im erforderlichen Ausmaß. Es ist allerdings auch wahr, dass die strategische Ausrichtung von SYRIZA eine Mobilisierung der Bevölkerung auf europäischer Ebene, oder auch nur in Griechenland, nicht vorsah. Als sie sich endlich anlässlich des Referendums von 5.Juli 2015 zu Mobilisierungen entschloss und 61,5% der Griechen sich den Forderungen der Gläubiger nicht unterwerfen wollten, respektierte sie letzten Endes den Willen des Volkes dann doch nicht.
3 Ein Schuldenaudit
Es braucht die Entschlossenheit, um einen Schuldenaudit unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger zu organisieren. Parallel dazu müsste meiner Meinung nach die Schuldentilgung ausgesetzt werden. Natürlich ist die Situation in den 28 Ländern der Europäischen Union unterschiedlich. In einigen Ländern, etwa Griechenland, ist die Aussetzung der Schuldentilgung ein absolutes Muss. Dasselbe gilt für Portugal und Zypern. Im Falle Spaniens müsste man sich die Lage genauer ansehen. In anderen Ländern wäre es möglich, zuerst ein Schuldenaudit durchzuführen und dann über die Aussetzung der Rückzahlungen entscheiden.
4 Kapitalverkehrskontrollen
Einführung von Kapitalverkehrskontrollen, nach Abwägung der möglichen Folgen. Das heißt nicht, dass die Büprgerinnen und Bürger nicht mehr ein paar hundert Euro ins Ausland überweisen dürfen. Natürlich wären internationale Finanztransaktionen bis zu einem gewissen Betrag weiterhin erlaubt. Doch ab einem bestimmten Betrag wäre der Kapitalverkehr strengen Kontrollen unterworfen.
5 Sozialisierung von Finanzen und Energie
Sozialisierung des Finanz- und Energiesektors. Sozialisierung des Finanzsektors bedeutet nicht nur Einrichtung eines Pools öffentlicher Banken. Sie muss ein staatliches Monopol auf den gesamten Finanzsektor enthalten, nämlich der Banken und der Versicherungen, d.h. eine Vergesellschaftung des Finanzsektors unter der Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger. Der Finanzsektor würde damit in einen öffentlichen Dienst umgewandelt.
Im Zuge der notwendigen ökologischen Transformation hat auch die Vergesellschaftung des Energiesektors Vorrang. Eine ökologische Transformation wird es ohne öffentliches Monopol im Energiesektor – bei Produktion und bei der Verteilung – nicht geben können.
6 Parallelwährung
Schaffung einer nicht konvertiblen Komplementärwährung. Egal ob man aus dem Euro austritt oder sich für den Verbleib in der Eurozone entscheidet: in jedem Fall wird es erforderlich sein, eine zusätzliche, nicht konvertierbare Währung zu schaffen, eine Währung für lokale Geldtransaktionen und den Inlandshandel. Zum Beispiel für die Auszahlung der Renten, der Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst, die Zahlung von Steuern und Gebühren. Eine solche Währung ermöglicht es, sich zumindest teilweise aus dem Diktat des Euro und der Europäischen Zentralbank zu lösen.
Die Debatte über Verbleib oder Austritt aus der Eurozone lässt sich natürlich nicht vermeiden. Ich denke, dass der Austritt aus dem Euro in einigen Ländern eine Option ist, die wir gemeinsam mit Parteien und Gewerkschaften verteidigen müssen. Mehrere Länder der Eurozone werden auf anderem Wege nicht in der Lage sein, mit der Austeritätspolitik zu brechen und zu einer ökosozialistischen Gesellschaft überzugehen.
Was bedeutet das? Das bedeutet etwa, dass bei Barzahlungen bis zu 200000 Euro ein Wechselkurs von 1Euro für, sagen wir, 100 Peseten gilt. Über 200000 gäbe es einen Wechselkurs von 1,5 Euro für 100 Peseten. Bei noch höheren Beträgen wären es 2 Euro für 100 Peseten. Über 500000 Euro würden 100 Peseten 10 Euro kosten. Das wäre eine Währungsreform mit Umverteilungscharakter. Zugleich findet eine Umverteilung bei den flüssigen Vermögen der privaten Haushalte statt. Das würde einen Teil der Geldvermögen der reichsten 1% der Haushalte in Luft auflösen. 30% der Bevölkerung aber, die weniger Wohlhabenden, haben Schulden, keine Geldvermögen. Sie besitzen vielleicht Wohnungseigentum (möglicherweise ist es mit Hypotheken belastet), aber dieser Teil der Bevölkerung hat so gut wie kein Geldvermögen.
7 Eine radikale Steuerreform
Natürlich braucht es eine radikale Steuerreform, allen voran die Abschaffung der Mehrwertsteuer auf grundlegende Güter und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs wie Nahrung, Strom und Wasser und andere Grundversorgungsmittel. Die Mehrwertsteuer auf Luxusgüter und -dienstleistungen würde hingegen angehoben. Auch die Steuern auf die Gewinne der Unternehmen und auf hohe Einkommen ab einer bestimmten Höhe müssen angehoben werden. Nötig ist eine stark progressive Steuer auf Einkommen und Vermögen.
8 Entprivatisierungen und Ausweitung des öffentlichen Dienstes
Entprivatisierungen bzw. Rücküberführungen in öffentliches Eigentum. «Rückkäufe» privatisierter Unternehmen für den symbolischen Preis von 1Euro. Das wäre noch eine nette Geste gegenüber jenen Kreisen, die im großen Stil von den Privatisierungen profitiert haben. Und natürlich brauchen wir die Ausweitung der öffentliche Dienste, wobei diese unter öffentlicher Kontrolle zu betreiben sind.
9 Arbeitszeitverkürzung
Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Aufhebung der Gesetze, die Sozialabbau beinhalten, und Verabschiedung neuer Gesetze, die die Lage der Menschen erleichtern, die unter Hypothekenschulden zu leiden haben. Das kann sehr gut auf dem Gesetzesweg erfolgen, ohne dass es individuell auf dem Klageweg durchgesetzt werden muss (es gibt viele Prozesse von Opfern von Hypothekenschulden gegen Banken). Ein Parlament kann ein Gesetz verabschieden, durch das Hypothekenschulden von weniger als 150000 Euro annulliert werden. So könnte vermieden werden, dass die Betroffenen individuell vor Gericht ziehen müssen.
10 Verfassungsprozess
Einleitung eines echten konstituierenden Prozesses. Dabei geht es nicht um Verfassungsänderungen im Rahmen der derzeitigen parlamentarischen Institutionen. Ein konstituierender Prozess beinhaltet die Auflösung des Parlaments und die direkte Wahl einer Konstituierenden Versammlung. Natürlich muss dabei auch den Forderungen von nationalen Minderheiten Rechnung getragen werden. Das aber wäre Sache eines genuinen Verfassungsprozesses entweder auf der Ebene der jeweiligen Nationalitäten oder des Nationalstaats. Es geht dann darum zu versuchen, diese Prozesse in einen gesamteuropäischen Prozess zu integrieren.
Dies sind für mich zehn grundlegende Vorschläge, die ich zur Diskussion stellen möchte. Meiner Meinung nach haben sie hohe Priorität, denn ich glaube, dass es ohne radikale Maßnahmen, die von Anfang an offen auf dem Tisch liegen, keinen Bruch mit der Austeritätspolitik geben kann. Politische Manöver allein werden nicht genügen, um den dafür nötigen Handlungsspielraum zu schaffen. Dazu bedarf es radikaler Maßnahmen gegen das große Kapital. Wer glaubt, dass sich solche Schritte vermeiden lassen, lügt sich nur in die eigene Tasche. Solche Leute werden nie reale und konkrete Fortschritte erreichen. Die politische Architektur ist auf europäischer Ebene so gestaltet – und die Krise des Kapitalismus so tiefgreifend –, dass es keinen wirklichen Raum für eine neokeynesianische, produktivistische Politik gibt.
Meiner Meinung nach sollte der Ökosozialismus nicht am Rand, sondern im Zentrum der Debatte stehen. Unmittelbare und konkrete Vorschläge müssen daraus entwickelt werden. Wir müssen den Kampf gegen die Austeritätspolitik führen und uns auf den Weg zu einer ökosozialistischen Transformation machen. Das ist eine absolute und unmittelbare Notwendigkeit.
28.Dezember 2016
* Eric Toussaint ist Leiter des internationalen Komitees für die Abschaffung der Schulden der Dritten Welt (CADTM) und war an Verhandlungen über einen Schuldenaudit in Ecuador und in Griechenland beteiligt.
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